Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Freiheit der Wissenschaft

heilig gesprochen worden. Der Professor des Kirchenrechts an der päpst¬
lichen Universität in Rom. der Jesuit de Luca, schreibt in seinem "Lehrbuch
des öffentlichen Kirchenrechts", Regensburg 1901: "Die weltliche Obrigkeit muß
auf Befehl und Anordnung der Kirche die Ketzer mit dem Tode bestrafen, und
zwar nicht bloß diejenigen, welche als Erwachsene vom Glauben abfallen, sondern
auch diejenigen, welche im Irrglauben geboren und getauft sind und die Ketzerei
mit der Muttermilch eingesogen und in ihrem späteren Leben hartnäckig fest¬
gehalten haben. Wo die Ketzerei Eingang gefunden, ist die Todesstrafe auch
auf Rückfällige anzuwenden, auch wenn sie sich neuerdings bekehren wollen."
Die versteckte Drohung des Zentrumssührers von Mallinckrodt im Jahre 1874
wird nun auch verständlich: "Wenn wir einmal die Mehrheit zu haben in der
Lage wären, dann würden wir für die Kirche, die wir als wahre Kirche
anerkennen, Freiheit geben, aber für eure (protestantischen) Hirngespinste nicht."
Daraus geht deutlich hervor, was die Ultramontanen unter Parität verstehen.
Parität heißt vollkommene Freiheit für alle klerikalen Machtgelüste und Unter¬
drückung aller diese Machtgelüste einschränkenden Momente.

Donat sagt auf S. 171: "Auch nur flüchtig weisen wir auf die Gründung und
die Pflege der niederen Schulen durch die Kirche hin. Daß das Schulwesen erst
mit der freieren Entfaltung der Kirche einen größeren Aufschwung nahm, ist
eine geschichtliche Tatsache." Ich würde sagen, das ist eine geschichtliche
Fälschung, und das ist in der Tat an dem Beispiel von Belgien ohne weiteres
nachzuweisen. Denn in Belgien hat die ultramontane Kirche diejenige Art
von Parität - erlangt, die sie bei uns zu erlangen strebt. Unter dem Titel
der Unterrichtsfreiheit ist die ultramontane Partei 1884 zur Herrschaft
gelangt, und sie hat sofort damit begonnen, einen rücksichtslosen Terrorismus
auszuüben in der Verkirchlichung der Staatsschulen. Ende 1885 waren
von 1933 Staatsschulcn bereits 877 beseitigt und 1465 neue geistliche
Schulen eröffnet worden unter dem Namen freie Schulen. Im Jahre 1907^
hat der belgische Katholikentag, der ebensowenig, wie bei uns in Deutschland
die Katholikentage, eine Versammlung religiös Gleichgesinnter bedeutet, sondern
lediglich eine ultramontane politische Versammlung ist, beschlossen, daß der Staat
der Errichtung und Unterhaltung eigener Schulen ganz entsagt und sein Unter¬
richtsbudget in Form von Subsidien den freien, d. h. den klerikalen Schulen
zuwendet. Und was ist nun die Folge? In den Jahren 1900 bis 1910 hat
in den industriellen Hauptstädten Belgiens ein starkes Drittel der Arbeiter gar
leinen Schulunterricht genossen. Nur 20 Prozent der schulfähigen Kinder über¬
haupt besuchen die Schule sechs Jahre laug. 80 Prozent gehen nur sechs
Monate während dreier Jahre in die Schule. Von 12280 Rekruten, die
sich im Jahre 1905 stellten, konnten 1610 weder lesen noch schreiben, 709
konnten lesen, aber nicht schreiben. Auf 1000 Rekruten zählen Analphabeten:
Deutschland 0,7, Schweden 0,8, Dänemark 2, die Schweiz 20, die Nieder¬
lande 23, England und Irland 37, Frankreich 46, das ultramontane Belgien


Die Freiheit der Wissenschaft

heilig gesprochen worden. Der Professor des Kirchenrechts an der päpst¬
lichen Universität in Rom. der Jesuit de Luca, schreibt in seinem „Lehrbuch
des öffentlichen Kirchenrechts", Regensburg 1901: „Die weltliche Obrigkeit muß
auf Befehl und Anordnung der Kirche die Ketzer mit dem Tode bestrafen, und
zwar nicht bloß diejenigen, welche als Erwachsene vom Glauben abfallen, sondern
auch diejenigen, welche im Irrglauben geboren und getauft sind und die Ketzerei
mit der Muttermilch eingesogen und in ihrem späteren Leben hartnäckig fest¬
gehalten haben. Wo die Ketzerei Eingang gefunden, ist die Todesstrafe auch
auf Rückfällige anzuwenden, auch wenn sie sich neuerdings bekehren wollen."
Die versteckte Drohung des Zentrumssührers von Mallinckrodt im Jahre 1874
wird nun auch verständlich: „Wenn wir einmal die Mehrheit zu haben in der
Lage wären, dann würden wir für die Kirche, die wir als wahre Kirche
anerkennen, Freiheit geben, aber für eure (protestantischen) Hirngespinste nicht."
Daraus geht deutlich hervor, was die Ultramontanen unter Parität verstehen.
Parität heißt vollkommene Freiheit für alle klerikalen Machtgelüste und Unter¬
drückung aller diese Machtgelüste einschränkenden Momente.

Donat sagt auf S. 171: „Auch nur flüchtig weisen wir auf die Gründung und
die Pflege der niederen Schulen durch die Kirche hin. Daß das Schulwesen erst
mit der freieren Entfaltung der Kirche einen größeren Aufschwung nahm, ist
eine geschichtliche Tatsache." Ich würde sagen, das ist eine geschichtliche
Fälschung, und das ist in der Tat an dem Beispiel von Belgien ohne weiteres
nachzuweisen. Denn in Belgien hat die ultramontane Kirche diejenige Art
von Parität - erlangt, die sie bei uns zu erlangen strebt. Unter dem Titel
der Unterrichtsfreiheit ist die ultramontane Partei 1884 zur Herrschaft
gelangt, und sie hat sofort damit begonnen, einen rücksichtslosen Terrorismus
auszuüben in der Verkirchlichung der Staatsschulen. Ende 1885 waren
von 1933 Staatsschulcn bereits 877 beseitigt und 1465 neue geistliche
Schulen eröffnet worden unter dem Namen freie Schulen. Im Jahre 1907^
hat der belgische Katholikentag, der ebensowenig, wie bei uns in Deutschland
die Katholikentage, eine Versammlung religiös Gleichgesinnter bedeutet, sondern
lediglich eine ultramontane politische Versammlung ist, beschlossen, daß der Staat
der Errichtung und Unterhaltung eigener Schulen ganz entsagt und sein Unter¬
richtsbudget in Form von Subsidien den freien, d. h. den klerikalen Schulen
zuwendet. Und was ist nun die Folge? In den Jahren 1900 bis 1910 hat
in den industriellen Hauptstädten Belgiens ein starkes Drittel der Arbeiter gar
leinen Schulunterricht genossen. Nur 20 Prozent der schulfähigen Kinder über¬
haupt besuchen die Schule sechs Jahre laug. 80 Prozent gehen nur sechs
Monate während dreier Jahre in die Schule. Von 12280 Rekruten, die
sich im Jahre 1905 stellten, konnten 1610 weder lesen noch schreiben, 709
konnten lesen, aber nicht schreiben. Auf 1000 Rekruten zählen Analphabeten:
Deutschland 0,7, Schweden 0,8, Dänemark 2, die Schweiz 20, die Nieder¬
lande 23, England und Irland 37, Frankreich 46, das ultramontane Belgien


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316048"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Freiheit der Wissenschaft</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2196" prev="#ID_2195"> heilig gesprochen worden. Der Professor des Kirchenrechts an der päpst¬<lb/>
lichen Universität in Rom. der Jesuit de Luca, schreibt in seinem &#x201E;Lehrbuch<lb/>
des öffentlichen Kirchenrechts", Regensburg 1901: &#x201E;Die weltliche Obrigkeit muß<lb/>
auf Befehl und Anordnung der Kirche die Ketzer mit dem Tode bestrafen, und<lb/>
zwar nicht bloß diejenigen, welche als Erwachsene vom Glauben abfallen, sondern<lb/>
auch diejenigen, welche im Irrglauben geboren und getauft sind und die Ketzerei<lb/>
mit der Muttermilch eingesogen und in ihrem späteren Leben hartnäckig fest¬<lb/>
gehalten haben. Wo die Ketzerei Eingang gefunden, ist die Todesstrafe auch<lb/>
auf Rückfällige anzuwenden, auch wenn sie sich neuerdings bekehren wollen."<lb/>
Die versteckte Drohung des Zentrumssührers von Mallinckrodt im Jahre 1874<lb/>
wird nun auch verständlich: &#x201E;Wenn wir einmal die Mehrheit zu haben in der<lb/>
Lage wären, dann würden wir für die Kirche, die wir als wahre Kirche<lb/>
anerkennen, Freiheit geben, aber für eure (protestantischen) Hirngespinste nicht."<lb/>
Daraus geht deutlich hervor, was die Ultramontanen unter Parität verstehen.<lb/>
Parität heißt vollkommene Freiheit für alle klerikalen Machtgelüste und Unter¬<lb/>
drückung aller diese Machtgelüste einschränkenden Momente.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2197" next="#ID_2198"> Donat sagt auf S. 171: &#x201E;Auch nur flüchtig weisen wir auf die Gründung und<lb/>
die Pflege der niederen Schulen durch die Kirche hin. Daß das Schulwesen erst<lb/>
mit der freieren Entfaltung der Kirche einen größeren Aufschwung nahm, ist<lb/>
eine geschichtliche Tatsache." Ich würde sagen, das ist eine geschichtliche<lb/>
Fälschung, und das ist in der Tat an dem Beispiel von Belgien ohne weiteres<lb/>
nachzuweisen. Denn in Belgien hat die ultramontane Kirche diejenige Art<lb/>
von Parität - erlangt, die sie bei uns zu erlangen strebt. Unter dem Titel<lb/>
der Unterrichtsfreiheit ist die ultramontane Partei 1884 zur Herrschaft<lb/>
gelangt, und sie hat sofort damit begonnen, einen rücksichtslosen Terrorismus<lb/>
auszuüben in der Verkirchlichung der Staatsschulen. Ende 1885 waren<lb/>
von 1933 Staatsschulcn bereits 877 beseitigt und 1465 neue geistliche<lb/>
Schulen eröffnet worden unter dem Namen freie Schulen. Im Jahre 1907^<lb/>
hat der belgische Katholikentag, der ebensowenig, wie bei uns in Deutschland<lb/>
die Katholikentage, eine Versammlung religiös Gleichgesinnter bedeutet, sondern<lb/>
lediglich eine ultramontane politische Versammlung ist, beschlossen, daß der Staat<lb/>
der Errichtung und Unterhaltung eigener Schulen ganz entsagt und sein Unter¬<lb/>
richtsbudget in Form von Subsidien den freien, d. h. den klerikalen Schulen<lb/>
zuwendet. Und was ist nun die Folge? In den Jahren 1900 bis 1910 hat<lb/>
in den industriellen Hauptstädten Belgiens ein starkes Drittel der Arbeiter gar<lb/>
leinen Schulunterricht genossen. Nur 20 Prozent der schulfähigen Kinder über¬<lb/>
haupt besuchen die Schule sechs Jahre laug. 80 Prozent gehen nur sechs<lb/>
Monate während dreier Jahre in die Schule. Von 12280 Rekruten, die<lb/>
sich im Jahre 1905 stellten, konnten 1610 weder lesen noch schreiben, 709<lb/>
konnten lesen, aber nicht schreiben. Auf 1000 Rekruten zählen Analphabeten:<lb/>
Deutschland 0,7, Schweden 0,8, Dänemark 2, die Schweiz 20, die Nieder¬<lb/>
lande 23, England und Irland 37, Frankreich 46, das ultramontane Belgien</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0409] Die Freiheit der Wissenschaft heilig gesprochen worden. Der Professor des Kirchenrechts an der päpst¬ lichen Universität in Rom. der Jesuit de Luca, schreibt in seinem „Lehrbuch des öffentlichen Kirchenrechts", Regensburg 1901: „Die weltliche Obrigkeit muß auf Befehl und Anordnung der Kirche die Ketzer mit dem Tode bestrafen, und zwar nicht bloß diejenigen, welche als Erwachsene vom Glauben abfallen, sondern auch diejenigen, welche im Irrglauben geboren und getauft sind und die Ketzerei mit der Muttermilch eingesogen und in ihrem späteren Leben hartnäckig fest¬ gehalten haben. Wo die Ketzerei Eingang gefunden, ist die Todesstrafe auch auf Rückfällige anzuwenden, auch wenn sie sich neuerdings bekehren wollen." Die versteckte Drohung des Zentrumssührers von Mallinckrodt im Jahre 1874 wird nun auch verständlich: „Wenn wir einmal die Mehrheit zu haben in der Lage wären, dann würden wir für die Kirche, die wir als wahre Kirche anerkennen, Freiheit geben, aber für eure (protestantischen) Hirngespinste nicht." Daraus geht deutlich hervor, was die Ultramontanen unter Parität verstehen. Parität heißt vollkommene Freiheit für alle klerikalen Machtgelüste und Unter¬ drückung aller diese Machtgelüste einschränkenden Momente. Donat sagt auf S. 171: „Auch nur flüchtig weisen wir auf die Gründung und die Pflege der niederen Schulen durch die Kirche hin. Daß das Schulwesen erst mit der freieren Entfaltung der Kirche einen größeren Aufschwung nahm, ist eine geschichtliche Tatsache." Ich würde sagen, das ist eine geschichtliche Fälschung, und das ist in der Tat an dem Beispiel von Belgien ohne weiteres nachzuweisen. Denn in Belgien hat die ultramontane Kirche diejenige Art von Parität - erlangt, die sie bei uns zu erlangen strebt. Unter dem Titel der Unterrichtsfreiheit ist die ultramontane Partei 1884 zur Herrschaft gelangt, und sie hat sofort damit begonnen, einen rücksichtslosen Terrorismus auszuüben in der Verkirchlichung der Staatsschulen. Ende 1885 waren von 1933 Staatsschulcn bereits 877 beseitigt und 1465 neue geistliche Schulen eröffnet worden unter dem Namen freie Schulen. Im Jahre 1907^ hat der belgische Katholikentag, der ebensowenig, wie bei uns in Deutschland die Katholikentage, eine Versammlung religiös Gleichgesinnter bedeutet, sondern lediglich eine ultramontane politische Versammlung ist, beschlossen, daß der Staat der Errichtung und Unterhaltung eigener Schulen ganz entsagt und sein Unter¬ richtsbudget in Form von Subsidien den freien, d. h. den klerikalen Schulen zuwendet. Und was ist nun die Folge? In den Jahren 1900 bis 1910 hat in den industriellen Hauptstädten Belgiens ein starkes Drittel der Arbeiter gar leinen Schulunterricht genossen. Nur 20 Prozent der schulfähigen Kinder über¬ haupt besuchen die Schule sechs Jahre laug. 80 Prozent gehen nur sechs Monate während dreier Jahre in die Schule. Von 12280 Rekruten, die sich im Jahre 1905 stellten, konnten 1610 weder lesen noch schreiben, 709 konnten lesen, aber nicht schreiben. Auf 1000 Rekruten zählen Analphabeten: Deutschland 0,7, Schweden 0,8, Dänemark 2, die Schweiz 20, die Nieder¬ lande 23, England und Irland 37, Frankreich 46, das ultramontane Belgien

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/409
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/409>, abgerufen am 23.07.2024.