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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Gesellschaft, Sitten und Salons unter dein Direktorium

maßnahmen, solchen Zuständen ein Ende zu machen, betrieb man diesen Dieb¬
stahl ganz öffentlich.

Mehr als je handelten Frauen und Mädchen mit ihrer Liebe. Im
Jahre 1790 bereits gab es mehr als tausend öffentliche Mädchen im Palus
Royal. Ihre Zahl vermehrte sich mit den Jahren trotz der strengen Zucht
unter der Revolution zu erschreckender Höhe. Während der Schreckensherrschaft
waren sie wenigstens noch in Schranken gehalten worden, aber seit dem neunten
Thermidor, seit man keine so strenge Aufsicht über sie führte, zeigten sie sich
im höchsten Grade zynisch, herausfordernd und frech. Sie trieben im Garten
des Palais Royal und in den Champs Elysöes mit den dort sich einfindenden
zahlreichen Soldaten die schamloseste Unzucht. Vollkommen nackt ließen sie sich
an den Fenstern sehen und schrien und kreischten, um die Aufmerksamkeit der
Vorübergehenden auf sich zu ziehen. Denn in jener Zeit, wo die Frauen der
höheren Stände nicht mit ihrer Gunst geizten, machten diese Venuspriesterinneu
keine Geschäfte. Leben aber mußten sie. Sie verfielen daher auf allerlei
Schliche. Um sich interessant zu machen und Mitleid zu erregen, gingen sie
zum Beispiel mit gemieteten Kindern spazieren und trugen den Witwenschleier.
Andere wieder rechneten mit dem Geschmack der Unverdorbenen, die ein Ge¬
legenheitsabenteuer bevorzugten. Auch diese unglücklichen Geschöpfe waren
Agioteure. Sie mieteten sich irgend einen Laden, verkauften irgend welche
Dinge, die sie mit dem am Abend vorher erworbenen Geld billig einkauften,
um doppelten Gewinn daraus zu ziehen. Der Käufer, dem der Anblick der
reizenden Verkäuferin den Kopf warm machte, war glücklich, ein "gelegentliches
Liebesabenteuer" erlebt zu haben.

Außer diesen wenig begüterten Hetären fand man im Palais Royal und
den umliegenden Straßen auch die berühmteren Göttinnen der Liebe. In
überspannten Toiletten, mit unechten Brillanten behängen, betörten sie durch
ihre falsche Eleganz die Fremden und ließen sich mit ihnen für einen vorher
vereinbarten Preis überall an den Orten sehen, wo man sich amüsierte.

Großen Anteil an der Zunahme der Unstttlichkeit hatten die Soldaten,
deren Anzahl man um das Jahr 1796 auf 30000 bis 40000 in Paris
schätzte. Sie verließen das Palais Royal fast nie und trieben sich Tag und
Nacht mit den Dirnen in den Cas6s und Restaurants herum. Es wurden
die schrecklichsten Ausschweifungen von Unstttlichkeit und Trunkenheit begangen.
Alle Disziplin war verschwunden. Noch lange nach dem Zapfenstreich hörte
man sie mit den Mädchen gröhlen und Orgien feiern. An allen öffentlichen
Orten, in den Theatern, Konzerten, Cafös usw. ließen sie die verschwenderischsten
Summen aufgehen. Freilich bezahlte der Konvent und später das Direktorium
ihnen hohen Sold, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Im Durchschnitt erhielt
der republikanische Soldat bereits 1795 außer der Beköstigung täglich 5 Frs.

Die Folge von so ungeordneten Zuständen war eine erschreckend große
Zahl Findelkinder. Die Kinder wurden in Hospizen untergebracht, aber


Gesellschaft, Sitten und Salons unter dein Direktorium

maßnahmen, solchen Zuständen ein Ende zu machen, betrieb man diesen Dieb¬
stahl ganz öffentlich.

Mehr als je handelten Frauen und Mädchen mit ihrer Liebe. Im
Jahre 1790 bereits gab es mehr als tausend öffentliche Mädchen im Palus
Royal. Ihre Zahl vermehrte sich mit den Jahren trotz der strengen Zucht
unter der Revolution zu erschreckender Höhe. Während der Schreckensherrschaft
waren sie wenigstens noch in Schranken gehalten worden, aber seit dem neunten
Thermidor, seit man keine so strenge Aufsicht über sie führte, zeigten sie sich
im höchsten Grade zynisch, herausfordernd und frech. Sie trieben im Garten
des Palais Royal und in den Champs Elysöes mit den dort sich einfindenden
zahlreichen Soldaten die schamloseste Unzucht. Vollkommen nackt ließen sie sich
an den Fenstern sehen und schrien und kreischten, um die Aufmerksamkeit der
Vorübergehenden auf sich zu ziehen. Denn in jener Zeit, wo die Frauen der
höheren Stände nicht mit ihrer Gunst geizten, machten diese Venuspriesterinneu
keine Geschäfte. Leben aber mußten sie. Sie verfielen daher auf allerlei
Schliche. Um sich interessant zu machen und Mitleid zu erregen, gingen sie
zum Beispiel mit gemieteten Kindern spazieren und trugen den Witwenschleier.
Andere wieder rechneten mit dem Geschmack der Unverdorbenen, die ein Ge¬
legenheitsabenteuer bevorzugten. Auch diese unglücklichen Geschöpfe waren
Agioteure. Sie mieteten sich irgend einen Laden, verkauften irgend welche
Dinge, die sie mit dem am Abend vorher erworbenen Geld billig einkauften,
um doppelten Gewinn daraus zu ziehen. Der Käufer, dem der Anblick der
reizenden Verkäuferin den Kopf warm machte, war glücklich, ein „gelegentliches
Liebesabenteuer" erlebt zu haben.

Außer diesen wenig begüterten Hetären fand man im Palais Royal und
den umliegenden Straßen auch die berühmteren Göttinnen der Liebe. In
überspannten Toiletten, mit unechten Brillanten behängen, betörten sie durch
ihre falsche Eleganz die Fremden und ließen sich mit ihnen für einen vorher
vereinbarten Preis überall an den Orten sehen, wo man sich amüsierte.

Großen Anteil an der Zunahme der Unstttlichkeit hatten die Soldaten,
deren Anzahl man um das Jahr 1796 auf 30000 bis 40000 in Paris
schätzte. Sie verließen das Palais Royal fast nie und trieben sich Tag und
Nacht mit den Dirnen in den Cas6s und Restaurants herum. Es wurden
die schrecklichsten Ausschweifungen von Unstttlichkeit und Trunkenheit begangen.
Alle Disziplin war verschwunden. Noch lange nach dem Zapfenstreich hörte
man sie mit den Mädchen gröhlen und Orgien feiern. An allen öffentlichen
Orten, in den Theatern, Konzerten, Cafös usw. ließen sie die verschwenderischsten
Summen aufgehen. Freilich bezahlte der Konvent und später das Direktorium
ihnen hohen Sold, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Im Durchschnitt erhielt
der republikanische Soldat bereits 1795 außer der Beköstigung täglich 5 Frs.

Die Folge von so ungeordneten Zuständen war eine erschreckend große
Zahl Findelkinder. Die Kinder wurden in Hospizen untergebracht, aber


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[0330] Gesellschaft, Sitten und Salons unter dein Direktorium maßnahmen, solchen Zuständen ein Ende zu machen, betrieb man diesen Dieb¬ stahl ganz öffentlich. Mehr als je handelten Frauen und Mädchen mit ihrer Liebe. Im Jahre 1790 bereits gab es mehr als tausend öffentliche Mädchen im Palus Royal. Ihre Zahl vermehrte sich mit den Jahren trotz der strengen Zucht unter der Revolution zu erschreckender Höhe. Während der Schreckensherrschaft waren sie wenigstens noch in Schranken gehalten worden, aber seit dem neunten Thermidor, seit man keine so strenge Aufsicht über sie führte, zeigten sie sich im höchsten Grade zynisch, herausfordernd und frech. Sie trieben im Garten des Palais Royal und in den Champs Elysöes mit den dort sich einfindenden zahlreichen Soldaten die schamloseste Unzucht. Vollkommen nackt ließen sie sich an den Fenstern sehen und schrien und kreischten, um die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich zu ziehen. Denn in jener Zeit, wo die Frauen der höheren Stände nicht mit ihrer Gunst geizten, machten diese Venuspriesterinneu keine Geschäfte. Leben aber mußten sie. Sie verfielen daher auf allerlei Schliche. Um sich interessant zu machen und Mitleid zu erregen, gingen sie zum Beispiel mit gemieteten Kindern spazieren und trugen den Witwenschleier. Andere wieder rechneten mit dem Geschmack der Unverdorbenen, die ein Ge¬ legenheitsabenteuer bevorzugten. Auch diese unglücklichen Geschöpfe waren Agioteure. Sie mieteten sich irgend einen Laden, verkauften irgend welche Dinge, die sie mit dem am Abend vorher erworbenen Geld billig einkauften, um doppelten Gewinn daraus zu ziehen. Der Käufer, dem der Anblick der reizenden Verkäuferin den Kopf warm machte, war glücklich, ein „gelegentliches Liebesabenteuer" erlebt zu haben. Außer diesen wenig begüterten Hetären fand man im Palais Royal und den umliegenden Straßen auch die berühmteren Göttinnen der Liebe. In überspannten Toiletten, mit unechten Brillanten behängen, betörten sie durch ihre falsche Eleganz die Fremden und ließen sich mit ihnen für einen vorher vereinbarten Preis überall an den Orten sehen, wo man sich amüsierte. Großen Anteil an der Zunahme der Unstttlichkeit hatten die Soldaten, deren Anzahl man um das Jahr 1796 auf 30000 bis 40000 in Paris schätzte. Sie verließen das Palais Royal fast nie und trieben sich Tag und Nacht mit den Dirnen in den Cas6s und Restaurants herum. Es wurden die schrecklichsten Ausschweifungen von Unstttlichkeit und Trunkenheit begangen. Alle Disziplin war verschwunden. Noch lange nach dem Zapfenstreich hörte man sie mit den Mädchen gröhlen und Orgien feiern. An allen öffentlichen Orten, in den Theatern, Konzerten, Cafös usw. ließen sie die verschwenderischsten Summen aufgehen. Freilich bezahlte der Konvent und später das Direktorium ihnen hohen Sold, um sie auf ihre Seite zu ziehen. Im Durchschnitt erhielt der republikanische Soldat bereits 1795 außer der Beköstigung täglich 5 Frs. Die Folge von so ungeordneten Zuständen war eine erschreckend große Zahl Findelkinder. Die Kinder wurden in Hospizen untergebracht, aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/330>, abgerufen am 29.06.2024.