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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Ferdinand Freiligrath

beschäftigt, zog die mehr oder minder individuellen Auffassungen in die Sphäre
der Reflexion. Äußere Erscheinungen und Geschehnisse, zumal der gewohnten
Auffassung ganz fernliegende Dinge, zum Gegenstande der lyrischen Poesie gewählt
zu sehen, war etwas ganz Neues. Allerdings hatte man sich schon seit Goethes
Diwan mehrfach der dichterischen Behandlung des Morgenlandes zugewendet,
aber doch nur in der Weise, daß man allgemein menschliche Stoffe, wie Liebe,
Wein, Lebenserfahrung u. tgi., in orientalisierender Färbung behandelte. Auch
Rückert hatte ja seine orientalisch gefärbte Gedankenlyrik in den Dienst seiner
pantheistischen Weltanschauung gestellt. Aber Freiligraths farbenbunte, auf die
Anschauung äußerer Dinge gestellte Dichtung war etwas ganz anderes. Sie
stellte tatsächlich das fremdländische Leben dar und befriedigte den Stoffhunger
der zeitgenössischen Lyrik. Gerade die bunten, zuweilen grellen Farben ent¬
sprachen dem Verlangen der Leser, die der Weltschmerzpoesie Lenaus, der
witzelnden Zerrissenheit Heines usw. übersatt waren. Man empfand mit
Genugtuung, daß in Freiligrath eine durchaus selbständige und geniale Dichter¬
persönlichkeit aufgestanden war. Bei dem allgemeinen Mißbehagen an den
deutschen Zuständen wandte man sich gerade den neuen fremdartigen Stoffen
mit Vorliebe zu, zumal sie mit solcher funkelnden Pracht und solcher Beherrschung
der dichterischen Mittel dargeboten wurden. Man flüchtete sich gern aus dem
Vereich der engen Interessen, aus der Welt lyrischer Selbstzerfaserung, und ließ
sich durch die realistisch dargestellte Poesie des Meeres, der Wüste und des
Urwaldes von der unerquicklichen Gegenwart ablenken. Es kam den: jungen
Dichter zustatten, daß er Kaufmann war; denn als solchem lag es ihm weniger
nahe, seine humanistische Schulbildung zu erweitern, als sich vielmehr an den
modernen Literaturen zu bilden und sich für fremde Länder zu erwärmen, die
der Welthandel in wechselseitigen Verkehr bringt. So wurde Freiligrath ein
entschieden moderner Dichter, der "deskriptive Weltpoet", wie ihn Gottschall
genannt hat, der Poet, der "die kosmopolitische Ader der Zeit so wunderbar
anregte". Dazu kam, daß er in dichterischer Beziehung ein Selfmademan war.
Zwar soll der Einflusz Viktor Hugos, den er so meisterlich übersetzt hat, nicht
geleugnet werden, aber Freiligrath folgte doch keiner der damals tonangebenden
literarischen Strömungen. Die tiefe Bescheidenheit seiner Natur behütete ihn
vor der Selbstgefälligkeit, machte die schmeichlerische Huldigung unwirksam und
ließ ihn auf den Rat erfahrener literarischer Freunde achten. In eiserner
Strenge gegen sich selbst ließ er nie etwas in das Publikum hinausgehen, was
nach Mercks Wort an Goethe "die andern auch können".

Nie hatte er die Wunder der Ferne mit eigenen Augen gesehen, aber seine
poetischen Traumgesichte tragen dennoch fast immer deu Stempel der Lebens¬
wahrheit. Ein mächtiger Zauber wie aus den Märchen von Tausendundeiner
Nacht wirkt aus seinen Liedern.

An diese kaleidoskopisch bunten, die Phantasie wie ein Haschischtraum
fesselnden Bilder ans fernen Zonen denkt man wohl zuerst, wenn man Freiligraths


Ferdinand Freiligrath

beschäftigt, zog die mehr oder minder individuellen Auffassungen in die Sphäre
der Reflexion. Äußere Erscheinungen und Geschehnisse, zumal der gewohnten
Auffassung ganz fernliegende Dinge, zum Gegenstande der lyrischen Poesie gewählt
zu sehen, war etwas ganz Neues. Allerdings hatte man sich schon seit Goethes
Diwan mehrfach der dichterischen Behandlung des Morgenlandes zugewendet,
aber doch nur in der Weise, daß man allgemein menschliche Stoffe, wie Liebe,
Wein, Lebenserfahrung u. tgi., in orientalisierender Färbung behandelte. Auch
Rückert hatte ja seine orientalisch gefärbte Gedankenlyrik in den Dienst seiner
pantheistischen Weltanschauung gestellt. Aber Freiligraths farbenbunte, auf die
Anschauung äußerer Dinge gestellte Dichtung war etwas ganz anderes. Sie
stellte tatsächlich das fremdländische Leben dar und befriedigte den Stoffhunger
der zeitgenössischen Lyrik. Gerade die bunten, zuweilen grellen Farben ent¬
sprachen dem Verlangen der Leser, die der Weltschmerzpoesie Lenaus, der
witzelnden Zerrissenheit Heines usw. übersatt waren. Man empfand mit
Genugtuung, daß in Freiligrath eine durchaus selbständige und geniale Dichter¬
persönlichkeit aufgestanden war. Bei dem allgemeinen Mißbehagen an den
deutschen Zuständen wandte man sich gerade den neuen fremdartigen Stoffen
mit Vorliebe zu, zumal sie mit solcher funkelnden Pracht und solcher Beherrschung
der dichterischen Mittel dargeboten wurden. Man flüchtete sich gern aus dem
Vereich der engen Interessen, aus der Welt lyrischer Selbstzerfaserung, und ließ
sich durch die realistisch dargestellte Poesie des Meeres, der Wüste und des
Urwaldes von der unerquicklichen Gegenwart ablenken. Es kam den: jungen
Dichter zustatten, daß er Kaufmann war; denn als solchem lag es ihm weniger
nahe, seine humanistische Schulbildung zu erweitern, als sich vielmehr an den
modernen Literaturen zu bilden und sich für fremde Länder zu erwärmen, die
der Welthandel in wechselseitigen Verkehr bringt. So wurde Freiligrath ein
entschieden moderner Dichter, der „deskriptive Weltpoet", wie ihn Gottschall
genannt hat, der Poet, der „die kosmopolitische Ader der Zeit so wunderbar
anregte". Dazu kam, daß er in dichterischer Beziehung ein Selfmademan war.
Zwar soll der Einflusz Viktor Hugos, den er so meisterlich übersetzt hat, nicht
geleugnet werden, aber Freiligrath folgte doch keiner der damals tonangebenden
literarischen Strömungen. Die tiefe Bescheidenheit seiner Natur behütete ihn
vor der Selbstgefälligkeit, machte die schmeichlerische Huldigung unwirksam und
ließ ihn auf den Rat erfahrener literarischer Freunde achten. In eiserner
Strenge gegen sich selbst ließ er nie etwas in das Publikum hinausgehen, was
nach Mercks Wort an Goethe „die andern auch können".

Nie hatte er die Wunder der Ferne mit eigenen Augen gesehen, aber seine
poetischen Traumgesichte tragen dennoch fast immer deu Stempel der Lebens¬
wahrheit. Ein mächtiger Zauber wie aus den Märchen von Tausendundeiner
Nacht wirkt aus seinen Liedern.

An diese kaleidoskopisch bunten, die Phantasie wie ein Haschischtraum
fesselnden Bilder ans fernen Zonen denkt man wohl zuerst, wenn man Freiligraths


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[0515] Ferdinand Freiligrath beschäftigt, zog die mehr oder minder individuellen Auffassungen in die Sphäre der Reflexion. Äußere Erscheinungen und Geschehnisse, zumal der gewohnten Auffassung ganz fernliegende Dinge, zum Gegenstande der lyrischen Poesie gewählt zu sehen, war etwas ganz Neues. Allerdings hatte man sich schon seit Goethes Diwan mehrfach der dichterischen Behandlung des Morgenlandes zugewendet, aber doch nur in der Weise, daß man allgemein menschliche Stoffe, wie Liebe, Wein, Lebenserfahrung u. tgi., in orientalisierender Färbung behandelte. Auch Rückert hatte ja seine orientalisch gefärbte Gedankenlyrik in den Dienst seiner pantheistischen Weltanschauung gestellt. Aber Freiligraths farbenbunte, auf die Anschauung äußerer Dinge gestellte Dichtung war etwas ganz anderes. Sie stellte tatsächlich das fremdländische Leben dar und befriedigte den Stoffhunger der zeitgenössischen Lyrik. Gerade die bunten, zuweilen grellen Farben ent¬ sprachen dem Verlangen der Leser, die der Weltschmerzpoesie Lenaus, der witzelnden Zerrissenheit Heines usw. übersatt waren. Man empfand mit Genugtuung, daß in Freiligrath eine durchaus selbständige und geniale Dichter¬ persönlichkeit aufgestanden war. Bei dem allgemeinen Mißbehagen an den deutschen Zuständen wandte man sich gerade den neuen fremdartigen Stoffen mit Vorliebe zu, zumal sie mit solcher funkelnden Pracht und solcher Beherrschung der dichterischen Mittel dargeboten wurden. Man flüchtete sich gern aus dem Vereich der engen Interessen, aus der Welt lyrischer Selbstzerfaserung, und ließ sich durch die realistisch dargestellte Poesie des Meeres, der Wüste und des Urwaldes von der unerquicklichen Gegenwart ablenken. Es kam den: jungen Dichter zustatten, daß er Kaufmann war; denn als solchem lag es ihm weniger nahe, seine humanistische Schulbildung zu erweitern, als sich vielmehr an den modernen Literaturen zu bilden und sich für fremde Länder zu erwärmen, die der Welthandel in wechselseitigen Verkehr bringt. So wurde Freiligrath ein entschieden moderner Dichter, der „deskriptive Weltpoet", wie ihn Gottschall genannt hat, der Poet, der „die kosmopolitische Ader der Zeit so wunderbar anregte". Dazu kam, daß er in dichterischer Beziehung ein Selfmademan war. Zwar soll der Einflusz Viktor Hugos, den er so meisterlich übersetzt hat, nicht geleugnet werden, aber Freiligrath folgte doch keiner der damals tonangebenden literarischen Strömungen. Die tiefe Bescheidenheit seiner Natur behütete ihn vor der Selbstgefälligkeit, machte die schmeichlerische Huldigung unwirksam und ließ ihn auf den Rat erfahrener literarischer Freunde achten. In eiserner Strenge gegen sich selbst ließ er nie etwas in das Publikum hinausgehen, was nach Mercks Wort an Goethe „die andern auch können". Nie hatte er die Wunder der Ferne mit eigenen Augen gesehen, aber seine poetischen Traumgesichte tragen dennoch fast immer deu Stempel der Lebens¬ wahrheit. Ein mächtiger Zauber wie aus den Märchen von Tausendundeiner Nacht wirkt aus seinen Liedern. An diese kaleidoskopisch bunten, die Phantasie wie ein Haschischtraum fesselnden Bilder ans fernen Zonen denkt man wohl zuerst, wenn man Freiligraths

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/515>, abgerufen am 01.07.2024.