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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Die Lyrik des siebziger Krieges

zu fragen, und an künstlerischen Hervorbringungen eben auf dem Gebiete der
Lyrik sei der siebziger Krieg äußerst arm. Auch diese Meinung wird meine
Skizze wenn nicht widerlegen, so doch wesentlich einschränken; sie wird aus vielem
Gutgemeinten mancherlei Gutgelungenes zur Beleuchtung der einzelnen Themen
herausgreifen können. Nur eines möchte ich von vornherein ausschalten, einen
Vergleich, den man als kurzen, tödlichen Keulenhieb gegen die siebziger Lyrik
zu führen pflegt, und der doch so ungerecht wie möglich, weil vollkommen falsch
basiert ist. Es heißt immer, die Schwäche der Lyrik des siebziger Krieges ergebe
sich ohne weiteres aus einer Vergleichung mit der Lyrik der Freiheitskriege.
Ebensogut kann man eine Novelle verwerfen, weil sie nicht den umfassenden
Gesichtskreis eines Romans besitze. Die Lyrik der Befreiungskriege gleicht in
ihrer Gesamtheit der göttlichen Komödie Dantes; sie besitzt Hölle, Läuterungsstätte
und Paradies. Die Dichter haben zu Anfang von der Unterdrückung und auch
der Gleichgültigkeit ihres Volkes zu reden, sie klagen und zürnen. Dann hebt
ein Ringen an, dessen bloßer Beginn den Freiheitssängern schon als Wendung
zum Besseren gilt. Nun können sie hoffen, aber es mischt sich doch noch so
viele Angst in diese Hoffnung. Der Ausgang des Kampfes ist ja ein völlig
ungewisser. Napoleons Machtmittel und geniale Begabung sind nicht mit wenigen
Schlägen niederzuwerfen, das Zusammenhalten der Verbündeten ist kein unbedingt
festes, und wenn die Begeisterung des Volksheeres vielleicht auch den Sieg
erzwingt, so wird ihn volksfremde Diplomatie womöglich wieder verscherzen.
All das zittert in und unter den Versen der Freiheitsdichter. Und dann erst,
nach solchem Hüllen- und Fegefeuer, der Siegesjubel von Leipzig. Dagegen
1870. Da ist, um im Bilde zu bleiben, nur das Paradies zu malen. Von
Anfang an ist man des Sieges gewiß, Macht, Genie, Einigkeit sind auf deutscher
Seite, und daß Bismarcks Feder verderben sollte, was Moltkes Bajonette gut
gemacht, kann auch dem Ängstlichsten nicht in den Sinn kommen. So bleibt
nur die Zuversicht und Freude zu besingen übrig, nur das Paradies -- und
die menschliche Phantasie ist reicher im Ausmalen des Schmerzlichen als des
Freudigen. So daß also die Lyrik des siebziger Krieges in doppeltem Nachteil
gegen die Dichtung der Freiheitskriege ist: wo dieser eine Reihe von Empfindungen
zu Gebote steht, verfügt jene nur über eine, und weiter: nur über die Wort¬
sprödeste, nur über die Freude. Wer sich über die Kargheit dieses Bodens
klar ist, wird seine mancherlei schönen Früchte erst so recht einzuschätzen wissen.

Aber Freude -- und nun gar Freude als einziges Thema, wo es um die
dichterische Behandlung eines ungeheuren Blutvergießens geht? Heißt das nicht,
dein Dichter alle Menschlichkeit absprechen? Und es stimmt ja auch nicht.
Freiligraths "An Deutschland" vom Oktober 1870 beginnt mit bitteren
Klagen.


Die Lyrik des siebziger Krieges

zu fragen, und an künstlerischen Hervorbringungen eben auf dem Gebiete der
Lyrik sei der siebziger Krieg äußerst arm. Auch diese Meinung wird meine
Skizze wenn nicht widerlegen, so doch wesentlich einschränken; sie wird aus vielem
Gutgemeinten mancherlei Gutgelungenes zur Beleuchtung der einzelnen Themen
herausgreifen können. Nur eines möchte ich von vornherein ausschalten, einen
Vergleich, den man als kurzen, tödlichen Keulenhieb gegen die siebziger Lyrik
zu führen pflegt, und der doch so ungerecht wie möglich, weil vollkommen falsch
basiert ist. Es heißt immer, die Schwäche der Lyrik des siebziger Krieges ergebe
sich ohne weiteres aus einer Vergleichung mit der Lyrik der Freiheitskriege.
Ebensogut kann man eine Novelle verwerfen, weil sie nicht den umfassenden
Gesichtskreis eines Romans besitze. Die Lyrik der Befreiungskriege gleicht in
ihrer Gesamtheit der göttlichen Komödie Dantes; sie besitzt Hölle, Läuterungsstätte
und Paradies. Die Dichter haben zu Anfang von der Unterdrückung und auch
der Gleichgültigkeit ihres Volkes zu reden, sie klagen und zürnen. Dann hebt
ein Ringen an, dessen bloßer Beginn den Freiheitssängern schon als Wendung
zum Besseren gilt. Nun können sie hoffen, aber es mischt sich doch noch so
viele Angst in diese Hoffnung. Der Ausgang des Kampfes ist ja ein völlig
ungewisser. Napoleons Machtmittel und geniale Begabung sind nicht mit wenigen
Schlägen niederzuwerfen, das Zusammenhalten der Verbündeten ist kein unbedingt
festes, und wenn die Begeisterung des Volksheeres vielleicht auch den Sieg
erzwingt, so wird ihn volksfremde Diplomatie womöglich wieder verscherzen.
All das zittert in und unter den Versen der Freiheitsdichter. Und dann erst,
nach solchem Hüllen- und Fegefeuer, der Siegesjubel von Leipzig. Dagegen
1870. Da ist, um im Bilde zu bleiben, nur das Paradies zu malen. Von
Anfang an ist man des Sieges gewiß, Macht, Genie, Einigkeit sind auf deutscher
Seite, und daß Bismarcks Feder verderben sollte, was Moltkes Bajonette gut
gemacht, kann auch dem Ängstlichsten nicht in den Sinn kommen. So bleibt
nur die Zuversicht und Freude zu besingen übrig, nur das Paradies — und
die menschliche Phantasie ist reicher im Ausmalen des Schmerzlichen als des
Freudigen. So daß also die Lyrik des siebziger Krieges in doppeltem Nachteil
gegen die Dichtung der Freiheitskriege ist: wo dieser eine Reihe von Empfindungen
zu Gebote steht, verfügt jene nur über eine, und weiter: nur über die Wort¬
sprödeste, nur über die Freude. Wer sich über die Kargheit dieses Bodens
klar ist, wird seine mancherlei schönen Früchte erst so recht einzuschätzen wissen.

Aber Freude — und nun gar Freude als einziges Thema, wo es um die
dichterische Behandlung eines ungeheuren Blutvergießens geht? Heißt das nicht,
dein Dichter alle Menschlichkeit absprechen? Und es stimmt ja auch nicht.
Freiligraths „An Deutschland" vom Oktober 1870 beginnt mit bitteren
Klagen.


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[0609] Die Lyrik des siebziger Krieges zu fragen, und an künstlerischen Hervorbringungen eben auf dem Gebiete der Lyrik sei der siebziger Krieg äußerst arm. Auch diese Meinung wird meine Skizze wenn nicht widerlegen, so doch wesentlich einschränken; sie wird aus vielem Gutgemeinten mancherlei Gutgelungenes zur Beleuchtung der einzelnen Themen herausgreifen können. Nur eines möchte ich von vornherein ausschalten, einen Vergleich, den man als kurzen, tödlichen Keulenhieb gegen die siebziger Lyrik zu führen pflegt, und der doch so ungerecht wie möglich, weil vollkommen falsch basiert ist. Es heißt immer, die Schwäche der Lyrik des siebziger Krieges ergebe sich ohne weiteres aus einer Vergleichung mit der Lyrik der Freiheitskriege. Ebensogut kann man eine Novelle verwerfen, weil sie nicht den umfassenden Gesichtskreis eines Romans besitze. Die Lyrik der Befreiungskriege gleicht in ihrer Gesamtheit der göttlichen Komödie Dantes; sie besitzt Hölle, Läuterungsstätte und Paradies. Die Dichter haben zu Anfang von der Unterdrückung und auch der Gleichgültigkeit ihres Volkes zu reden, sie klagen und zürnen. Dann hebt ein Ringen an, dessen bloßer Beginn den Freiheitssängern schon als Wendung zum Besseren gilt. Nun können sie hoffen, aber es mischt sich doch noch so viele Angst in diese Hoffnung. Der Ausgang des Kampfes ist ja ein völlig ungewisser. Napoleons Machtmittel und geniale Begabung sind nicht mit wenigen Schlägen niederzuwerfen, das Zusammenhalten der Verbündeten ist kein unbedingt festes, und wenn die Begeisterung des Volksheeres vielleicht auch den Sieg erzwingt, so wird ihn volksfremde Diplomatie womöglich wieder verscherzen. All das zittert in und unter den Versen der Freiheitsdichter. Und dann erst, nach solchem Hüllen- und Fegefeuer, der Siegesjubel von Leipzig. Dagegen 1870. Da ist, um im Bilde zu bleiben, nur das Paradies zu malen. Von Anfang an ist man des Sieges gewiß, Macht, Genie, Einigkeit sind auf deutscher Seite, und daß Bismarcks Feder verderben sollte, was Moltkes Bajonette gut gemacht, kann auch dem Ängstlichsten nicht in den Sinn kommen. So bleibt nur die Zuversicht und Freude zu besingen übrig, nur das Paradies — und die menschliche Phantasie ist reicher im Ausmalen des Schmerzlichen als des Freudigen. So daß also die Lyrik des siebziger Krieges in doppeltem Nachteil gegen die Dichtung der Freiheitskriege ist: wo dieser eine Reihe von Empfindungen zu Gebote steht, verfügt jene nur über eine, und weiter: nur über die Wort¬ sprödeste, nur über die Freude. Wer sich über die Kargheit dieses Bodens klar ist, wird seine mancherlei schönen Früchte erst so recht einzuschätzen wissen. Aber Freude — und nun gar Freude als einziges Thema, wo es um die dichterische Behandlung eines ungeheuren Blutvergießens geht? Heißt das nicht, dein Dichter alle Menschlichkeit absprechen? Und es stimmt ja auch nicht. Freiligraths „An Deutschland" vom Oktober 1870 beginnt mit bitteren Klagen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/609>, abgerufen am 23.07.2024.