Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wirtschaftliche Einflüsse

Stimmung seiner Heimatsgemeinde, wodurch dem Anwachsen der Armenlasten --
wie leicht einzusehen, in sehr unwirksamer Weise -- gesteuert werden sollte.
Geburtenziffer und Geburtenüberschluß blieben unter dem Reichsdurchschnitt,
wozu stellenweise dann noch die Abwanderung kam.

In den Sudetenländern kennzeichnet wiederum der Gegensatz der Industrie
und Landwirtschaft die sozialen Grundlagen der Volksvermehrung bei Tschechen
einerseits, Deutschet? anderseits. Die Deutschen bewohnen die zumeist landwirt¬
schaftlich wenig ergiebigen Randgebirge, ihre Bevölkerungszahl beruht auf der
hochentwickelten Industrie. Im tschechischen Gebiet die dem Nachwuchs günstigen
Verhältnisse des Landlebens, große Kinderzahl, hohe Ehefrequenz, infolgedessen
wenig uneheliche Geburten und geringe Kindersterblichkeit; im deutschen Industrie¬
gebiet die umgekehrte Erscheinung, die hygienischen Verhältnisse, in denen die
Fabrikbevölkerung lebt, sind oft sehr ungünstig, am schlimmsten aber dort, wo
die Hausindustrie noch vorherrscht, aus der sich die nordböhmische Industrie
vielfach entwickelt hat.

Wenn ich so das Bild zunächst von der dunkelsten Seite gezeigt habe,
so will ich gleich hier anfügen, wie es sich inzwischen wieder zugunsten des
Deutschtums verschoben hat. In den Alpenländern zeigt sich etwa vom
Jahre 1890 an wieder eine Zunahme der Bevölkerung, die in einigen Pro¬
vinzen früher, in andern später einsetzt; und zwar beruht diese Zunahme
sowohl auf Zuwanderung wie auch auf einem Anwachsen der eingesessener
Bevölkerung infolge höheren Geburtenüberschusses. Zwei Dinge haben die
Lebensbedingungen verbessert und die Verdieustmöglichkeiten erweitert: die Ent¬
wicklung von Industrie im Anschluß an die vorhandenen Wasserkräfte und die
Steigerung des Fremdenverkehrs. Die alten patriarchalischen Formen des
Wirtschaftslebens werden teils durchbrochen, teils durch moderne ergänzt. Eine
Grenze für diese Entwicklung ist zurzeit noch gar nicht abzusehen, so daß man
mit Bestimnltheit darauf rechnen kann, daß die Vermehrungsverhältnisse der
Deutschen in den Alpenländern in absehbarer Zeit vollkommen normal und
dem Reichsdurchschnitt entsprechend sein werden; vielleicht ergibt sich dies schon
aus der Volkszählung dieses Jahres. Dann wird hier nicht mehr ein Defizit
auszufüllen sein, um so weniger, als die Winden (Slowenen) im Süden der
Monarchie an sich nicht die Vitalität besitzen wie die Tschechen und in Kärnten
auch heute noch teilweise eingedeutscht werden. Erwachst hier der Gewinn aus
dem Anwachsen des eigenen Kontos, so ergibt er sich in Böhmen aus dem
Verluste des Gegners. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Tschechen die
höhere Kultur, die sie erreicht haben, mit einer Minderung ihrer Propagations-
kraft bezahlen müssen. Wie der verdiente Bearbeiter der nationalen Statistik der
Deutschen Österreichs, Hainisch, nachgewiesen hat, weist die eheliche Frucht¬
barkeit bei den Tschechen Böhmens seit Jahren einen Rückgang auf und ist
unter die der Deutschen gesunken. Tatsächlich entspricht heute die Vorstellung,
daß der tschechische Teil Böhmens ein unerschöpfliches Menschenreservoir darstelle,


Wirtschaftliche Einflüsse

Stimmung seiner Heimatsgemeinde, wodurch dem Anwachsen der Armenlasten —
wie leicht einzusehen, in sehr unwirksamer Weise — gesteuert werden sollte.
Geburtenziffer und Geburtenüberschluß blieben unter dem Reichsdurchschnitt,
wozu stellenweise dann noch die Abwanderung kam.

In den Sudetenländern kennzeichnet wiederum der Gegensatz der Industrie
und Landwirtschaft die sozialen Grundlagen der Volksvermehrung bei Tschechen
einerseits, Deutschet? anderseits. Die Deutschen bewohnen die zumeist landwirt¬
schaftlich wenig ergiebigen Randgebirge, ihre Bevölkerungszahl beruht auf der
hochentwickelten Industrie. Im tschechischen Gebiet die dem Nachwuchs günstigen
Verhältnisse des Landlebens, große Kinderzahl, hohe Ehefrequenz, infolgedessen
wenig uneheliche Geburten und geringe Kindersterblichkeit; im deutschen Industrie¬
gebiet die umgekehrte Erscheinung, die hygienischen Verhältnisse, in denen die
Fabrikbevölkerung lebt, sind oft sehr ungünstig, am schlimmsten aber dort, wo
die Hausindustrie noch vorherrscht, aus der sich die nordböhmische Industrie
vielfach entwickelt hat.

Wenn ich so das Bild zunächst von der dunkelsten Seite gezeigt habe,
so will ich gleich hier anfügen, wie es sich inzwischen wieder zugunsten des
Deutschtums verschoben hat. In den Alpenländern zeigt sich etwa vom
Jahre 1890 an wieder eine Zunahme der Bevölkerung, die in einigen Pro¬
vinzen früher, in andern später einsetzt; und zwar beruht diese Zunahme
sowohl auf Zuwanderung wie auch auf einem Anwachsen der eingesessener
Bevölkerung infolge höheren Geburtenüberschusses. Zwei Dinge haben die
Lebensbedingungen verbessert und die Verdieustmöglichkeiten erweitert: die Ent¬
wicklung von Industrie im Anschluß an die vorhandenen Wasserkräfte und die
Steigerung des Fremdenverkehrs. Die alten patriarchalischen Formen des
Wirtschaftslebens werden teils durchbrochen, teils durch moderne ergänzt. Eine
Grenze für diese Entwicklung ist zurzeit noch gar nicht abzusehen, so daß man
mit Bestimnltheit darauf rechnen kann, daß die Vermehrungsverhältnisse der
Deutschen in den Alpenländern in absehbarer Zeit vollkommen normal und
dem Reichsdurchschnitt entsprechend sein werden; vielleicht ergibt sich dies schon
aus der Volkszählung dieses Jahres. Dann wird hier nicht mehr ein Defizit
auszufüllen sein, um so weniger, als die Winden (Slowenen) im Süden der
Monarchie an sich nicht die Vitalität besitzen wie die Tschechen und in Kärnten
auch heute noch teilweise eingedeutscht werden. Erwachst hier der Gewinn aus
dem Anwachsen des eigenen Kontos, so ergibt er sich in Böhmen aus dem
Verluste des Gegners. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Tschechen die
höhere Kultur, die sie erreicht haben, mit einer Minderung ihrer Propagations-
kraft bezahlen müssen. Wie der verdiente Bearbeiter der nationalen Statistik der
Deutschen Österreichs, Hainisch, nachgewiesen hat, weist die eheliche Frucht¬
barkeit bei den Tschechen Böhmens seit Jahren einen Rückgang auf und ist
unter die der Deutschen gesunken. Tatsächlich entspricht heute die Vorstellung,
daß der tschechische Teil Böhmens ein unerschöpfliches Menschenreservoir darstelle,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0456" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316095"/>
          <fw type="header" place="top"> Wirtschaftliche Einflüsse</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2398" prev="#ID_2397"> Stimmung seiner Heimatsgemeinde, wodurch dem Anwachsen der Armenlasten &#x2014;<lb/>
wie leicht einzusehen, in sehr unwirksamer Weise &#x2014; gesteuert werden sollte.<lb/>
Geburtenziffer und Geburtenüberschluß blieben unter dem Reichsdurchschnitt,<lb/>
wozu stellenweise dann noch die Abwanderung kam.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2399"> In den Sudetenländern kennzeichnet wiederum der Gegensatz der Industrie<lb/>
und Landwirtschaft die sozialen Grundlagen der Volksvermehrung bei Tschechen<lb/>
einerseits, Deutschet? anderseits. Die Deutschen bewohnen die zumeist landwirt¬<lb/>
schaftlich wenig ergiebigen Randgebirge, ihre Bevölkerungszahl beruht auf der<lb/>
hochentwickelten Industrie. Im tschechischen Gebiet die dem Nachwuchs günstigen<lb/>
Verhältnisse des Landlebens, große Kinderzahl, hohe Ehefrequenz, infolgedessen<lb/>
wenig uneheliche Geburten und geringe Kindersterblichkeit; im deutschen Industrie¬<lb/>
gebiet die umgekehrte Erscheinung, die hygienischen Verhältnisse, in denen die<lb/>
Fabrikbevölkerung lebt, sind oft sehr ungünstig, am schlimmsten aber dort, wo<lb/>
die Hausindustrie noch vorherrscht, aus der sich die nordböhmische Industrie<lb/>
vielfach entwickelt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2400" next="#ID_2401"> Wenn ich so das Bild zunächst von der dunkelsten Seite gezeigt habe,<lb/>
so will ich gleich hier anfügen, wie es sich inzwischen wieder zugunsten des<lb/>
Deutschtums verschoben hat. In den Alpenländern zeigt sich etwa vom<lb/>
Jahre 1890 an wieder eine Zunahme der Bevölkerung, die in einigen Pro¬<lb/>
vinzen früher, in andern später einsetzt; und zwar beruht diese Zunahme<lb/>
sowohl auf Zuwanderung wie auch auf einem Anwachsen der eingesessener<lb/>
Bevölkerung infolge höheren Geburtenüberschusses. Zwei Dinge haben die<lb/>
Lebensbedingungen verbessert und die Verdieustmöglichkeiten erweitert: die Ent¬<lb/>
wicklung von Industrie im Anschluß an die vorhandenen Wasserkräfte und die<lb/>
Steigerung des Fremdenverkehrs. Die alten patriarchalischen Formen des<lb/>
Wirtschaftslebens werden teils durchbrochen, teils durch moderne ergänzt. Eine<lb/>
Grenze für diese Entwicklung ist zurzeit noch gar nicht abzusehen, so daß man<lb/>
mit Bestimnltheit darauf rechnen kann, daß die Vermehrungsverhältnisse der<lb/>
Deutschen in den Alpenländern in absehbarer Zeit vollkommen normal und<lb/>
dem Reichsdurchschnitt entsprechend sein werden; vielleicht ergibt sich dies schon<lb/>
aus der Volkszählung dieses Jahres. Dann wird hier nicht mehr ein Defizit<lb/>
auszufüllen sein, um so weniger, als die Winden (Slowenen) im Süden der<lb/>
Monarchie an sich nicht die Vitalität besitzen wie die Tschechen und in Kärnten<lb/>
auch heute noch teilweise eingedeutscht werden. Erwachst hier der Gewinn aus<lb/>
dem Anwachsen des eigenen Kontos, so ergibt er sich in Böhmen aus dem<lb/>
Verluste des Gegners. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Tschechen die<lb/>
höhere Kultur, die sie erreicht haben, mit einer Minderung ihrer Propagations-<lb/>
kraft bezahlen müssen. Wie der verdiente Bearbeiter der nationalen Statistik der<lb/>
Deutschen Österreichs, Hainisch, nachgewiesen hat, weist die eheliche Frucht¬<lb/>
barkeit bei den Tschechen Böhmens seit Jahren einen Rückgang auf und ist<lb/>
unter die der Deutschen gesunken. Tatsächlich entspricht heute die Vorstellung,<lb/>
daß der tschechische Teil Böhmens ein unerschöpfliches Menschenreservoir darstelle,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0456] Wirtschaftliche Einflüsse Stimmung seiner Heimatsgemeinde, wodurch dem Anwachsen der Armenlasten — wie leicht einzusehen, in sehr unwirksamer Weise — gesteuert werden sollte. Geburtenziffer und Geburtenüberschluß blieben unter dem Reichsdurchschnitt, wozu stellenweise dann noch die Abwanderung kam. In den Sudetenländern kennzeichnet wiederum der Gegensatz der Industrie und Landwirtschaft die sozialen Grundlagen der Volksvermehrung bei Tschechen einerseits, Deutschet? anderseits. Die Deutschen bewohnen die zumeist landwirt¬ schaftlich wenig ergiebigen Randgebirge, ihre Bevölkerungszahl beruht auf der hochentwickelten Industrie. Im tschechischen Gebiet die dem Nachwuchs günstigen Verhältnisse des Landlebens, große Kinderzahl, hohe Ehefrequenz, infolgedessen wenig uneheliche Geburten und geringe Kindersterblichkeit; im deutschen Industrie¬ gebiet die umgekehrte Erscheinung, die hygienischen Verhältnisse, in denen die Fabrikbevölkerung lebt, sind oft sehr ungünstig, am schlimmsten aber dort, wo die Hausindustrie noch vorherrscht, aus der sich die nordböhmische Industrie vielfach entwickelt hat. Wenn ich so das Bild zunächst von der dunkelsten Seite gezeigt habe, so will ich gleich hier anfügen, wie es sich inzwischen wieder zugunsten des Deutschtums verschoben hat. In den Alpenländern zeigt sich etwa vom Jahre 1890 an wieder eine Zunahme der Bevölkerung, die in einigen Pro¬ vinzen früher, in andern später einsetzt; und zwar beruht diese Zunahme sowohl auf Zuwanderung wie auch auf einem Anwachsen der eingesessener Bevölkerung infolge höheren Geburtenüberschusses. Zwei Dinge haben die Lebensbedingungen verbessert und die Verdieustmöglichkeiten erweitert: die Ent¬ wicklung von Industrie im Anschluß an die vorhandenen Wasserkräfte und die Steigerung des Fremdenverkehrs. Die alten patriarchalischen Formen des Wirtschaftslebens werden teils durchbrochen, teils durch moderne ergänzt. Eine Grenze für diese Entwicklung ist zurzeit noch gar nicht abzusehen, so daß man mit Bestimnltheit darauf rechnen kann, daß die Vermehrungsverhältnisse der Deutschen in den Alpenländern in absehbarer Zeit vollkommen normal und dem Reichsdurchschnitt entsprechend sein werden; vielleicht ergibt sich dies schon aus der Volkszählung dieses Jahres. Dann wird hier nicht mehr ein Defizit auszufüllen sein, um so weniger, als die Winden (Slowenen) im Süden der Monarchie an sich nicht die Vitalität besitzen wie die Tschechen und in Kärnten auch heute noch teilweise eingedeutscht werden. Erwachst hier der Gewinn aus dem Anwachsen des eigenen Kontos, so ergibt er sich in Böhmen aus dem Verluste des Gegners. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Tschechen die höhere Kultur, die sie erreicht haben, mit einer Minderung ihrer Propagations- kraft bezahlen müssen. Wie der verdiente Bearbeiter der nationalen Statistik der Deutschen Österreichs, Hainisch, nachgewiesen hat, weist die eheliche Frucht¬ barkeit bei den Tschechen Böhmens seit Jahren einen Rückgang auf und ist unter die der Deutschen gesunken. Tatsächlich entspricht heute die Vorstellung, daß der tschechische Teil Böhmens ein unerschöpfliches Menschenreservoir darstelle,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/456
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/456>, abgerufen am 29.06.2024.