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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Über das Studium der Mystik

Gewalt der Menschen beruht auf "Phantasie" und "Imagination". "Imagination"
nach außen entfernt, wie Böhm lehrt, den Menschen von der Gottheit; der
Wille, der nach innen gerichtet ist, nähert ihn derselben.

Das mystische Denken ist also eine ganz spezielle Fähigkeit und keineswegs
jedermann eigen. Dennoch versuchen es die Mystiker der neueren Zeit, so
besonders Böhm u. a., sich an einen größeren Kreis von Lesern zu wenden,
wenn auch ungern. Dem noch nicht Erleuchteten wird Enthaltung von allen
irdischen Dingen, sowie von "irdischer" Weisheit empfohlen. Denn die himm¬
lische Weisheit wird durch die Tätigkeit des Verstandes und der Sinne gestört.
Diese Meinung ist uralt und erklärt den mystischen Hang zur Askese, aber auch
die evangelischen und paulinischen Ausfälle gegen die Vernunft. "Die Armen
im Geiste", die "Torheit" -- all das will, wie mir scheint, nur den eben
erwähnten Gedanken ausdrücken.

Man kann also dein Mystiker eine bestimmte Stellungnahme zum logischen
Denken nicht absprechen, so entgegengesetzt auch beide sind. Und hier scheint
sich die Möglichkeit zu ergeben, die Mystik erfolgreicher als bisher der Kritik zu
erschließen. Es handelt sich darum, von ihr zu lernen, daß es mehrere Arten
menschlischer Denkens gibt; und es ist nötig, die andere Kategorie nicht aus
dem Gesichtswinkel des eigenen Denkens zu betrachten, sondern ans der
Perspektive der Gegensätzlichkeit. Mystisches Denken an logischem Maß zu
messen, ist sinnlos. Die nötigen Handhaben für eine andere Betrachtung aber
liefert uns die Mystik durch ihre bereits erwähnten psychologischen Reflexionen
selbst.

Aus den: Gesagte" erhellt auch, welchen Lehrinhalt wir bei Mystikern zu
erwarten haben und welche systematische Reihenfolge wir darin annehmen
müssen. Immer wird zuerst die Gottes- und Schöpfungs- (d. i. Logos-) Lehre
darzustellen sein; sodann die Kosmologie. Der Weltschöpfung entspricht ferner
die Menschenschöpfung, der Kosmologie die Lehre vom Menschen als Mikrokosmos.
Aus diesen beiden Vorstellungsreihen können erst gegenseitige Beziehungen ent¬
wickelt werden, und zwar: das Verhältnis Mensch--Gott (Religion) und das
Verhältnis des Menschen zur übrigen Welt (Magie und Geheimlehren).

Wieweit nun diese Theorien jeweilig miteinander übereinstimmen, auch
wo eine faktische Einflußnahme eines Mystikers auf den anderen unwahrscheinlich
wird, ferner, ob sich auch die Differenzen verschiedener Traditionen gesetzmäßig
erklären lassen; und endlich, ob und welchen ursprünglichsten, allen Kultur¬
völkern gemeinsamen Bestand mystischer Überlieferung es gibt -- das alles zu
erforschen und festzustellen wäre die lohnende Aufgabe eiuer vorurteilsfreien
Kritik; aber auch die Gesichtspunkte, nach denen moderne Studienbehelfe für
diese Forschung herzustellen wären, gehen daraus hervor.




Über das Studium der Mystik

Gewalt der Menschen beruht auf „Phantasie" und „Imagination". „Imagination"
nach außen entfernt, wie Böhm lehrt, den Menschen von der Gottheit; der
Wille, der nach innen gerichtet ist, nähert ihn derselben.

Das mystische Denken ist also eine ganz spezielle Fähigkeit und keineswegs
jedermann eigen. Dennoch versuchen es die Mystiker der neueren Zeit, so
besonders Böhm u. a., sich an einen größeren Kreis von Lesern zu wenden,
wenn auch ungern. Dem noch nicht Erleuchteten wird Enthaltung von allen
irdischen Dingen, sowie von „irdischer" Weisheit empfohlen. Denn die himm¬
lische Weisheit wird durch die Tätigkeit des Verstandes und der Sinne gestört.
Diese Meinung ist uralt und erklärt den mystischen Hang zur Askese, aber auch
die evangelischen und paulinischen Ausfälle gegen die Vernunft. „Die Armen
im Geiste", die „Torheit" — all das will, wie mir scheint, nur den eben
erwähnten Gedanken ausdrücken.

Man kann also dein Mystiker eine bestimmte Stellungnahme zum logischen
Denken nicht absprechen, so entgegengesetzt auch beide sind. Und hier scheint
sich die Möglichkeit zu ergeben, die Mystik erfolgreicher als bisher der Kritik zu
erschließen. Es handelt sich darum, von ihr zu lernen, daß es mehrere Arten
menschlischer Denkens gibt; und es ist nötig, die andere Kategorie nicht aus
dem Gesichtswinkel des eigenen Denkens zu betrachten, sondern ans der
Perspektive der Gegensätzlichkeit. Mystisches Denken an logischem Maß zu
messen, ist sinnlos. Die nötigen Handhaben für eine andere Betrachtung aber
liefert uns die Mystik durch ihre bereits erwähnten psychologischen Reflexionen
selbst.

Aus den: Gesagte» erhellt auch, welchen Lehrinhalt wir bei Mystikern zu
erwarten haben und welche systematische Reihenfolge wir darin annehmen
müssen. Immer wird zuerst die Gottes- und Schöpfungs- (d. i. Logos-) Lehre
darzustellen sein; sodann die Kosmologie. Der Weltschöpfung entspricht ferner
die Menschenschöpfung, der Kosmologie die Lehre vom Menschen als Mikrokosmos.
Aus diesen beiden Vorstellungsreihen können erst gegenseitige Beziehungen ent¬
wickelt werden, und zwar: das Verhältnis Mensch—Gott (Religion) und das
Verhältnis des Menschen zur übrigen Welt (Magie und Geheimlehren).

Wieweit nun diese Theorien jeweilig miteinander übereinstimmen, auch
wo eine faktische Einflußnahme eines Mystikers auf den anderen unwahrscheinlich
wird, ferner, ob sich auch die Differenzen verschiedener Traditionen gesetzmäßig
erklären lassen; und endlich, ob und welchen ursprünglichsten, allen Kultur¬
völkern gemeinsamen Bestand mystischer Überlieferung es gibt — das alles zu
erforschen und festzustellen wäre die lohnende Aufgabe eiuer vorurteilsfreien
Kritik; aber auch die Gesichtspunkte, nach denen moderne Studienbehelfe für
diese Forschung herzustellen wären, gehen daraus hervor.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/86>, abgerufen am 26.06.2024.