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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Patronat und Schulbehörde

Zuge des Fortschrittes -- von verwaltungsmäßiger Bevormundung zu beruflicher
Selbständigkeit -- geradezu entgegenläuft. Eben dies aber geschieht, wenn bei
der Verteilung der Unterrichtsaufgaben, bei der Aufsicht über den Unterrichts¬
betrieb die Mitwirkung städtischer Organe gefordert wird, deren Platz in der
Verwaltung entweder auf juristischer Vorbildung oder überhaupt nur auf der
Praxis beruht.

Allerdings gibt es große Städte, in denen die Angelegenheiten der höheren
Schulen von einem erfahrenen Schulmann bearbeitet werden. Unter den vierzehn,
die in Essen vertreten waren, trifft dies wohl für keine zu; und gerade sie
erheben am lautesten den Ruf nach vermehrten Rechten. Daß da, wo ein
Stadtschulrat den regelmäßigen Verkehr mit der Königlichen Aufsichtsbehörde
besorgt, jeder Anlaß zu Reibung oder Spannung ausgeschlossen sei, braucht
man nicht zu glauben; aus der Zeit, da mein Vater in Berlin diese Stellung
einnahm, ist auch mir manches Erlebnis solcher Art in Erinnerung. Aber die
Stadt wußte sich durchzusetzen. Und als ich einmal, in jugendlichem Eifer,
meine Verwunderung aussprach, daß sie nicht mehr beanspruche, daß sie nicht
versuche, die eigenen Schulen von der unmittelbaren Staatsaufsicht frei zu
machen und für sich zu organisieren, erwiderte er, das bestehende Verhältnis
sei ja nicht ganz bequem, doch für das Gedeihen der städtischen höheren
Schulen unerläßlich; denn viele gerade der besten Kräfte würden sich von ihnen
abwenden, wenn diese Anstalten nicht als innerlich völlig gleichartige Glieder
in die Gesamtheit des staatlichen Unterrichtswesens eingeordnet blieben. Heute
ist Frankfurt a. M. wohl diejenige preußische Stadt, die ihre höheren Lehr¬
anstalten am reichsten und eigenartigsten entwickelt hat. Und von Julius Ziehen,
der schon früher in hervorragender Weise an dieser Entwickelung mitgearbeitet
hat und jetzt als Stadtrat im ganzen ihr vorsteht, besitzen wir, in besonderer
Schrift, die verständnisvollste Würdigung der Aufgaben des staatlichen Schul¬
aufsichtsamtes (1907).

Wer Ziehens Gedanken mit der Gesinnung zusammenhält, die den Essener
Forderungen zugrunde liegt, muß staunen, wie innerhalb derselben Monarchie,
auf dem Boden ähnlich tüchtiger kommunaler Betätigung, doch jener weiter¬
blickende Gemeinsinn, der über den: eignen Gedeihen die Pflichten gegen den
Staat nicht vergißt, sehr ungleich verteilt sein kann. Dabei spielen historisch
erwachsene Verschiedenheiten mit, die ein Gesetzgeber nicht ignorieren darf.
Je eifriger durchdacht eine Neuordnung ist, je mehr sie in: voraus allen
etwaigen Möglichkeiten gerecht zu werden sucht, desto größer ist die Gefahr,
daß sie in bestehende nicht nur erträgliche und friedliche, sondern durchaus
befriedigende Verhältnisse störend eingreife. Ostpreußen und Rheinland,
Schlesien und Schleswig-Holstein find in Landessitte und Volksart wirklich
recht verschieden; wenn ein amtliches Zusammenleben wie das an der Schule,
das auf die mannigfaltigste Art mit öffentlichen Einrichtungen und häuslichen
Gewohnheiten verwoben ist, nach überall gleichen Bestimmungen in gegebener


Patronat und Schulbehörde

Zuge des Fortschrittes — von verwaltungsmäßiger Bevormundung zu beruflicher
Selbständigkeit — geradezu entgegenläuft. Eben dies aber geschieht, wenn bei
der Verteilung der Unterrichtsaufgaben, bei der Aufsicht über den Unterrichts¬
betrieb die Mitwirkung städtischer Organe gefordert wird, deren Platz in der
Verwaltung entweder auf juristischer Vorbildung oder überhaupt nur auf der
Praxis beruht.

Allerdings gibt es große Städte, in denen die Angelegenheiten der höheren
Schulen von einem erfahrenen Schulmann bearbeitet werden. Unter den vierzehn,
die in Essen vertreten waren, trifft dies wohl für keine zu; und gerade sie
erheben am lautesten den Ruf nach vermehrten Rechten. Daß da, wo ein
Stadtschulrat den regelmäßigen Verkehr mit der Königlichen Aufsichtsbehörde
besorgt, jeder Anlaß zu Reibung oder Spannung ausgeschlossen sei, braucht
man nicht zu glauben; aus der Zeit, da mein Vater in Berlin diese Stellung
einnahm, ist auch mir manches Erlebnis solcher Art in Erinnerung. Aber die
Stadt wußte sich durchzusetzen. Und als ich einmal, in jugendlichem Eifer,
meine Verwunderung aussprach, daß sie nicht mehr beanspruche, daß sie nicht
versuche, die eigenen Schulen von der unmittelbaren Staatsaufsicht frei zu
machen und für sich zu organisieren, erwiderte er, das bestehende Verhältnis
sei ja nicht ganz bequem, doch für das Gedeihen der städtischen höheren
Schulen unerläßlich; denn viele gerade der besten Kräfte würden sich von ihnen
abwenden, wenn diese Anstalten nicht als innerlich völlig gleichartige Glieder
in die Gesamtheit des staatlichen Unterrichtswesens eingeordnet blieben. Heute
ist Frankfurt a. M. wohl diejenige preußische Stadt, die ihre höheren Lehr¬
anstalten am reichsten und eigenartigsten entwickelt hat. Und von Julius Ziehen,
der schon früher in hervorragender Weise an dieser Entwickelung mitgearbeitet
hat und jetzt als Stadtrat im ganzen ihr vorsteht, besitzen wir, in besonderer
Schrift, die verständnisvollste Würdigung der Aufgaben des staatlichen Schul¬
aufsichtsamtes (1907).

Wer Ziehens Gedanken mit der Gesinnung zusammenhält, die den Essener
Forderungen zugrunde liegt, muß staunen, wie innerhalb derselben Monarchie,
auf dem Boden ähnlich tüchtiger kommunaler Betätigung, doch jener weiter¬
blickende Gemeinsinn, der über den: eignen Gedeihen die Pflichten gegen den
Staat nicht vergißt, sehr ungleich verteilt sein kann. Dabei spielen historisch
erwachsene Verschiedenheiten mit, die ein Gesetzgeber nicht ignorieren darf.
Je eifriger durchdacht eine Neuordnung ist, je mehr sie in: voraus allen
etwaigen Möglichkeiten gerecht zu werden sucht, desto größer ist die Gefahr,
daß sie in bestehende nicht nur erträgliche und friedliche, sondern durchaus
befriedigende Verhältnisse störend eingreife. Ostpreußen und Rheinland,
Schlesien und Schleswig-Holstein find in Landessitte und Volksart wirklich
recht verschieden; wenn ein amtliches Zusammenleben wie das an der Schule,
das auf die mannigfaltigste Art mit öffentlichen Einrichtungen und häuslichen
Gewohnheiten verwoben ist, nach überall gleichen Bestimmungen in gegebener


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[0166] Patronat und Schulbehörde Zuge des Fortschrittes — von verwaltungsmäßiger Bevormundung zu beruflicher Selbständigkeit — geradezu entgegenläuft. Eben dies aber geschieht, wenn bei der Verteilung der Unterrichtsaufgaben, bei der Aufsicht über den Unterrichts¬ betrieb die Mitwirkung städtischer Organe gefordert wird, deren Platz in der Verwaltung entweder auf juristischer Vorbildung oder überhaupt nur auf der Praxis beruht. Allerdings gibt es große Städte, in denen die Angelegenheiten der höheren Schulen von einem erfahrenen Schulmann bearbeitet werden. Unter den vierzehn, die in Essen vertreten waren, trifft dies wohl für keine zu; und gerade sie erheben am lautesten den Ruf nach vermehrten Rechten. Daß da, wo ein Stadtschulrat den regelmäßigen Verkehr mit der Königlichen Aufsichtsbehörde besorgt, jeder Anlaß zu Reibung oder Spannung ausgeschlossen sei, braucht man nicht zu glauben; aus der Zeit, da mein Vater in Berlin diese Stellung einnahm, ist auch mir manches Erlebnis solcher Art in Erinnerung. Aber die Stadt wußte sich durchzusetzen. Und als ich einmal, in jugendlichem Eifer, meine Verwunderung aussprach, daß sie nicht mehr beanspruche, daß sie nicht versuche, die eigenen Schulen von der unmittelbaren Staatsaufsicht frei zu machen und für sich zu organisieren, erwiderte er, das bestehende Verhältnis sei ja nicht ganz bequem, doch für das Gedeihen der städtischen höheren Schulen unerläßlich; denn viele gerade der besten Kräfte würden sich von ihnen abwenden, wenn diese Anstalten nicht als innerlich völlig gleichartige Glieder in die Gesamtheit des staatlichen Unterrichtswesens eingeordnet blieben. Heute ist Frankfurt a. M. wohl diejenige preußische Stadt, die ihre höheren Lehr¬ anstalten am reichsten und eigenartigsten entwickelt hat. Und von Julius Ziehen, der schon früher in hervorragender Weise an dieser Entwickelung mitgearbeitet hat und jetzt als Stadtrat im ganzen ihr vorsteht, besitzen wir, in besonderer Schrift, die verständnisvollste Würdigung der Aufgaben des staatlichen Schul¬ aufsichtsamtes (1907). Wer Ziehens Gedanken mit der Gesinnung zusammenhält, die den Essener Forderungen zugrunde liegt, muß staunen, wie innerhalb derselben Monarchie, auf dem Boden ähnlich tüchtiger kommunaler Betätigung, doch jener weiter¬ blickende Gemeinsinn, der über den: eignen Gedeihen die Pflichten gegen den Staat nicht vergißt, sehr ungleich verteilt sein kann. Dabei spielen historisch erwachsene Verschiedenheiten mit, die ein Gesetzgeber nicht ignorieren darf. Je eifriger durchdacht eine Neuordnung ist, je mehr sie in: voraus allen etwaigen Möglichkeiten gerecht zu werden sucht, desto größer ist die Gefahr, daß sie in bestehende nicht nur erträgliche und friedliche, sondern durchaus befriedigende Verhältnisse störend eingreife. Ostpreußen und Rheinland, Schlesien und Schleswig-Holstein find in Landessitte und Volksart wirklich recht verschieden; wenn ein amtliches Zusammenleben wie das an der Schule, das auf die mannigfaltigste Art mit öffentlichen Einrichtungen und häuslichen Gewohnheiten verwoben ist, nach überall gleichen Bestimmungen in gegebener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/166>, abgerufen am 23.07.2024.