Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.Lin Gottesurteil Toni konnte nicht länger Widerstand leisten... es mußte sein... es war Er riß die Augen auf -- da sah er die schwarze Menschenmenge in der Tiefe, Das alles war von einem einzigen Blick umschlossen, ganz deutlich, mit allen Und da verspürte er die erbarmungslose Macht der Erde, ihren harten Griff, In wahnsinniger, heißer Angst faßte er die Kehle des Mannes noch fester. Loslassen... gleiten... fallen. .. und aus! flüsterte der Tod. Aber noch Der Seiltänzer setzte seinen Weg fort und erreichte das Dach. Der Lärm des Beifalls tobte aus der Tiefe empor. Richard Richardson ließ Dann kroch er mit ihm durch die Dachluke. Da standen der Vater und die Mutter, keines Wortes mächtig, und die Nachbarin Der Seiltänzer, der die Szene verwundert betrachtet hatte, verstand endlich Aber es dachte niemand an ihn. Über den Schatten des Entsetzens schwebte Dann saßen sie alle im Zimmer drüben, die Mutter beim Ofen, und sie In der Mitte des Zimmers am Tisch saß die Nachbarin. Und die sprach Grenzboten III 1910 19
Lin Gottesurteil Toni konnte nicht länger Widerstand leisten... es mußte sein... es war Er riß die Augen auf — da sah er die schwarze Menschenmenge in der Tiefe, Das alles war von einem einzigen Blick umschlossen, ganz deutlich, mit allen Und da verspürte er die erbarmungslose Macht der Erde, ihren harten Griff, In wahnsinniger, heißer Angst faßte er die Kehle des Mannes noch fester. Loslassen... gleiten... fallen. .. und aus! flüsterte der Tod. Aber noch Der Seiltänzer setzte seinen Weg fort und erreichte das Dach. Der Lärm des Beifalls tobte aus der Tiefe empor. Richard Richardson ließ Dann kroch er mit ihm durch die Dachluke. Da standen der Vater und die Mutter, keines Wortes mächtig, und die Nachbarin Der Seiltänzer, der die Szene verwundert betrachtet hatte, verstand endlich Aber es dachte niemand an ihn. Über den Schatten des Entsetzens schwebte Dann saßen sie alle im Zimmer drüben, die Mutter beim Ofen, und sie In der Mitte des Zimmers am Tisch saß die Nachbarin. Und die sprach Grenzboten III 1910 19
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Lin Gottesurteil
Toni konnte nicht länger Widerstand leisten... es mußte sein... es war
unmöglich, sich diesem Zwang zu entziehen, der seinen ganzen Körper zu vernichten
drohte, wenn er nicht nachgab. ..
Er riß die Augen auf — da sah er die schwarze Menschenmenge in der Tiefe,
die tausend emporgewandten Gesichter, weiße Flecke auf dem dunkeln Grund.
Gerade unter ihnen verfolgten die Männer mit dem ausgespannten Fangnetz ihren
Gang. Und gegenüber, an dem Fenster der Dachwohnung, standen der Vater und
die Mutter, mit weißen, verzerrten Gesichtern, und die Hände der Mutter waren
mit gekrümmten Fingern in den Arm des Vaters geschlagen.. .
Das alles war von einem einzigen Blick umschlossen, ganz deutlich, mit allen
Einzelheiten, die wie feurige Linien brannten.
Und da verspürte er die erbarmungslose Macht der Erde, ihren harten Griff,
mit dem sie die Geschöpfe, die sich gegen die Schwere empören, zu sich herab¬
zwingen will.
In wahnsinniger, heißer Angst faßte er die Kehle des Mannes noch fester.
„Auslassen .. . Augen zu!" gurgelte der Seiltänzer.
Loslassen... gleiten... fallen. .. und aus! flüsterte der Tod. Aber noch
war das Leben da und wollte den Sieg. Und es drückte die Augen des Knaben
zu und lockerte seine Finger.
Der Seiltänzer setzte seinen Weg fort und erreichte das Dach.
Der Lärm des Beifalls tobte aus der Tiefe empor. Richard Richardson ließ
Toni von den Schultern herab, trat mit ihm an den Dachrand und verbeugte sich
vor der Menge, deren Blicke nun wieder machtlos geworden waren.
Dann kroch er mit ihm durch die Dachluke.
Da standen der Vater und die Mutter, keines Wortes mächtig, und die Nachbarin
stürzte auf ihn los und betastete ihn, ob er auch wirklich ganz und lebend sei. Sie
zog ihn zu der Mutter hin, die ihn weinend umarmte und küßte.
Der Seiltänzer, der die Szene verwundert betrachtet hatte, verstand endlich
und beeilte sich, wieder bei der Dachluke hinauszukommen und den Rückweg an¬
zutreten. Er begann auf einmal zu fürchten, daß er zur Rechenschaft gezogen
werden könnte und daß die Versicherungen seiner Unschuld keinen Glauben finden
würden.
Aber es dachte niemand an ihn. Über den Schatten des Entsetzens schwebte
das Wunder der Rettung, wie der lichte Schein, der auf dem Altargemälde der
Jgnatiuskirche die Verklärung Christi umgab. Es war, als füllten sich die erstarrten
Adern allmählich mit neuem Blut.
Dann saßen sie alle im Zimmer drüben, die Mutter beim Ofen, und sie
hatte Toni ganz eng an sich herangezogen und spielte mit seinen Fingern. Der
Vater hatte einen Stuhl zum Fenster geschoben. Aber'er sah nicht hinaus, obwohl
man eben Richard Richardsons Hauptkunststück hätte bewundern können: wie er
sich auf dem Seil niederlegte, ganz auf den Rücken, und dann wieder aufstand.
Melicher hatte die Arme auf das Fensterbrett gestützt und das Gesicht in die
Hände gepreßt.
In der Mitte des Zimmers am Tisch saß die Nachbarin. Und die sprach
für drei. Daß das eine Warnung Gottes gewesen wäre und daß es sehr schlimm
hätte ausfallen können und man müsse Gott danken. Daß sie aber doch eine
Freude habe, weil sie den Nachbar Melicher bis heute für einen schlechten und
gefühllosen Menschen gehalten hätte und heute von ihrer Meinung abgekommen
sei. Es habe sich deutlich gezeigt, daß er seinen Buben doch gern habe.
Grenzboten III 1910 19
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