Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Liberalismus und Graauiscition?

engeren Sinn genommen, worin man sie gemeiniglich zu nehmen pflegt,
nämlich eingeschränkt auf ihre höhere Stufe, etwa so, wie man auch von
Gartenkunst im besonderen Sinne spricht. Die wäre zunächst auch schon bloße
Blumenpflege und Baumpflege; denn Blumen oder Bäume gehören vorab zu
einem Garten. Meist aber meint man mehr als das, meint anmutigen Wechsel
von Blumenbeet und Baumland nebst Mittelgliedern, kurz die Anordnung der
kleineren Gartengeschöpfe zu einer großen Gartenschöpfung. Organisation heißt
so nicht mehr die bloße Pflege des Organischen auf jeder und niedriger Stufe,
sie sieht ab vom Übergang des Chaos zur Schöpfung und vom großen Natur-
und Kunstgeheimnis der Zeugung, sieht uur allzusehr auch ab vom Fortgang
dieser Orgcmik in der Form der Erziehung oder Vergeistigung, auch von der
Widerspiegelung der Schöpfungsorganik im mechanischen Werk der Menschen¬
hände ältester oder neuester Zeit: dem Pflug und Schwert, dem Wagenrad wie
Reitrad, dem Luft- wie Seeschiff, der Uhr wie der Orgel, der Geige wie der
Schnellpresse. Mit der Organisation, wie sie jetzt als Zauberwort im öffent¬
lichen Leben geboten wird, greift man ungeduldig nach der obersten Stufe der
Organik, setzt das Dasein der Geschöpfe auf den Unterstufen voraus und meint
nur eine gewisse Zusammenwirkung ihrer höchsten Gattung: die Gruppierung
der menschlichen Gesellschaft.

Schade, daß man dein Wort solche emporschraubende, einschränkende Gewalt
arent! Wie soll sich nun die ganze große Entwickelung vom Chaos zum Kosmos,
von der Atomwelt zur Vernunftwelt nennen? Wären wir noch Heiden und
Griechen, so stellte sich, wo Begriffe fehlen, zu rechter Zeit ein Mythus ein: Pallas-
Athene, die ja ohnehin im organischen Menschenwerk als Ergane waltet, müßte
Organia sein als Patronin der gesamten Schöpfungsorganik, und wäre endlich
als Gönnerin der gesellschaftlichen Organisation erst recht das, was ihr Name
Polias bedeutet: die Göttin der Staatsordnung in allen Formen sittlicher und
bürgerlicher Gemeinschaft. Aber selbst wenn wir uns der Einschränkung des
Begriffes nun mittelst einer solchen Umbildung des Mythus anbequemen, so
fragt es sich: wäre diese Göttin Polias auch wirklich die Personifikation dessen,
was man jetzt landläufig unter Organisation versteht? Opfern unsere angeb¬
lichen Organisatoren wirklich der Polias oder nicht vielmehr einer Agelaia?
Zu deutsch: anstatt der Göttin des Gesellschaftsbaues vielmehr der Götzin des
Massenaufgebots? Dies ist unser Fragezeichen in der Überschrift, ist unsere
Gewissensfrage vor dem Altar eben jener Göttin der Weisheit.

Fürwahr! Nicht so wie es in der Polias verbildlicht ist, nicht so wie es
der Zaübermeister der Schöpfung gemeint hat, meinen es die Zauberlehrlinge,
die heute das Wort Organisation im Munde führen. Sie meinen nicht die Wechsel¬
wirkung ungleicher Schöpfungsorgane zur Verwirklichung höherer Schöpfungs¬
stufen und neuer Zeugungszwecke, sondern die Häufung gleicher Schöpfungs¬
exemplare auf Kosten der übrigen; sie meinen nicht Organisation, sondern
Assoziation, nicht Koalition, sondern Kmnulation, nicht das Körperschaftliche


Grenzboten it 1910 53
Liberalismus und Graauiscition?

engeren Sinn genommen, worin man sie gemeiniglich zu nehmen pflegt,
nämlich eingeschränkt auf ihre höhere Stufe, etwa so, wie man auch von
Gartenkunst im besonderen Sinne spricht. Die wäre zunächst auch schon bloße
Blumenpflege und Baumpflege; denn Blumen oder Bäume gehören vorab zu
einem Garten. Meist aber meint man mehr als das, meint anmutigen Wechsel
von Blumenbeet und Baumland nebst Mittelgliedern, kurz die Anordnung der
kleineren Gartengeschöpfe zu einer großen Gartenschöpfung. Organisation heißt
so nicht mehr die bloße Pflege des Organischen auf jeder und niedriger Stufe,
sie sieht ab vom Übergang des Chaos zur Schöpfung und vom großen Natur-
und Kunstgeheimnis der Zeugung, sieht uur allzusehr auch ab vom Fortgang
dieser Orgcmik in der Form der Erziehung oder Vergeistigung, auch von der
Widerspiegelung der Schöpfungsorganik im mechanischen Werk der Menschen¬
hände ältester oder neuester Zeit: dem Pflug und Schwert, dem Wagenrad wie
Reitrad, dem Luft- wie Seeschiff, der Uhr wie der Orgel, der Geige wie der
Schnellpresse. Mit der Organisation, wie sie jetzt als Zauberwort im öffent¬
lichen Leben geboten wird, greift man ungeduldig nach der obersten Stufe der
Organik, setzt das Dasein der Geschöpfe auf den Unterstufen voraus und meint
nur eine gewisse Zusammenwirkung ihrer höchsten Gattung: die Gruppierung
der menschlichen Gesellschaft.

Schade, daß man dein Wort solche emporschraubende, einschränkende Gewalt
arent! Wie soll sich nun die ganze große Entwickelung vom Chaos zum Kosmos,
von der Atomwelt zur Vernunftwelt nennen? Wären wir noch Heiden und
Griechen, so stellte sich, wo Begriffe fehlen, zu rechter Zeit ein Mythus ein: Pallas-
Athene, die ja ohnehin im organischen Menschenwerk als Ergane waltet, müßte
Organia sein als Patronin der gesamten Schöpfungsorganik, und wäre endlich
als Gönnerin der gesellschaftlichen Organisation erst recht das, was ihr Name
Polias bedeutet: die Göttin der Staatsordnung in allen Formen sittlicher und
bürgerlicher Gemeinschaft. Aber selbst wenn wir uns der Einschränkung des
Begriffes nun mittelst einer solchen Umbildung des Mythus anbequemen, so
fragt es sich: wäre diese Göttin Polias auch wirklich die Personifikation dessen,
was man jetzt landläufig unter Organisation versteht? Opfern unsere angeb¬
lichen Organisatoren wirklich der Polias oder nicht vielmehr einer Agelaia?
Zu deutsch: anstatt der Göttin des Gesellschaftsbaues vielmehr der Götzin des
Massenaufgebots? Dies ist unser Fragezeichen in der Überschrift, ist unsere
Gewissensfrage vor dem Altar eben jener Göttin der Weisheit.

Fürwahr! Nicht so wie es in der Polias verbildlicht ist, nicht so wie es
der Zaübermeister der Schöpfung gemeint hat, meinen es die Zauberlehrlinge,
die heute das Wort Organisation im Munde führen. Sie meinen nicht die Wechsel¬
wirkung ungleicher Schöpfungsorgane zur Verwirklichung höherer Schöpfungs¬
stufen und neuer Zeugungszwecke, sondern die Häufung gleicher Schöpfungs¬
exemplare auf Kosten der übrigen; sie meinen nicht Organisation, sondern
Assoziation, nicht Koalition, sondern Kmnulation, nicht das Körperschaftliche


Grenzboten it 1910 53
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0429" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316068"/>
          <fw type="header" place="top"> Liberalismus und Graauiscition?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2291" prev="#ID_2290"> engeren Sinn genommen, worin man sie gemeiniglich zu nehmen pflegt,<lb/>
nämlich eingeschränkt auf ihre höhere Stufe, etwa so, wie man auch von<lb/>
Gartenkunst im besonderen Sinne spricht. Die wäre zunächst auch schon bloße<lb/>
Blumenpflege und Baumpflege; denn Blumen oder Bäume gehören vorab zu<lb/>
einem Garten. Meist aber meint man mehr als das, meint anmutigen Wechsel<lb/>
von Blumenbeet und Baumland nebst Mittelgliedern, kurz die Anordnung der<lb/>
kleineren Gartengeschöpfe zu einer großen Gartenschöpfung. Organisation heißt<lb/>
so nicht mehr die bloße Pflege des Organischen auf jeder und niedriger Stufe,<lb/>
sie sieht ab vom Übergang des Chaos zur Schöpfung und vom großen Natur-<lb/>
und Kunstgeheimnis der Zeugung, sieht uur allzusehr auch ab vom Fortgang<lb/>
dieser Orgcmik in der Form der Erziehung oder Vergeistigung, auch von der<lb/>
Widerspiegelung der Schöpfungsorganik im mechanischen Werk der Menschen¬<lb/>
hände ältester oder neuester Zeit: dem Pflug und Schwert, dem Wagenrad wie<lb/>
Reitrad, dem Luft- wie Seeschiff, der Uhr wie der Orgel, der Geige wie der<lb/>
Schnellpresse. Mit der Organisation, wie sie jetzt als Zauberwort im öffent¬<lb/>
lichen Leben geboten wird, greift man ungeduldig nach der obersten Stufe der<lb/>
Organik, setzt das Dasein der Geschöpfe auf den Unterstufen voraus und meint<lb/>
nur eine gewisse Zusammenwirkung ihrer höchsten Gattung: die Gruppierung<lb/>
der menschlichen Gesellschaft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2292"> Schade, daß man dein Wort solche emporschraubende, einschränkende Gewalt<lb/>
arent! Wie soll sich nun die ganze große Entwickelung vom Chaos zum Kosmos,<lb/>
von der Atomwelt zur Vernunftwelt nennen? Wären wir noch Heiden und<lb/>
Griechen, so stellte sich, wo Begriffe fehlen, zu rechter Zeit ein Mythus ein: Pallas-<lb/>
Athene, die ja ohnehin im organischen Menschenwerk als Ergane waltet, müßte<lb/>
Organia sein als Patronin der gesamten Schöpfungsorganik, und wäre endlich<lb/>
als Gönnerin der gesellschaftlichen Organisation erst recht das, was ihr Name<lb/>
Polias bedeutet: die Göttin der Staatsordnung in allen Formen sittlicher und<lb/>
bürgerlicher Gemeinschaft. Aber selbst wenn wir uns der Einschränkung des<lb/>
Begriffes nun mittelst einer solchen Umbildung des Mythus anbequemen, so<lb/>
fragt es sich: wäre diese Göttin Polias auch wirklich die Personifikation dessen,<lb/>
was man jetzt landläufig unter Organisation versteht? Opfern unsere angeb¬<lb/>
lichen Organisatoren wirklich der Polias oder nicht vielmehr einer Agelaia?<lb/>
Zu deutsch: anstatt der Göttin des Gesellschaftsbaues vielmehr der Götzin des<lb/>
Massenaufgebots? Dies ist unser Fragezeichen in der Überschrift, ist unsere<lb/>
Gewissensfrage vor dem Altar eben jener Göttin der Weisheit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2293" next="#ID_2294"> Fürwahr! Nicht so wie es in der Polias verbildlicht ist, nicht so wie es<lb/>
der Zaübermeister der Schöpfung gemeint hat, meinen es die Zauberlehrlinge,<lb/>
die heute das Wort Organisation im Munde führen. Sie meinen nicht die Wechsel¬<lb/>
wirkung ungleicher Schöpfungsorgane zur Verwirklichung höherer Schöpfungs¬<lb/>
stufen und neuer Zeugungszwecke, sondern die Häufung gleicher Schöpfungs¬<lb/>
exemplare auf Kosten der übrigen; sie meinen nicht Organisation, sondern<lb/>
Assoziation, nicht Koalition, sondern Kmnulation, nicht das Körperschaftliche</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten it 1910 53</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0429] Liberalismus und Graauiscition? engeren Sinn genommen, worin man sie gemeiniglich zu nehmen pflegt, nämlich eingeschränkt auf ihre höhere Stufe, etwa so, wie man auch von Gartenkunst im besonderen Sinne spricht. Die wäre zunächst auch schon bloße Blumenpflege und Baumpflege; denn Blumen oder Bäume gehören vorab zu einem Garten. Meist aber meint man mehr als das, meint anmutigen Wechsel von Blumenbeet und Baumland nebst Mittelgliedern, kurz die Anordnung der kleineren Gartengeschöpfe zu einer großen Gartenschöpfung. Organisation heißt so nicht mehr die bloße Pflege des Organischen auf jeder und niedriger Stufe, sie sieht ab vom Übergang des Chaos zur Schöpfung und vom großen Natur- und Kunstgeheimnis der Zeugung, sieht uur allzusehr auch ab vom Fortgang dieser Orgcmik in der Form der Erziehung oder Vergeistigung, auch von der Widerspiegelung der Schöpfungsorganik im mechanischen Werk der Menschen¬ hände ältester oder neuester Zeit: dem Pflug und Schwert, dem Wagenrad wie Reitrad, dem Luft- wie Seeschiff, der Uhr wie der Orgel, der Geige wie der Schnellpresse. Mit der Organisation, wie sie jetzt als Zauberwort im öffent¬ lichen Leben geboten wird, greift man ungeduldig nach der obersten Stufe der Organik, setzt das Dasein der Geschöpfe auf den Unterstufen voraus und meint nur eine gewisse Zusammenwirkung ihrer höchsten Gattung: die Gruppierung der menschlichen Gesellschaft. Schade, daß man dein Wort solche emporschraubende, einschränkende Gewalt arent! Wie soll sich nun die ganze große Entwickelung vom Chaos zum Kosmos, von der Atomwelt zur Vernunftwelt nennen? Wären wir noch Heiden und Griechen, so stellte sich, wo Begriffe fehlen, zu rechter Zeit ein Mythus ein: Pallas- Athene, die ja ohnehin im organischen Menschenwerk als Ergane waltet, müßte Organia sein als Patronin der gesamten Schöpfungsorganik, und wäre endlich als Gönnerin der gesellschaftlichen Organisation erst recht das, was ihr Name Polias bedeutet: die Göttin der Staatsordnung in allen Formen sittlicher und bürgerlicher Gemeinschaft. Aber selbst wenn wir uns der Einschränkung des Begriffes nun mittelst einer solchen Umbildung des Mythus anbequemen, so fragt es sich: wäre diese Göttin Polias auch wirklich die Personifikation dessen, was man jetzt landläufig unter Organisation versteht? Opfern unsere angeb¬ lichen Organisatoren wirklich der Polias oder nicht vielmehr einer Agelaia? Zu deutsch: anstatt der Göttin des Gesellschaftsbaues vielmehr der Götzin des Massenaufgebots? Dies ist unser Fragezeichen in der Überschrift, ist unsere Gewissensfrage vor dem Altar eben jener Göttin der Weisheit. Fürwahr! Nicht so wie es in der Polias verbildlicht ist, nicht so wie es der Zaübermeister der Schöpfung gemeint hat, meinen es die Zauberlehrlinge, die heute das Wort Organisation im Munde führen. Sie meinen nicht die Wechsel¬ wirkung ungleicher Schöpfungsorgane zur Verwirklichung höherer Schöpfungs¬ stufen und neuer Zeugungszwecke, sondern die Häufung gleicher Schöpfungs¬ exemplare auf Kosten der übrigen; sie meinen nicht Organisation, sondern Assoziation, nicht Koalition, sondern Kmnulation, nicht das Körperschaftliche Grenzboten it 1910 53

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/429
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/429>, abgerufen am 29.06.2024.