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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gespräch

Ich meine die Art, wie er die Dinge sieht. Für ihn gibt es nichts Zuständ¬
liches; er sieht alles kommen von weither und seinen Weg gehen und über einen
Moment dieses Weges sagt er schnell ein Wort. Und wenn er zwei Menschen
zusammenführt in seinen Büchern, so gehen sie wohl eine Strecke zusammen
und leben ein Stück Leben zusammen, aber bald gehen sie auseinander und
nehmen kaum Abschied. Bitte achte einmal darauf, wenn du Ricks Lyhne liest.
Wo bleiben sie eigentlich alle: Herr Bigum, Frau Boyl und die arme Fennimore?
Man erfährt es nicht. Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem
Gefühl des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen,
er weiß, "daß alles gleitet und vorüberrinnt", und daß es dieselben Flüsse nicht
mehr sind, auch wenn wir in dieselben Flüsse steigen. . . Damit du nicht
wieder sagst, ich phantasierte, will ich dir eine Stelle vorlesen aus seinen Briefen,
wenn du sie anhören willst. Sie heißt so: "Ich habe nie etwas Abgeschlossenes
in einem Verhältnis zwischen Menschen gesehen. Wenn sie auch siebenmal
siebenundsiebzigmal abschließen, so fährt es doch fort weiterzuleben und kann
kommen und verlangen, noch einmal abgeschlossen zu werden." Wie stellst du
dich jetzt dazu?

Gerk: Ja, aber, wer sagt, daß er nicht diese Art einfach als ein Gesetz
in sich getragen hat? Vielleicht war es einfach sein künstlerischer Instinkt, der
ihn so sehen ließ?

M Thom: öglich wäre es. Vielleicht! Aber ich kann dir beweisen, daß es
sich so nicht verhält. Ich kann dir zeigen, daß er bewußt diese Art zu
schauen und zu schildern als Methode aus den Naturwissenschaften in die
Kunst hinübergenommen hat.


Gerk:

Das allerdings wäre interessant.

Thom: Dazu mußt du mir aber noch einen Augenblick Gehör schenken,--
ich glaube, ich werde noch so viel sehen können; vielleicht finde ich den Brief
gleich; wenn ich nicht irre, war er an Eduard Brancks, -- ja hier steht es,
höre bitte: "Es ist in den Naturwissenschaften in der letzten Zeit Mode geworden
zu sagen, daß zuviel Gewicht auf die Entwicklungsgeschichte gelegt worden sei.
Diese Beschuldigung kann nicht mit Recht auf V/"rk8 of fiction hinaus¬
geschleudert werden. Denn hier ist fast immer bloß von fertigen Zuständen die
Rede; selbst wo Versuche gemacht sind, ist es niemals wirkliche Entwicklung, es
ist nur eine gewisse feste Form, die Bogen auf Bogen reich und reicher nuanciert
wird, mehr und mehr unterstrichen wird. Es sind nicht Möglichkeiten in ihnen
zu allem Möglichen; dadurch gewinnen sie natürlich an Festigkeit, doch nicht
an Leben. Die wirkliche Entwicklungsgeschichte (voir venir Je8 Lkv8k8) ist
es, auf die nun Gewicht zu legen ist von jenen, die können, selbst auf die
Gefahr hin, daß die Charaktere des Zusammenhangs zu ermangeln scheinen."
Also du siehst mit dem Gesetz und dein Instinkt? Ich muß dir offen
gestehen, daß mir diese Rede vom Instinkt und Rausch, aus dein der Künstler
seine Werke gebiert, immer ein wenig lächerlich vorkam. Meinst du nicht,


Gespräch

Ich meine die Art, wie er die Dinge sieht. Für ihn gibt es nichts Zuständ¬
liches; er sieht alles kommen von weither und seinen Weg gehen und über einen
Moment dieses Weges sagt er schnell ein Wort. Und wenn er zwei Menschen
zusammenführt in seinen Büchern, so gehen sie wohl eine Strecke zusammen
und leben ein Stück Leben zusammen, aber bald gehen sie auseinander und
nehmen kaum Abschied. Bitte achte einmal darauf, wenn du Ricks Lyhne liest.
Wo bleiben sie eigentlich alle: Herr Bigum, Frau Boyl und die arme Fennimore?
Man erfährt es nicht. Seine Empfindungen sind ganz durchdrungen von dem
Gefühl des ewigen Flutens und Weitermüssens und Aufsteigens in neue Formen,
er weiß, „daß alles gleitet und vorüberrinnt", und daß es dieselben Flüsse nicht
mehr sind, auch wenn wir in dieselben Flüsse steigen. . . Damit du nicht
wieder sagst, ich phantasierte, will ich dir eine Stelle vorlesen aus seinen Briefen,
wenn du sie anhören willst. Sie heißt so: „Ich habe nie etwas Abgeschlossenes
in einem Verhältnis zwischen Menschen gesehen. Wenn sie auch siebenmal
siebenundsiebzigmal abschließen, so fährt es doch fort weiterzuleben und kann
kommen und verlangen, noch einmal abgeschlossen zu werden." Wie stellst du
dich jetzt dazu?

Gerk: Ja, aber, wer sagt, daß er nicht diese Art einfach als ein Gesetz
in sich getragen hat? Vielleicht war es einfach sein künstlerischer Instinkt, der
ihn so sehen ließ?

M Thom: öglich wäre es. Vielleicht! Aber ich kann dir beweisen, daß es
sich so nicht verhält. Ich kann dir zeigen, daß er bewußt diese Art zu
schauen und zu schildern als Methode aus den Naturwissenschaften in die
Kunst hinübergenommen hat.


Gerk:

Das allerdings wäre interessant.

Thom: Dazu mußt du mir aber noch einen Augenblick Gehör schenken,—
ich glaube, ich werde noch so viel sehen können; vielleicht finde ich den Brief
gleich; wenn ich nicht irre, war er an Eduard Brancks, — ja hier steht es,
höre bitte: „Es ist in den Naturwissenschaften in der letzten Zeit Mode geworden
zu sagen, daß zuviel Gewicht auf die Entwicklungsgeschichte gelegt worden sei.
Diese Beschuldigung kann nicht mit Recht auf V/»rk8 of fiction hinaus¬
geschleudert werden. Denn hier ist fast immer bloß von fertigen Zuständen die
Rede; selbst wo Versuche gemacht sind, ist es niemals wirkliche Entwicklung, es
ist nur eine gewisse feste Form, die Bogen auf Bogen reich und reicher nuanciert
wird, mehr und mehr unterstrichen wird. Es sind nicht Möglichkeiten in ihnen
zu allem Möglichen; dadurch gewinnen sie natürlich an Festigkeit, doch nicht
an Leben. Die wirkliche Entwicklungsgeschichte (voir venir Je8 Lkv8k8) ist
es, auf die nun Gewicht zu legen ist von jenen, die können, selbst auf die
Gefahr hin, daß die Charaktere des Zusammenhangs zu ermangeln scheinen."
Also du siehst mit dem Gesetz und dein Instinkt? Ich muß dir offen
gestehen, daß mir diese Rede vom Instinkt und Rausch, aus dein der Künstler
seine Werke gebiert, immer ein wenig lächerlich vorkam. Meinst du nicht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/420>, abgerufen am 23.07.2024.