Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Llsaß-lothringische Fragen

angeblich die elsaß - lothringische Bevölkerung bedrückt und aussaugt, aus dein
Landesdienste entfernt und durch würdigere Elemente ersetzt worden, und hat
diese Reform des Beamtenkörpers die veränderte Haltung der Bevölkerung und
ihrer Vertreter herbeigeführt? -- Auch das ist nicht der Fall.

So unerklärlich, wie es scheint, sind jene Widersprüche dennoch nicht. --
Ein altes französisches Sprichwort sagt: "Ls n'sse pÄ8 avec an vmaiZre
qu'on attrapps le8 mouLtie8". Die in jüngster Zeit so auffallende Zurück¬
haltung in der Kritik der elsaß-lothringischen und Neichsregierung seitens der
reichsländischen Rufer im Streit ist wohl zum guten Teil auf die Erkenntnis
jener sprichwörtlichen Wahrheit zurückzuführen. Seit den verschiedenen Vor¬
fällen, die nicht nur im Reichslande, sondern auch in Altdeutschland alle
guten Deutschen schmerzlich berührten, haben ja jene Verhandlungen des
Reichstags stattgefunden, in denen die Frage der Autonomie der Reichslande
besprochen und seitens der Reichsregierung verheißungsvolle Erklärungen abgegeben
worden sind. Dem süßen Trank, der in Berlin nach dem Rezept des elsa߬
lothringischen Staatssekretärs gebraut werden soll, darf jetzt kein Tropfen Essig
beigemischt werden, und so halten es die elsaß-lothringischen Politiker einst¬
weilen wohl für angezeigt, das Gift ihres Hasses zunächst zurückzuhalten und
dem Kaiser und seinen: Statthalter Honigseim darzubieten. Um des schönen,
großen, heißersehnten Zieles der Autonomie willen lohnt es sich schon, seine
wahren Gesinnungen zeitweise zu verbergen; wenn es erst erreicht ist, wird man
ja wieder etwas deutlicher werden können. Wie die Autonomie sein, welche
Vorteile sie dem Volke (das ist nicht gleichbedeutend mit den politischen Schreiern)
bringen wird, weiß freilich heute noch niemand. Wie sie sein und was durch
sie erreicht werden soll -- nach den Absichten der Herren Blumenthal, Preiß,
Wetterlö und deren Gefolgschaft -- wissen nur Eingeweihte; daß sie aber kommen
wird und muß, daß Elsaß-Lothringen ein Recht darauf hat und das Reich die
Pflicht, sie zu gewähren, daran zweifelt heute kaum noch der Geringste in Elsaß-
Lothringen. Ob aber eine solche Änderung dem Reiche förderlich sein würde,
fragt in Elsaß-Lothringen von Einheimischen kein Mensch und von ihrem Stand¬
punkte aus haben sie auch vollständig recht; denn was ist ihnen das Reich?
Aber gerade deshalb scheint es angezeigt, vor weiteren schwer wieder rückgängig
zu machenden Schritten eingehend zu prüfen, ob ein Ausbau der staatsrechtlichen
Stellung des Neichslandes im Sinne einer weiteren Förderung elsaß-lothringischer
Unabhängigkeitsbestrebungen dem wahren Interesse sowohl der Elsaß-Lothringer
(und nicht bloß einer Keinen Anzahl von Notabeln) als auch des Reiches
entspricht. -- Nach langen: Schwanken scheint unsere Reichsregierung neuerdings
dahin gelangt zu sein, diese Frage zu bejahen und die vom Chef des reichs¬
ländischen Ministeriums vertretene Auffassung, als berechtigt anzuerkennen.
Ob das dem Straßburger Staatssekretär dadurch gelungen ist, daß er auch den
Statthalter zu seiner Ansicht zu bekehren wußte, oder ob die jetzige Haltung
der Reichsregierung auf eine Einwirkung des Kaisers zurückzuführen ist, mag


Llsaß-lothringische Fragen

angeblich die elsaß - lothringische Bevölkerung bedrückt und aussaugt, aus dein
Landesdienste entfernt und durch würdigere Elemente ersetzt worden, und hat
diese Reform des Beamtenkörpers die veränderte Haltung der Bevölkerung und
ihrer Vertreter herbeigeführt? — Auch das ist nicht der Fall.

So unerklärlich, wie es scheint, sind jene Widersprüche dennoch nicht. —
Ein altes französisches Sprichwort sagt: „Ls n'sse pÄ8 avec an vmaiZre
qu'on attrapps le8 mouLtie8". Die in jüngster Zeit so auffallende Zurück¬
haltung in der Kritik der elsaß-lothringischen und Neichsregierung seitens der
reichsländischen Rufer im Streit ist wohl zum guten Teil auf die Erkenntnis
jener sprichwörtlichen Wahrheit zurückzuführen. Seit den verschiedenen Vor¬
fällen, die nicht nur im Reichslande, sondern auch in Altdeutschland alle
guten Deutschen schmerzlich berührten, haben ja jene Verhandlungen des
Reichstags stattgefunden, in denen die Frage der Autonomie der Reichslande
besprochen und seitens der Reichsregierung verheißungsvolle Erklärungen abgegeben
worden sind. Dem süßen Trank, der in Berlin nach dem Rezept des elsa߬
lothringischen Staatssekretärs gebraut werden soll, darf jetzt kein Tropfen Essig
beigemischt werden, und so halten es die elsaß-lothringischen Politiker einst¬
weilen wohl für angezeigt, das Gift ihres Hasses zunächst zurückzuhalten und
dem Kaiser und seinen: Statthalter Honigseim darzubieten. Um des schönen,
großen, heißersehnten Zieles der Autonomie willen lohnt es sich schon, seine
wahren Gesinnungen zeitweise zu verbergen; wenn es erst erreicht ist, wird man
ja wieder etwas deutlicher werden können. Wie die Autonomie sein, welche
Vorteile sie dem Volke (das ist nicht gleichbedeutend mit den politischen Schreiern)
bringen wird, weiß freilich heute noch niemand. Wie sie sein und was durch
sie erreicht werden soll — nach den Absichten der Herren Blumenthal, Preiß,
Wetterlö und deren Gefolgschaft — wissen nur Eingeweihte; daß sie aber kommen
wird und muß, daß Elsaß-Lothringen ein Recht darauf hat und das Reich die
Pflicht, sie zu gewähren, daran zweifelt heute kaum noch der Geringste in Elsaß-
Lothringen. Ob aber eine solche Änderung dem Reiche förderlich sein würde,
fragt in Elsaß-Lothringen von Einheimischen kein Mensch und von ihrem Stand¬
punkte aus haben sie auch vollständig recht; denn was ist ihnen das Reich?
Aber gerade deshalb scheint es angezeigt, vor weiteren schwer wieder rückgängig
zu machenden Schritten eingehend zu prüfen, ob ein Ausbau der staatsrechtlichen
Stellung des Neichslandes im Sinne einer weiteren Förderung elsaß-lothringischer
Unabhängigkeitsbestrebungen dem wahren Interesse sowohl der Elsaß-Lothringer
(und nicht bloß einer Keinen Anzahl von Notabeln) als auch des Reiches
entspricht. — Nach langen: Schwanken scheint unsere Reichsregierung neuerdings
dahin gelangt zu sein, diese Frage zu bejahen und die vom Chef des reichs¬
ländischen Ministeriums vertretene Auffassung, als berechtigt anzuerkennen.
Ob das dem Straßburger Staatssekretär dadurch gelungen ist, daß er auch den
Statthalter zu seiner Ansicht zu bekehren wußte, oder ob die jetzige Haltung
der Reichsregierung auf eine Einwirkung des Kaisers zurückzuführen ist, mag


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0598" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316237"/>
          <fw type="header" place="top"> Llsaß-lothringische Fragen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3134" prev="#ID_3133"> angeblich die elsaß - lothringische Bevölkerung bedrückt und aussaugt, aus dein<lb/>
Landesdienste entfernt und durch würdigere Elemente ersetzt worden, und hat<lb/>
diese Reform des Beamtenkörpers die veränderte Haltung der Bevölkerung und<lb/>
ihrer Vertreter herbeigeführt? &#x2014; Auch das ist nicht der Fall.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3135" next="#ID_3136"> So unerklärlich, wie es scheint, sind jene Widersprüche dennoch nicht. &#x2014;<lb/>
Ein altes französisches Sprichwort sagt: &#x201E;Ls n'sse pÄ8 avec an vmaiZre<lb/>
qu'on attrapps le8 mouLtie8". Die in jüngster Zeit so auffallende Zurück¬<lb/>
haltung in der Kritik der elsaß-lothringischen und Neichsregierung seitens der<lb/>
reichsländischen Rufer im Streit ist wohl zum guten Teil auf die Erkenntnis<lb/>
jener sprichwörtlichen Wahrheit zurückzuführen. Seit den verschiedenen Vor¬<lb/>
fällen, die nicht nur im Reichslande, sondern auch in Altdeutschland alle<lb/>
guten Deutschen schmerzlich berührten, haben ja jene Verhandlungen des<lb/>
Reichstags stattgefunden, in denen die Frage der Autonomie der Reichslande<lb/>
besprochen und seitens der Reichsregierung verheißungsvolle Erklärungen abgegeben<lb/>
worden sind. Dem süßen Trank, der in Berlin nach dem Rezept des elsa߬<lb/>
lothringischen Staatssekretärs gebraut werden soll, darf jetzt kein Tropfen Essig<lb/>
beigemischt werden, und so halten es die elsaß-lothringischen Politiker einst¬<lb/>
weilen wohl für angezeigt, das Gift ihres Hasses zunächst zurückzuhalten und<lb/>
dem Kaiser und seinen: Statthalter Honigseim darzubieten. Um des schönen,<lb/>
großen, heißersehnten Zieles der Autonomie willen lohnt es sich schon, seine<lb/>
wahren Gesinnungen zeitweise zu verbergen; wenn es erst erreicht ist, wird man<lb/>
ja wieder etwas deutlicher werden können. Wie die Autonomie sein, welche<lb/>
Vorteile sie dem Volke (das ist nicht gleichbedeutend mit den politischen Schreiern)<lb/>
bringen wird, weiß freilich heute noch niemand. Wie sie sein und was durch<lb/>
sie erreicht werden soll &#x2014; nach den Absichten der Herren Blumenthal, Preiß,<lb/>
Wetterlö und deren Gefolgschaft &#x2014; wissen nur Eingeweihte; daß sie aber kommen<lb/>
wird und muß, daß Elsaß-Lothringen ein Recht darauf hat und das Reich die<lb/>
Pflicht, sie zu gewähren, daran zweifelt heute kaum noch der Geringste in Elsaß-<lb/>
Lothringen. Ob aber eine solche Änderung dem Reiche förderlich sein würde,<lb/>
fragt in Elsaß-Lothringen von Einheimischen kein Mensch und von ihrem Stand¬<lb/>
punkte aus haben sie auch vollständig recht; denn was ist ihnen das Reich?<lb/>
Aber gerade deshalb scheint es angezeigt, vor weiteren schwer wieder rückgängig<lb/>
zu machenden Schritten eingehend zu prüfen, ob ein Ausbau der staatsrechtlichen<lb/>
Stellung des Neichslandes im Sinne einer weiteren Förderung elsaß-lothringischer<lb/>
Unabhängigkeitsbestrebungen dem wahren Interesse sowohl der Elsaß-Lothringer<lb/>
(und nicht bloß einer Keinen Anzahl von Notabeln) als auch des Reiches<lb/>
entspricht. &#x2014; Nach langen: Schwanken scheint unsere Reichsregierung neuerdings<lb/>
dahin gelangt zu sein, diese Frage zu bejahen und die vom Chef des reichs¬<lb/>
ländischen Ministeriums vertretene Auffassung, als berechtigt anzuerkennen.<lb/>
Ob das dem Straßburger Staatssekretär dadurch gelungen ist, daß er auch den<lb/>
Statthalter zu seiner Ansicht zu bekehren wußte, oder ob die jetzige Haltung<lb/>
der Reichsregierung auf eine Einwirkung des Kaisers zurückzuführen ist, mag</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0598] Llsaß-lothringische Fragen angeblich die elsaß - lothringische Bevölkerung bedrückt und aussaugt, aus dein Landesdienste entfernt und durch würdigere Elemente ersetzt worden, und hat diese Reform des Beamtenkörpers die veränderte Haltung der Bevölkerung und ihrer Vertreter herbeigeführt? — Auch das ist nicht der Fall. So unerklärlich, wie es scheint, sind jene Widersprüche dennoch nicht. — Ein altes französisches Sprichwort sagt: „Ls n'sse pÄ8 avec an vmaiZre qu'on attrapps le8 mouLtie8". Die in jüngster Zeit so auffallende Zurück¬ haltung in der Kritik der elsaß-lothringischen und Neichsregierung seitens der reichsländischen Rufer im Streit ist wohl zum guten Teil auf die Erkenntnis jener sprichwörtlichen Wahrheit zurückzuführen. Seit den verschiedenen Vor¬ fällen, die nicht nur im Reichslande, sondern auch in Altdeutschland alle guten Deutschen schmerzlich berührten, haben ja jene Verhandlungen des Reichstags stattgefunden, in denen die Frage der Autonomie der Reichslande besprochen und seitens der Reichsregierung verheißungsvolle Erklärungen abgegeben worden sind. Dem süßen Trank, der in Berlin nach dem Rezept des elsa߬ lothringischen Staatssekretärs gebraut werden soll, darf jetzt kein Tropfen Essig beigemischt werden, und so halten es die elsaß-lothringischen Politiker einst¬ weilen wohl für angezeigt, das Gift ihres Hasses zunächst zurückzuhalten und dem Kaiser und seinen: Statthalter Honigseim darzubieten. Um des schönen, großen, heißersehnten Zieles der Autonomie willen lohnt es sich schon, seine wahren Gesinnungen zeitweise zu verbergen; wenn es erst erreicht ist, wird man ja wieder etwas deutlicher werden können. Wie die Autonomie sein, welche Vorteile sie dem Volke (das ist nicht gleichbedeutend mit den politischen Schreiern) bringen wird, weiß freilich heute noch niemand. Wie sie sein und was durch sie erreicht werden soll — nach den Absichten der Herren Blumenthal, Preiß, Wetterlö und deren Gefolgschaft — wissen nur Eingeweihte; daß sie aber kommen wird und muß, daß Elsaß-Lothringen ein Recht darauf hat und das Reich die Pflicht, sie zu gewähren, daran zweifelt heute kaum noch der Geringste in Elsaß- Lothringen. Ob aber eine solche Änderung dem Reiche förderlich sein würde, fragt in Elsaß-Lothringen von Einheimischen kein Mensch und von ihrem Stand¬ punkte aus haben sie auch vollständig recht; denn was ist ihnen das Reich? Aber gerade deshalb scheint es angezeigt, vor weiteren schwer wieder rückgängig zu machenden Schritten eingehend zu prüfen, ob ein Ausbau der staatsrechtlichen Stellung des Neichslandes im Sinne einer weiteren Förderung elsaß-lothringischer Unabhängigkeitsbestrebungen dem wahren Interesse sowohl der Elsaß-Lothringer (und nicht bloß einer Keinen Anzahl von Notabeln) als auch des Reiches entspricht. — Nach langen: Schwanken scheint unsere Reichsregierung neuerdings dahin gelangt zu sein, diese Frage zu bejahen und die vom Chef des reichs¬ ländischen Ministeriums vertretene Auffassung, als berechtigt anzuerkennen. Ob das dem Straßburger Staatssekretär dadurch gelungen ist, daß er auch den Statthalter zu seiner Ansicht zu bekehren wußte, oder ob die jetzige Haltung der Reichsregierung auf eine Einwirkung des Kaisers zurückzuführen ist, mag

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/598
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/598>, abgerufen am 01.07.2024.