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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Vaganten
11. Drittens Wirtshaussünden auch
Machen mich beklommen,
Eine Kneipe war mir stets,
Bleibt nur stets willkommen,
Bis dereinst die Engel nahm,
Bis mein Ohr vernommen
Ihren heil'gen Weihegrusz:
"Ew'ge Ruh den Frommen!"
13. Nur beim vollen Becher flammt
Auf des Geistes Leuchte,
Bon der Erde hebt das Herz
Sich, das nektarfenchte.
Doch beim Wirt ein frischer Trunk
Stets mir besser deuchte,
Als im Kloster, wo den Geist
Wasser mir verscheuchte.
16. Jeglichem hat die Natur
Zugeteilt die Gaben:
Nüchtern schreiben, dazu war
Ich noch nie zu haben.
Nüchtern steh' ich weit zurück
Hinter jedem Knaben.
Dursten? Fasten? -- Eher noch
Laß ich mich begraben.

Eine eigene Gattung bilden unter den Gedichten die Goliaslieder,
satirischen Inhalts. Sie wenden sich hauptsächlich gegen die kirchlichen Zustände.
Es war damals die öffentliche Meinung, daß sich die Kirche von ihrer
ursprünglichen Reinheit weit entfernt habe. Die Goliarden machten sich zu
Sprechern der allgemeinen Stimmung. Unabhängig und vorurteilsfrei, wie sie
waren, konnten sie offen aussprechen, was sie für wahr hielten, und die kraft¬
volle Sprache dieser Lieder machte auf Jahrhunderte hinaus nachhaltigen
Eindruck. Aber bei aller Schärfe ihrer Angriffe bekämpfet! sie doch nirgends
das kirchliche Dogma. Die Goliarden sind stolz darauf, Söhne der Kirche zu
sein. Sie wollen nicht die Ordnung des Staates und der Kirche stürzen, sondern
verlangen bloß Rückkehr zu der guten alten Sitte. ^ore8 explorare, reprobai-L
i-eprobo8 et pivbos probaie, die Sitten auszuforschen, die Schlechten zu
tadeln, die Braven zu loben halten sie für ihre Aufgabe. Freilich wollen sie
selbst nicht besser sein als andere, aber da die Kirche für sie keine Stelle hat,
messen sie sich auch keine Pflichten bei.

Besonders getadelt wird die Habsucht der Kurie und des Papstes. Ein
Dichter parodiert z. B. das Evangelium: "Evangelium nach der heiligen Mark.
Zu jener Zeit sprach der Papst zu den Römern: Wenn des Menschen Sohn zum
Sitze unserer Herrlichkeit kommt, fraget zuerst: Freund, weswegen kommst du?
Wenn er aber fortfährt, Einlaß zu begehren und euch nichts gibt, so werfet
ihn in die äußerste Finsternis. Es geschah aber, daß ein armer Pfaffe kam
an des Papstes Hof und schrie und sprach: Erbarmet ihr euch meiner, ihr


Die Vaganten
11. Drittens Wirtshaussünden auch
Machen mich beklommen,
Eine Kneipe war mir stets,
Bleibt nur stets willkommen,
Bis dereinst die Engel nahm,
Bis mein Ohr vernommen
Ihren heil'gen Weihegrusz:
„Ew'ge Ruh den Frommen!"
13. Nur beim vollen Becher flammt
Auf des Geistes Leuchte,
Bon der Erde hebt das Herz
Sich, das nektarfenchte.
Doch beim Wirt ein frischer Trunk
Stets mir besser deuchte,
Als im Kloster, wo den Geist
Wasser mir verscheuchte.
16. Jeglichem hat die Natur
Zugeteilt die Gaben:
Nüchtern schreiben, dazu war
Ich noch nie zu haben.
Nüchtern steh' ich weit zurück
Hinter jedem Knaben.
Dursten? Fasten? — Eher noch
Laß ich mich begraben.

Eine eigene Gattung bilden unter den Gedichten die Goliaslieder,
satirischen Inhalts. Sie wenden sich hauptsächlich gegen die kirchlichen Zustände.
Es war damals die öffentliche Meinung, daß sich die Kirche von ihrer
ursprünglichen Reinheit weit entfernt habe. Die Goliarden machten sich zu
Sprechern der allgemeinen Stimmung. Unabhängig und vorurteilsfrei, wie sie
waren, konnten sie offen aussprechen, was sie für wahr hielten, und die kraft¬
volle Sprache dieser Lieder machte auf Jahrhunderte hinaus nachhaltigen
Eindruck. Aber bei aller Schärfe ihrer Angriffe bekämpfet! sie doch nirgends
das kirchliche Dogma. Die Goliarden sind stolz darauf, Söhne der Kirche zu
sein. Sie wollen nicht die Ordnung des Staates und der Kirche stürzen, sondern
verlangen bloß Rückkehr zu der guten alten Sitte. ^ore8 explorare, reprobai-L
i-eprobo8 et pivbos probaie, die Sitten auszuforschen, die Schlechten zu
tadeln, die Braven zu loben halten sie für ihre Aufgabe. Freilich wollen sie
selbst nicht besser sein als andere, aber da die Kirche für sie keine Stelle hat,
messen sie sich auch keine Pflichten bei.

Besonders getadelt wird die Habsucht der Kurie und des Papstes. Ein
Dichter parodiert z. B. das Evangelium: „Evangelium nach der heiligen Mark.
Zu jener Zeit sprach der Papst zu den Römern: Wenn des Menschen Sohn zum
Sitze unserer Herrlichkeit kommt, fraget zuerst: Freund, weswegen kommst du?
Wenn er aber fortfährt, Einlaß zu begehren und euch nichts gibt, so werfet
ihn in die äußerste Finsternis. Es geschah aber, daß ein armer Pfaffe kam
an des Papstes Hof und schrie und sprach: Erbarmet ihr euch meiner, ihr


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[0183] Die Vaganten 11. Drittens Wirtshaussünden auch Machen mich beklommen, Eine Kneipe war mir stets, Bleibt nur stets willkommen, Bis dereinst die Engel nahm, Bis mein Ohr vernommen Ihren heil'gen Weihegrusz: „Ew'ge Ruh den Frommen!" 13. Nur beim vollen Becher flammt Auf des Geistes Leuchte, Bon der Erde hebt das Herz Sich, das nektarfenchte. Doch beim Wirt ein frischer Trunk Stets mir besser deuchte, Als im Kloster, wo den Geist Wasser mir verscheuchte. 16. Jeglichem hat die Natur Zugeteilt die Gaben: Nüchtern schreiben, dazu war Ich noch nie zu haben. Nüchtern steh' ich weit zurück Hinter jedem Knaben. Dursten? Fasten? — Eher noch Laß ich mich begraben. Eine eigene Gattung bilden unter den Gedichten die Goliaslieder, satirischen Inhalts. Sie wenden sich hauptsächlich gegen die kirchlichen Zustände. Es war damals die öffentliche Meinung, daß sich die Kirche von ihrer ursprünglichen Reinheit weit entfernt habe. Die Goliarden machten sich zu Sprechern der allgemeinen Stimmung. Unabhängig und vorurteilsfrei, wie sie waren, konnten sie offen aussprechen, was sie für wahr hielten, und die kraft¬ volle Sprache dieser Lieder machte auf Jahrhunderte hinaus nachhaltigen Eindruck. Aber bei aller Schärfe ihrer Angriffe bekämpfet! sie doch nirgends das kirchliche Dogma. Die Goliarden sind stolz darauf, Söhne der Kirche zu sein. Sie wollen nicht die Ordnung des Staates und der Kirche stürzen, sondern verlangen bloß Rückkehr zu der guten alten Sitte. ^ore8 explorare, reprobai-L i-eprobo8 et pivbos probaie, die Sitten auszuforschen, die Schlechten zu tadeln, die Braven zu loben halten sie für ihre Aufgabe. Freilich wollen sie selbst nicht besser sein als andere, aber da die Kirche für sie keine Stelle hat, messen sie sich auch keine Pflichten bei. Besonders getadelt wird die Habsucht der Kurie und des Papstes. Ein Dichter parodiert z. B. das Evangelium: „Evangelium nach der heiligen Mark. Zu jener Zeit sprach der Papst zu den Römern: Wenn des Menschen Sohn zum Sitze unserer Herrlichkeit kommt, fraget zuerst: Freund, weswegen kommst du? Wenn er aber fortfährt, Einlaß zu begehren und euch nichts gibt, so werfet ihn in die äußerste Finsternis. Es geschah aber, daß ein armer Pfaffe kam an des Papstes Hof und schrie und sprach: Erbarmet ihr euch meiner, ihr

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/183>, abgerufen am 23.07.2024.