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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Friedrich Stcpß

Brief an den Sohn mitgegeben, der ihre Ratlosigkeit und ihren tiefen
Schmerz zeigt.

Der Vater, der den Ehrgeiz des Sohnes kennt, verspricht ihm im
Falle der Rückkehr, daß er im Geschäft zum Diener avancieren soll;
in: übrigen geht er auf die Vorstellungen Friedrichs und seiner Mutter
nicht ohne eine gewisse Überlegenheit ein: "Wir baden uns in Tränen.
Willst Du meine grauen Haare mit Herzleid unter die Grube bringen? Kehre,
o kehre zurück! Wie doch bei Abraham, so spricht Gott: "Nun weiß ich, daß
Du Gott fürchtest. Komme, teurer Sohn, komm in unsere Anne, ehe Dir das
erwachte Genüssen Deine Ruhe vergeblich und Dich zeitlich und ewig elend macht.
Dein Herz ist unverdorben, aber Dein Verstand leidet, denn ich verstehe
Dich besser als Du, was recht ist. . . . Wohl, Du hast Gott und seiner Stimme
gehorcht, höre auch auf die neue Stimme Gottes, die Deine Mutter ver¬
nommen. . . ." Die Äußerungen, die Friedrichs Eltern in ihrem ersten Schmerze
niedergeschrieben haben, geben einen gewissen Einblick in das Leben der Familie;
aber es ist wichtig zu beobachten, wie in dem Vater, noch ehe er das Un¬
glück im ganzen Umfange kannte, der Gedanke an die geistige Unzurechnungsfähig¬
keit des Sohnes auftaucht. In den nächsten Tagen verhielten sich die Eltern, wie
Vater Stepß am 3. Oktober an Rothstein schreibt, meist leidend in ihrem Schmerz;
sie taten, was ihnen ein guter Freund riet; aber auch in diesem Briefe ist von
der Geistesschwache Friedrichs die Rede: "Er komme, wie er wolle, ich nehme
ihn an, denn er ist nicht durch eigene Schuld, er ist durch Geistesschwache oder
Zerrüttung davon gegangen. . . . Ach sein Geist leidet sehr, davon mündlich
mehr." Da man vermutete, Friedrich habe sich bei der sächsischen Armee an¬
werben lassen, bat der Vater Rothstein, eine anonyme Anzeige in den Reichs¬
anzeiger in Gotha über die Flucht seines Sohnes einsetzen zu lassen und sie
vielleicht auch in Wiener und Prager Zeitungen zu publizieren. Das Schema,
das er dem Briefe beilegte, spricht wieder von der Geisteskrankheit: "Unser
Guter Fritz hat am 24. September d. I. seinen Lehrherrn in einer Stadt
Thüringens ohne Erlaubnis und ohne Ursache verlassen. Da er von seiner
Kindheit auf einen unwiderstehlichen Trieb zum Handelsstande hatte, auch sich
so dazu qualifizierte, daß sein Lehrherr, mit ihm zufrieden, ihn wegen seines
Betragens früher zum Diener erklären wollte, als es im Kontrakt bestimmt war,
so kann ihn nichts anderes als Geisteskrankheit und Schwachheit der Seele aus
seinen so glücklichen Verhältnissen herausgerissen haben. O, er war ein frommer
Sohn! Vermutlich ist er in eine militärische Verbindung getreten. Daher wird
jeder fühlende Mensch, alle Militär- und Zivilbehörden, flehentlich ersucht,
diesen geistesschwachen Menschen im Betretungsfalle anzuhalten, aber ja wegen
seiner Verstandesschwäche und großen Ambition mit aller Schonung und Delikatesse,
daß er nicht entschlüpfe noch sich ein Leids tue, sondern ihn zur Verwahrung
einem freundlichen und verständigen Mann anvertraue und schleunigst den: all¬
gemeinen Anzeiger in Gotha davou Nachricht erteile, daß zu seiner Abholung


Friedrich Stcpß

Brief an den Sohn mitgegeben, der ihre Ratlosigkeit und ihren tiefen
Schmerz zeigt.

Der Vater, der den Ehrgeiz des Sohnes kennt, verspricht ihm im
Falle der Rückkehr, daß er im Geschäft zum Diener avancieren soll;
in: übrigen geht er auf die Vorstellungen Friedrichs und seiner Mutter
nicht ohne eine gewisse Überlegenheit ein: „Wir baden uns in Tränen.
Willst Du meine grauen Haare mit Herzleid unter die Grube bringen? Kehre,
o kehre zurück! Wie doch bei Abraham, so spricht Gott: „Nun weiß ich, daß
Du Gott fürchtest. Komme, teurer Sohn, komm in unsere Anne, ehe Dir das
erwachte Genüssen Deine Ruhe vergeblich und Dich zeitlich und ewig elend macht.
Dein Herz ist unverdorben, aber Dein Verstand leidet, denn ich verstehe
Dich besser als Du, was recht ist. . . . Wohl, Du hast Gott und seiner Stimme
gehorcht, höre auch auf die neue Stimme Gottes, die Deine Mutter ver¬
nommen. . . ." Die Äußerungen, die Friedrichs Eltern in ihrem ersten Schmerze
niedergeschrieben haben, geben einen gewissen Einblick in das Leben der Familie;
aber es ist wichtig zu beobachten, wie in dem Vater, noch ehe er das Un¬
glück im ganzen Umfange kannte, der Gedanke an die geistige Unzurechnungsfähig¬
keit des Sohnes auftaucht. In den nächsten Tagen verhielten sich die Eltern, wie
Vater Stepß am 3. Oktober an Rothstein schreibt, meist leidend in ihrem Schmerz;
sie taten, was ihnen ein guter Freund riet; aber auch in diesem Briefe ist von
der Geistesschwache Friedrichs die Rede: „Er komme, wie er wolle, ich nehme
ihn an, denn er ist nicht durch eigene Schuld, er ist durch Geistesschwache oder
Zerrüttung davon gegangen. . . . Ach sein Geist leidet sehr, davon mündlich
mehr." Da man vermutete, Friedrich habe sich bei der sächsischen Armee an¬
werben lassen, bat der Vater Rothstein, eine anonyme Anzeige in den Reichs¬
anzeiger in Gotha über die Flucht seines Sohnes einsetzen zu lassen und sie
vielleicht auch in Wiener und Prager Zeitungen zu publizieren. Das Schema,
das er dem Briefe beilegte, spricht wieder von der Geisteskrankheit: „Unser
Guter Fritz hat am 24. September d. I. seinen Lehrherrn in einer Stadt
Thüringens ohne Erlaubnis und ohne Ursache verlassen. Da er von seiner
Kindheit auf einen unwiderstehlichen Trieb zum Handelsstande hatte, auch sich
so dazu qualifizierte, daß sein Lehrherr, mit ihm zufrieden, ihn wegen seines
Betragens früher zum Diener erklären wollte, als es im Kontrakt bestimmt war,
so kann ihn nichts anderes als Geisteskrankheit und Schwachheit der Seele aus
seinen so glücklichen Verhältnissen herausgerissen haben. O, er war ein frommer
Sohn! Vermutlich ist er in eine militärische Verbindung getreten. Daher wird
jeder fühlende Mensch, alle Militär- und Zivilbehörden, flehentlich ersucht,
diesen geistesschwachen Menschen im Betretungsfalle anzuhalten, aber ja wegen
seiner Verstandesschwäche und großen Ambition mit aller Schonung und Delikatesse,
daß er nicht entschlüpfe noch sich ein Leids tue, sondern ihn zur Verwahrung
einem freundlichen und verständigen Mann anvertraue und schleunigst den: all¬
gemeinen Anzeiger in Gotha davou Nachricht erteile, daß zu seiner Abholung


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[0231] Friedrich Stcpß Brief an den Sohn mitgegeben, der ihre Ratlosigkeit und ihren tiefen Schmerz zeigt. Der Vater, der den Ehrgeiz des Sohnes kennt, verspricht ihm im Falle der Rückkehr, daß er im Geschäft zum Diener avancieren soll; in: übrigen geht er auf die Vorstellungen Friedrichs und seiner Mutter nicht ohne eine gewisse Überlegenheit ein: „Wir baden uns in Tränen. Willst Du meine grauen Haare mit Herzleid unter die Grube bringen? Kehre, o kehre zurück! Wie doch bei Abraham, so spricht Gott: „Nun weiß ich, daß Du Gott fürchtest. Komme, teurer Sohn, komm in unsere Anne, ehe Dir das erwachte Genüssen Deine Ruhe vergeblich und Dich zeitlich und ewig elend macht. Dein Herz ist unverdorben, aber Dein Verstand leidet, denn ich verstehe Dich besser als Du, was recht ist. . . . Wohl, Du hast Gott und seiner Stimme gehorcht, höre auch auf die neue Stimme Gottes, die Deine Mutter ver¬ nommen. . . ." Die Äußerungen, die Friedrichs Eltern in ihrem ersten Schmerze niedergeschrieben haben, geben einen gewissen Einblick in das Leben der Familie; aber es ist wichtig zu beobachten, wie in dem Vater, noch ehe er das Un¬ glück im ganzen Umfange kannte, der Gedanke an die geistige Unzurechnungsfähig¬ keit des Sohnes auftaucht. In den nächsten Tagen verhielten sich die Eltern, wie Vater Stepß am 3. Oktober an Rothstein schreibt, meist leidend in ihrem Schmerz; sie taten, was ihnen ein guter Freund riet; aber auch in diesem Briefe ist von der Geistesschwache Friedrichs die Rede: „Er komme, wie er wolle, ich nehme ihn an, denn er ist nicht durch eigene Schuld, er ist durch Geistesschwache oder Zerrüttung davon gegangen. . . . Ach sein Geist leidet sehr, davon mündlich mehr." Da man vermutete, Friedrich habe sich bei der sächsischen Armee an¬ werben lassen, bat der Vater Rothstein, eine anonyme Anzeige in den Reichs¬ anzeiger in Gotha über die Flucht seines Sohnes einsetzen zu lassen und sie vielleicht auch in Wiener und Prager Zeitungen zu publizieren. Das Schema, das er dem Briefe beilegte, spricht wieder von der Geisteskrankheit: „Unser Guter Fritz hat am 24. September d. I. seinen Lehrherrn in einer Stadt Thüringens ohne Erlaubnis und ohne Ursache verlassen. Da er von seiner Kindheit auf einen unwiderstehlichen Trieb zum Handelsstande hatte, auch sich so dazu qualifizierte, daß sein Lehrherr, mit ihm zufrieden, ihn wegen seines Betragens früher zum Diener erklären wollte, als es im Kontrakt bestimmt war, so kann ihn nichts anderes als Geisteskrankheit und Schwachheit der Seele aus seinen so glücklichen Verhältnissen herausgerissen haben. O, er war ein frommer Sohn! Vermutlich ist er in eine militärische Verbindung getreten. Daher wird jeder fühlende Mensch, alle Militär- und Zivilbehörden, flehentlich ersucht, diesen geistesschwachen Menschen im Betretungsfalle anzuhalten, aber ja wegen seiner Verstandesschwäche und großen Ambition mit aller Schonung und Delikatesse, daß er nicht entschlüpfe noch sich ein Leids tue, sondern ihn zur Verwahrung einem freundlichen und verständigen Mann anvertraue und schleunigst den: all¬ gemeinen Anzeiger in Gotha davou Nachricht erteile, daß zu seiner Abholung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/231>, abgerufen am 01.10.2024.