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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Tiberalismus und Grgcmisation?

"Partei und Berufsorganisation haben nichts miteinander zu schaffen": so
hörten wir einen Führer der Liberalen in öffentlicher Versammlung sagen. Gut
gemeint, schlecht gesagt. "Liberalismus und Verbandsbewegung widerstreben
einander": so wollte er sagen. "Berufsorganisation" ist eine Begriffs-Mißgeburt.
Kehren wir das Wort doch lieber einmal um: Organisationsberuf -- das
ist der wahre Liberalismus, ist nicht mehr und nicht weniger als Hingabe an
die Erziehung zur Persönlichkeit und so zum Staatsbnrgertum. Organisations¬
beruf! Nicht ein Armeekorps ist hier auf die Beine zu bringen, sondern ein
Offizierkorps heranzubilden; auch nicht eine Erziehung sei es durch Katheder
und Rednerbühne oder gar Schaubühne, sondern durch Beispiel und Vorbild
von Hans zu Haus, vou Person zu Person, eine Erziehung nicht durch
Wissenskram, sondern durch Gewissenskraft! Wer denkt hier nicht an Sokrates,
der an der klassischen Stätte des Liberalismus wandelte als das Urbild des
liberalen Mannes, zugleich als weltgeschichtlicher Beweis, daß der beste Liberale
die nächste Verwandtschaft mit dem Puritaner und die sicherste Anwartschaft
aufs Martyrium hat? Das Puritanertum der Gedankenstrenge und Begriffs¬
reinheit tut, wie unserem Liberalismus, so unserem Parlamentarismus und dem
ganzen Geist unserer Politik bitter not. Man klagt über die Verfälschung des
öffentlichen Geistes durch die "materielle" Interessen". Aber die machen
einem Sokrates weniger Sorge als die Fälschung der Begriffe. Die materiellen
Interessen sind verhältnismäßig unschuldige Kinder, geboren von der bloßen
Angst vor dem Verhungern und vor dem Zukurzkommen; sie sind so unschuldig
als das Geschrei und Drängen und Stoßen der Menge auf dem überfüllten
Markt. Viel schuldvoller ist die Falschmünzerei, die von den Veranstaltern
und Leitern des Marktes selbst ausgeht oder geduldet wird und Handel und
Wandel zugrunde richtet: die Fälschung der Begriffe von Bürgerrecht, und
-Pflicht, vou Wert und Wirtschaft. Ein sinniger Zug der Sage ist es, das; sie
den Turmbau zu Babel nicht durch Lohustreitigkeiten, durch irgend "materielle
Interessen" abgebrochen werden läßt, sondern durch Sprachverwirrung. Sprach-
und Begriffsverwirrung droht auch dem Hochbau unserer nationalen Kultur
verderblich zu werdeu. Möchten die Bauleute sich darum beizeiten wieder ver¬
ständigen!

Hier haben mir am Beispiel einen Versuch der Verständigung vorgeführt.
Je reiner die Begriffe Liberalismus und Organisation gefaßt wurden, um so
mehr rückten sie einander nahe, bis wir als eigentliche Aufgabe des Liberalismus
eben die Orgauik im weiteren ethischen wie im engeren politischen Sinn erkannten.
Wäre einmal in diesem Sinn die liberale Kraftprobe gelungen, dann brauchte
"ins vor der kommenden nationalen Machtprobe nicht mehr bange zu sein.





Tiberalismus und Grgcmisation?

„Partei und Berufsorganisation haben nichts miteinander zu schaffen": so
hörten wir einen Führer der Liberalen in öffentlicher Versammlung sagen. Gut
gemeint, schlecht gesagt. „Liberalismus und Verbandsbewegung widerstreben
einander": so wollte er sagen. „Berufsorganisation" ist eine Begriffs-Mißgeburt.
Kehren wir das Wort doch lieber einmal um: Organisationsberuf — das
ist der wahre Liberalismus, ist nicht mehr und nicht weniger als Hingabe an
die Erziehung zur Persönlichkeit und so zum Staatsbnrgertum. Organisations¬
beruf! Nicht ein Armeekorps ist hier auf die Beine zu bringen, sondern ein
Offizierkorps heranzubilden; auch nicht eine Erziehung sei es durch Katheder
und Rednerbühne oder gar Schaubühne, sondern durch Beispiel und Vorbild
von Hans zu Haus, vou Person zu Person, eine Erziehung nicht durch
Wissenskram, sondern durch Gewissenskraft! Wer denkt hier nicht an Sokrates,
der an der klassischen Stätte des Liberalismus wandelte als das Urbild des
liberalen Mannes, zugleich als weltgeschichtlicher Beweis, daß der beste Liberale
die nächste Verwandtschaft mit dem Puritaner und die sicherste Anwartschaft
aufs Martyrium hat? Das Puritanertum der Gedankenstrenge und Begriffs¬
reinheit tut, wie unserem Liberalismus, so unserem Parlamentarismus und dem
ganzen Geist unserer Politik bitter not. Man klagt über die Verfälschung des
öffentlichen Geistes durch die „materielle» Interessen". Aber die machen
einem Sokrates weniger Sorge als die Fälschung der Begriffe. Die materiellen
Interessen sind verhältnismäßig unschuldige Kinder, geboren von der bloßen
Angst vor dem Verhungern und vor dem Zukurzkommen; sie sind so unschuldig
als das Geschrei und Drängen und Stoßen der Menge auf dem überfüllten
Markt. Viel schuldvoller ist die Falschmünzerei, die von den Veranstaltern
und Leitern des Marktes selbst ausgeht oder geduldet wird und Handel und
Wandel zugrunde richtet: die Fälschung der Begriffe von Bürgerrecht, und
-Pflicht, vou Wert und Wirtschaft. Ein sinniger Zug der Sage ist es, das; sie
den Turmbau zu Babel nicht durch Lohustreitigkeiten, durch irgend „materielle
Interessen" abgebrochen werden läßt, sondern durch Sprachverwirrung. Sprach-
und Begriffsverwirrung droht auch dem Hochbau unserer nationalen Kultur
verderblich zu werdeu. Möchten die Bauleute sich darum beizeiten wieder ver¬
ständigen!

Hier haben mir am Beispiel einen Versuch der Verständigung vorgeführt.
Je reiner die Begriffe Liberalismus und Organisation gefaßt wurden, um so
mehr rückten sie einander nahe, bis wir als eigentliche Aufgabe des Liberalismus
eben die Orgauik im weiteren ethischen wie im engeren politischen Sinn erkannten.
Wäre einmal in diesem Sinn die liberale Kraftprobe gelungen, dann brauchte
»ins vor der kommenden nationalen Machtprobe nicht mehr bange zu sein.





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[0434] Tiberalismus und Grgcmisation? „Partei und Berufsorganisation haben nichts miteinander zu schaffen": so hörten wir einen Führer der Liberalen in öffentlicher Versammlung sagen. Gut gemeint, schlecht gesagt. „Liberalismus und Verbandsbewegung widerstreben einander": so wollte er sagen. „Berufsorganisation" ist eine Begriffs-Mißgeburt. Kehren wir das Wort doch lieber einmal um: Organisationsberuf — das ist der wahre Liberalismus, ist nicht mehr und nicht weniger als Hingabe an die Erziehung zur Persönlichkeit und so zum Staatsbnrgertum. Organisations¬ beruf! Nicht ein Armeekorps ist hier auf die Beine zu bringen, sondern ein Offizierkorps heranzubilden; auch nicht eine Erziehung sei es durch Katheder und Rednerbühne oder gar Schaubühne, sondern durch Beispiel und Vorbild von Hans zu Haus, vou Person zu Person, eine Erziehung nicht durch Wissenskram, sondern durch Gewissenskraft! Wer denkt hier nicht an Sokrates, der an der klassischen Stätte des Liberalismus wandelte als das Urbild des liberalen Mannes, zugleich als weltgeschichtlicher Beweis, daß der beste Liberale die nächste Verwandtschaft mit dem Puritaner und die sicherste Anwartschaft aufs Martyrium hat? Das Puritanertum der Gedankenstrenge und Begriffs¬ reinheit tut, wie unserem Liberalismus, so unserem Parlamentarismus und dem ganzen Geist unserer Politik bitter not. Man klagt über die Verfälschung des öffentlichen Geistes durch die „materielle» Interessen". Aber die machen einem Sokrates weniger Sorge als die Fälschung der Begriffe. Die materiellen Interessen sind verhältnismäßig unschuldige Kinder, geboren von der bloßen Angst vor dem Verhungern und vor dem Zukurzkommen; sie sind so unschuldig als das Geschrei und Drängen und Stoßen der Menge auf dem überfüllten Markt. Viel schuldvoller ist die Falschmünzerei, die von den Veranstaltern und Leitern des Marktes selbst ausgeht oder geduldet wird und Handel und Wandel zugrunde richtet: die Fälschung der Begriffe von Bürgerrecht, und -Pflicht, vou Wert und Wirtschaft. Ein sinniger Zug der Sage ist es, das; sie den Turmbau zu Babel nicht durch Lohustreitigkeiten, durch irgend „materielle Interessen" abgebrochen werden läßt, sondern durch Sprachverwirrung. Sprach- und Begriffsverwirrung droht auch dem Hochbau unserer nationalen Kultur verderblich zu werdeu. Möchten die Bauleute sich darum beizeiten wieder ver¬ ständigen! Hier haben mir am Beispiel einen Versuch der Verständigung vorgeführt. Je reiner die Begriffe Liberalismus und Organisation gefaßt wurden, um so mehr rückten sie einander nahe, bis wir als eigentliche Aufgabe des Liberalismus eben die Orgauik im weiteren ethischen wie im engeren politischen Sinn erkannten. Wäre einmal in diesem Sinn die liberale Kraftprobe gelungen, dann brauchte »ins vor der kommenden nationalen Machtprobe nicht mehr bange zu sein. [Abbildung]

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/434>, abgerufen am 01.07.2024.