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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Die Freiheit der Wissenschaft

glaube, der sich nicht überwinden läßt und der dauernd besteht, ist eine Fessel
des Geistes, die jeden Fortschritt notwendig verhindern muß. überall da, wo
also Autoritäten sich selbst überleben, wo sie länger andauern, als es sich mit
vernünftiger Opposition vereinbaren läßt, da ertönt der Schrei nach der Freiheit
der Wissenschaft, und diese Freiheit der Wissenschaft bedeutet nichts anderes,
als daß keine Autorität von vornherein sagen soll, dies oder jenes ist absolut
richtig oder unrichtig. Alles, was einmal als richtig betrachtet wurde, kann
unter veränderten Bedingungen sich als falsch darstellen, und umgekehrt. Das
Schädliche der Autoritäten besteht also nicht darin, daß sie in ihrer Meinung
eine Zeitlang beharren, sondern das Schädliche tritt nur dann hervor, wenn diese
Beharrung über die einzelne Persönlichkeit hinaus eine dauernde wird.

Diese Schädlichkeit wird im höchsten Maße seit Jahrtausenden durch religiöse
Dogmen ausgeübt. Es wäre unrichtig, zu glauben, daß die ultramontane Kirche
darin allein stehe; die Dogmen anderer Religionen verhalten sich in keiner
Weise anders, falls sie sich autoritativ geltend zu machen trachten. Nur die
ultramontanen Lehren berühren unser geistiges Leben mehr als andere, sie
haben eine größere Macht, unser Handeln zu beeinflussen, und sie haben in
neuster Zeit praktisch tiefer in unser Leben eingegriffen als irgendwelche anderen.
Die Vorgänge an den Universitäten in Bonn, Würzburg, München, Tübingen,
Innsbruck sind noch allen so sehr in der Erinnerung, daß nur darauf hingewiesen
zu werden braucht, um den Zwang erkennen zu lassen, den diese Dogmen auf
die geistige Entwicklung ausüben. Wer in protestantischen Ländern lebt oder in
irgendwelchen anderen Gegenden, in denen der Ultramontanismus eine geringe
Rolle spielt, an dem gehen alle diese Ereignisse in weiter Ferne vorüber. Man
denkt nicht sofort daran, daß sie uns persönlich jemals angehen könnten, hält sie
auch wohl für vorübergehend. Die Geschichte hat bisher gezeigt, daß das nicht
der Fall ist, und daß alle diese Dinge eine viel größere Gefahr in sich tragen,
als man auf den ersten Blick glauben möchte. Jener Optimismus beruht ganz
wesentlich auf der Unkenntnis der Bedeutung der ultramontanen Hierarchie und
der ungeheuren Macht, die sie dadurch auszuüben imstande ist, daß ihr die
größten Agitationsmittel zur Verfügung stehen, ohne dafür auch nur einen Pfennig
Geld opfern zu müssen, und zweitens in der seit Jahrhunderten bestehenden
Verquickung des Ultramontanismus mit einer bestimmten Religionsrichtung, die
ursprünglich gar nichts damit zu tun hatte.

Der Ultramontanismus ist nichts anderes als die im Laufe der Geschichte
usurpierte weltliche Macht, die sich an bestimmte Persönlichkeiten knüpft.
Religion aber wirkt auf eine bestimmte Weltanschauung hin und ist insofern
eine Form philosophischer Schulung. Die Macht kann nur bestehen, wenn
sie durch diese philosophische Richtung auf die Gemüter einwirkt, und
deshalb muß sie das Bestreben haben, diese Philosophie fortgesetzt in der Hand
zu behalten und jede Kritik an ihr schon im Keime zu ersticken. Daher
kommt es, daß der Ultramontanismus von jeher ein Feind war irgendwelcher


Die Freiheit der Wissenschaft

glaube, der sich nicht überwinden läßt und der dauernd besteht, ist eine Fessel
des Geistes, die jeden Fortschritt notwendig verhindern muß. überall da, wo
also Autoritäten sich selbst überleben, wo sie länger andauern, als es sich mit
vernünftiger Opposition vereinbaren läßt, da ertönt der Schrei nach der Freiheit
der Wissenschaft, und diese Freiheit der Wissenschaft bedeutet nichts anderes,
als daß keine Autorität von vornherein sagen soll, dies oder jenes ist absolut
richtig oder unrichtig. Alles, was einmal als richtig betrachtet wurde, kann
unter veränderten Bedingungen sich als falsch darstellen, und umgekehrt. Das
Schädliche der Autoritäten besteht also nicht darin, daß sie in ihrer Meinung
eine Zeitlang beharren, sondern das Schädliche tritt nur dann hervor, wenn diese
Beharrung über die einzelne Persönlichkeit hinaus eine dauernde wird.

Diese Schädlichkeit wird im höchsten Maße seit Jahrtausenden durch religiöse
Dogmen ausgeübt. Es wäre unrichtig, zu glauben, daß die ultramontane Kirche
darin allein stehe; die Dogmen anderer Religionen verhalten sich in keiner
Weise anders, falls sie sich autoritativ geltend zu machen trachten. Nur die
ultramontanen Lehren berühren unser geistiges Leben mehr als andere, sie
haben eine größere Macht, unser Handeln zu beeinflussen, und sie haben in
neuster Zeit praktisch tiefer in unser Leben eingegriffen als irgendwelche anderen.
Die Vorgänge an den Universitäten in Bonn, Würzburg, München, Tübingen,
Innsbruck sind noch allen so sehr in der Erinnerung, daß nur darauf hingewiesen
zu werden braucht, um den Zwang erkennen zu lassen, den diese Dogmen auf
die geistige Entwicklung ausüben. Wer in protestantischen Ländern lebt oder in
irgendwelchen anderen Gegenden, in denen der Ultramontanismus eine geringe
Rolle spielt, an dem gehen alle diese Ereignisse in weiter Ferne vorüber. Man
denkt nicht sofort daran, daß sie uns persönlich jemals angehen könnten, hält sie
auch wohl für vorübergehend. Die Geschichte hat bisher gezeigt, daß das nicht
der Fall ist, und daß alle diese Dinge eine viel größere Gefahr in sich tragen,
als man auf den ersten Blick glauben möchte. Jener Optimismus beruht ganz
wesentlich auf der Unkenntnis der Bedeutung der ultramontanen Hierarchie und
der ungeheuren Macht, die sie dadurch auszuüben imstande ist, daß ihr die
größten Agitationsmittel zur Verfügung stehen, ohne dafür auch nur einen Pfennig
Geld opfern zu müssen, und zweitens in der seit Jahrhunderten bestehenden
Verquickung des Ultramontanismus mit einer bestimmten Religionsrichtung, die
ursprünglich gar nichts damit zu tun hatte.

Der Ultramontanismus ist nichts anderes als die im Laufe der Geschichte
usurpierte weltliche Macht, die sich an bestimmte Persönlichkeiten knüpft.
Religion aber wirkt auf eine bestimmte Weltanschauung hin und ist insofern
eine Form philosophischer Schulung. Die Macht kann nur bestehen, wenn
sie durch diese philosophische Richtung auf die Gemüter einwirkt, und
deshalb muß sie das Bestreben haben, diese Philosophie fortgesetzt in der Hand
zu behalten und jede Kritik an ihr schon im Keime zu ersticken. Daher
kommt es, daß der Ultramontanismus von jeher ein Feind war irgendwelcher


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[0358] Die Freiheit der Wissenschaft glaube, der sich nicht überwinden läßt und der dauernd besteht, ist eine Fessel des Geistes, die jeden Fortschritt notwendig verhindern muß. überall da, wo also Autoritäten sich selbst überleben, wo sie länger andauern, als es sich mit vernünftiger Opposition vereinbaren läßt, da ertönt der Schrei nach der Freiheit der Wissenschaft, und diese Freiheit der Wissenschaft bedeutet nichts anderes, als daß keine Autorität von vornherein sagen soll, dies oder jenes ist absolut richtig oder unrichtig. Alles, was einmal als richtig betrachtet wurde, kann unter veränderten Bedingungen sich als falsch darstellen, und umgekehrt. Das Schädliche der Autoritäten besteht also nicht darin, daß sie in ihrer Meinung eine Zeitlang beharren, sondern das Schädliche tritt nur dann hervor, wenn diese Beharrung über die einzelne Persönlichkeit hinaus eine dauernde wird. Diese Schädlichkeit wird im höchsten Maße seit Jahrtausenden durch religiöse Dogmen ausgeübt. Es wäre unrichtig, zu glauben, daß die ultramontane Kirche darin allein stehe; die Dogmen anderer Religionen verhalten sich in keiner Weise anders, falls sie sich autoritativ geltend zu machen trachten. Nur die ultramontanen Lehren berühren unser geistiges Leben mehr als andere, sie haben eine größere Macht, unser Handeln zu beeinflussen, und sie haben in neuster Zeit praktisch tiefer in unser Leben eingegriffen als irgendwelche anderen. Die Vorgänge an den Universitäten in Bonn, Würzburg, München, Tübingen, Innsbruck sind noch allen so sehr in der Erinnerung, daß nur darauf hingewiesen zu werden braucht, um den Zwang erkennen zu lassen, den diese Dogmen auf die geistige Entwicklung ausüben. Wer in protestantischen Ländern lebt oder in irgendwelchen anderen Gegenden, in denen der Ultramontanismus eine geringe Rolle spielt, an dem gehen alle diese Ereignisse in weiter Ferne vorüber. Man denkt nicht sofort daran, daß sie uns persönlich jemals angehen könnten, hält sie auch wohl für vorübergehend. Die Geschichte hat bisher gezeigt, daß das nicht der Fall ist, und daß alle diese Dinge eine viel größere Gefahr in sich tragen, als man auf den ersten Blick glauben möchte. Jener Optimismus beruht ganz wesentlich auf der Unkenntnis der Bedeutung der ultramontanen Hierarchie und der ungeheuren Macht, die sie dadurch auszuüben imstande ist, daß ihr die größten Agitationsmittel zur Verfügung stehen, ohne dafür auch nur einen Pfennig Geld opfern zu müssen, und zweitens in der seit Jahrhunderten bestehenden Verquickung des Ultramontanismus mit einer bestimmten Religionsrichtung, die ursprünglich gar nichts damit zu tun hatte. Der Ultramontanismus ist nichts anderes als die im Laufe der Geschichte usurpierte weltliche Macht, die sich an bestimmte Persönlichkeiten knüpft. Religion aber wirkt auf eine bestimmte Weltanschauung hin und ist insofern eine Form philosophischer Schulung. Die Macht kann nur bestehen, wenn sie durch diese philosophische Richtung auf die Gemüter einwirkt, und deshalb muß sie das Bestreben haben, diese Philosophie fortgesetzt in der Hand zu behalten und jede Kritik an ihr schon im Keime zu ersticken. Daher kommt es, daß der Ultramontanismus von jeher ein Feind war irgendwelcher

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/358>, abgerufen am 29.06.2024.