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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Senatorenrevision in Turkestan

Diese überaus traurigen Zustände sind der schlimmste Schaden im Organismus
des russischen Reiches. Leider scheinen sie unausrottbar; sie sind viel zu tief
eingewurzelt, als daß gelegentliche, noch so strenge Revisionen imstande wären,
sie auf die Dauer zu beseitigen: in den Kanzleien wechseln nur die Gesichter,
der Geist bleibt derselbe. Und ist es denn verwunderlich, daß die unteren und
mittleren Beamten eine höchst eigenartige Auffassung von Pflicht haben, daß ihnen
schließlich das Unterscheidungsvermögen für Mein und Dein vollständig abhanden
kommt, wenn ihre hohen Vorgesetzten in der Vernachlässigung ihrer Pflichten,
Verhöhnung der Gesetze und Außerachtlassung der allerhöchsten Befehle mit
glänzendem Beispiel vorangehen? Ist es verwunderlich, daß ein armer Teufel
von Subalternbeamten oder -offizier, der bei kümmerlichem Gehalt mit seiner
Familie hungert, sich ein paar hundert Rubel einsteckt, wenn er sieht, daß seine
Chefs, die Exzellenzen und Staatsräte, sich Hunderttausende stillschweigend zu
Gemüte führen? Ich übertreibe nicht; schon wer einigermaßen aufmerksam die
Zeitungen liest, weiß, daß ich recht habe. Manche werden sich noch der vorjährigen
Revision des Senators Garin in Moskau erinnern. Erst jüngst haben wieder
Senatorenrevisionen stattgefunden; ihre Feststellungen waren geradezu erschreckend.
Ist es nicht trostlos, wenn es in dem Bericht einer der letzten Revisionen --
es handelt sich um eine große Behörde mit einem vielköpfigen Beamtenheer --
zum Schluß heißt: Beamte, die nicht unterschlagen haben, waren nicht vorhanden!?
Und wie mag es in den Behörden - aussehen, die sich bisher, dank mächtiger
Gönner, einer Revision zu entziehen gewußt haben? Dreimal bereits hat die
Duma dein Marinemimsterium die Kredite für den Neubau von Schiffen ver¬
weigert, weil die früher zu diesen: Zwecke bewilligten Summen teils gänzlich
beiseite geschafft, teils zu anderen Dingen, nicht aber zum Schiffbau verwendet
worden waren. Sie will auch nicht eher neue Mittel hergeben, bis eine
gründliche Revision den im Marineministerium herrschenden unglaublichen
Zuständen ein Ende gemacht hat. Der konservative Reichsrat hat sich allerdings
noch immer des von der Duma hart bedrängten Ministeriums angenommen
und die geforderten Mittel in den Etat eingestellt. Welche erbaulichen Dinge
eine Revision der Klöster zutage fördern würde, das mag wohl der heilige
spröd wissen oder ahnen. Er sorgt schon dafür, daß die Mauern der Klöster
den Revisoren verschlossen bleiben und daß nicht allzuviel von den Geheimnissen,
die sie umschließen, in die Öffentlichkeit gelangt.

Man ist in Rußland manches gewohnt; daß aber ein ganzes großes Land,
dessen Flächenraum den des Deutschen Reiches um mehr als das Dreifache über¬
trifft, jahrelang unter der brutalen Willkür der Administratoren seufzt, daß sich
fast alle Beamten einer riesigen Provinz als Betrüger und Erpresser heraus¬
stellen, das ist selbst für russische Verhältnisse ein Novum. Dieses eigenartige
Schauspiel bietet augenblicklich Turkestan dem erstaunt ausblickenden Europa.

Daß es in Turkestan nicht so war, wie man es von einen: geordneten
Staatswesen verlangen kann, wußte man längst, aber erst als die Beamten es


Senatorenrevision in Turkestan

Diese überaus traurigen Zustände sind der schlimmste Schaden im Organismus
des russischen Reiches. Leider scheinen sie unausrottbar; sie sind viel zu tief
eingewurzelt, als daß gelegentliche, noch so strenge Revisionen imstande wären,
sie auf die Dauer zu beseitigen: in den Kanzleien wechseln nur die Gesichter,
der Geist bleibt derselbe. Und ist es denn verwunderlich, daß die unteren und
mittleren Beamten eine höchst eigenartige Auffassung von Pflicht haben, daß ihnen
schließlich das Unterscheidungsvermögen für Mein und Dein vollständig abhanden
kommt, wenn ihre hohen Vorgesetzten in der Vernachlässigung ihrer Pflichten,
Verhöhnung der Gesetze und Außerachtlassung der allerhöchsten Befehle mit
glänzendem Beispiel vorangehen? Ist es verwunderlich, daß ein armer Teufel
von Subalternbeamten oder -offizier, der bei kümmerlichem Gehalt mit seiner
Familie hungert, sich ein paar hundert Rubel einsteckt, wenn er sieht, daß seine
Chefs, die Exzellenzen und Staatsräte, sich Hunderttausende stillschweigend zu
Gemüte führen? Ich übertreibe nicht; schon wer einigermaßen aufmerksam die
Zeitungen liest, weiß, daß ich recht habe. Manche werden sich noch der vorjährigen
Revision des Senators Garin in Moskau erinnern. Erst jüngst haben wieder
Senatorenrevisionen stattgefunden; ihre Feststellungen waren geradezu erschreckend.
Ist es nicht trostlos, wenn es in dem Bericht einer der letzten Revisionen —
es handelt sich um eine große Behörde mit einem vielköpfigen Beamtenheer —
zum Schluß heißt: Beamte, die nicht unterschlagen haben, waren nicht vorhanden!?
Und wie mag es in den Behörden - aussehen, die sich bisher, dank mächtiger
Gönner, einer Revision zu entziehen gewußt haben? Dreimal bereits hat die
Duma dein Marinemimsterium die Kredite für den Neubau von Schiffen ver¬
weigert, weil die früher zu diesen: Zwecke bewilligten Summen teils gänzlich
beiseite geschafft, teils zu anderen Dingen, nicht aber zum Schiffbau verwendet
worden waren. Sie will auch nicht eher neue Mittel hergeben, bis eine
gründliche Revision den im Marineministerium herrschenden unglaublichen
Zuständen ein Ende gemacht hat. Der konservative Reichsrat hat sich allerdings
noch immer des von der Duma hart bedrängten Ministeriums angenommen
und die geforderten Mittel in den Etat eingestellt. Welche erbaulichen Dinge
eine Revision der Klöster zutage fördern würde, das mag wohl der heilige
spröd wissen oder ahnen. Er sorgt schon dafür, daß die Mauern der Klöster
den Revisoren verschlossen bleiben und daß nicht allzuviel von den Geheimnissen,
die sie umschließen, in die Öffentlichkeit gelangt.

Man ist in Rußland manches gewohnt; daß aber ein ganzes großes Land,
dessen Flächenraum den des Deutschen Reiches um mehr als das Dreifache über¬
trifft, jahrelang unter der brutalen Willkür der Administratoren seufzt, daß sich
fast alle Beamten einer riesigen Provinz als Betrüger und Erpresser heraus¬
stellen, das ist selbst für russische Verhältnisse ein Novum. Dieses eigenartige
Schauspiel bietet augenblicklich Turkestan dem erstaunt ausblickenden Europa.

Daß es in Turkestan nicht so war, wie man es von einen: geordneten
Staatswesen verlangen kann, wußte man längst, aber erst als die Beamten es


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[0566] Senatorenrevision in Turkestan Diese überaus traurigen Zustände sind der schlimmste Schaden im Organismus des russischen Reiches. Leider scheinen sie unausrottbar; sie sind viel zu tief eingewurzelt, als daß gelegentliche, noch so strenge Revisionen imstande wären, sie auf die Dauer zu beseitigen: in den Kanzleien wechseln nur die Gesichter, der Geist bleibt derselbe. Und ist es denn verwunderlich, daß die unteren und mittleren Beamten eine höchst eigenartige Auffassung von Pflicht haben, daß ihnen schließlich das Unterscheidungsvermögen für Mein und Dein vollständig abhanden kommt, wenn ihre hohen Vorgesetzten in der Vernachlässigung ihrer Pflichten, Verhöhnung der Gesetze und Außerachtlassung der allerhöchsten Befehle mit glänzendem Beispiel vorangehen? Ist es verwunderlich, daß ein armer Teufel von Subalternbeamten oder -offizier, der bei kümmerlichem Gehalt mit seiner Familie hungert, sich ein paar hundert Rubel einsteckt, wenn er sieht, daß seine Chefs, die Exzellenzen und Staatsräte, sich Hunderttausende stillschweigend zu Gemüte führen? Ich übertreibe nicht; schon wer einigermaßen aufmerksam die Zeitungen liest, weiß, daß ich recht habe. Manche werden sich noch der vorjährigen Revision des Senators Garin in Moskau erinnern. Erst jüngst haben wieder Senatorenrevisionen stattgefunden; ihre Feststellungen waren geradezu erschreckend. Ist es nicht trostlos, wenn es in dem Bericht einer der letzten Revisionen — es handelt sich um eine große Behörde mit einem vielköpfigen Beamtenheer — zum Schluß heißt: Beamte, die nicht unterschlagen haben, waren nicht vorhanden!? Und wie mag es in den Behörden - aussehen, die sich bisher, dank mächtiger Gönner, einer Revision zu entziehen gewußt haben? Dreimal bereits hat die Duma dein Marinemimsterium die Kredite für den Neubau von Schiffen ver¬ weigert, weil die früher zu diesen: Zwecke bewilligten Summen teils gänzlich beiseite geschafft, teils zu anderen Dingen, nicht aber zum Schiffbau verwendet worden waren. Sie will auch nicht eher neue Mittel hergeben, bis eine gründliche Revision den im Marineministerium herrschenden unglaublichen Zuständen ein Ende gemacht hat. Der konservative Reichsrat hat sich allerdings noch immer des von der Duma hart bedrängten Ministeriums angenommen und die geforderten Mittel in den Etat eingestellt. Welche erbaulichen Dinge eine Revision der Klöster zutage fördern würde, das mag wohl der heilige spröd wissen oder ahnen. Er sorgt schon dafür, daß die Mauern der Klöster den Revisoren verschlossen bleiben und daß nicht allzuviel von den Geheimnissen, die sie umschließen, in die Öffentlichkeit gelangt. Man ist in Rußland manches gewohnt; daß aber ein ganzes großes Land, dessen Flächenraum den des Deutschen Reiches um mehr als das Dreifache über¬ trifft, jahrelang unter der brutalen Willkür der Administratoren seufzt, daß sich fast alle Beamten einer riesigen Provinz als Betrüger und Erpresser heraus¬ stellen, das ist selbst für russische Verhältnisse ein Novum. Dieses eigenartige Schauspiel bietet augenblicklich Turkestan dem erstaunt ausblickenden Europa. Daß es in Turkestan nicht so war, wie man es von einen: geordneten Staatswesen verlangen kann, wußte man längst, aber erst als die Beamten es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/566>, abgerufen am 01.07.2024.