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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Die deutsche Theologie und die "Lhristusmythe"

nicht ohne weiteres rauben lassen." So sieht der Monist die Tendenz der
Drewsschen Vorträge an; darf man es den Christen übelnehmen, wenn sie
denselben Eindruck haben? Ihre Religion soll getroffen werden! Daher die
öffentlichen Protestversammlungen. Niemand anders aber hat sie veranlaßt, niemand
anders hat eine an sich geschichtswisseuschaftlicheFrage zu einer religiösen gemacht als
Professor Drews! Das ist der Tatbestand; und wenn Professor Böthlingk diesen
Verlauf der Dinge bedauert, so möge er die Schuld nicht den Theologen zu¬
schieben. Drews allein ist für ihn verantwortlich. Die Theologen haben
vielmehr alles getan, um der Frage ihren geschichtswissenschaftlichen Charakter
zu geben. Dafür ist die Schrift v. Sodens Beweis genug. Die Berliner
Massenversammlungen sind von den "Theologen" nicht inszeniert morden, was
Professor Böthlingk nicht unbekannt sein wird. Wenn Theologen in den
Volksversammlungen auftraten, um gegen Professor Drews zu sprechen, so
mußte ihr Auftreten genau wie das von Drews neben der geschichtswissenschaft¬
lichen auch die religiöse Tendenz hervortreten lassen. Wären sie den Volks¬
versammlungen, zu denen sie nieist eingeladen waren, fern geblieben, so
hätten sie sich dem Vorwurf der Unsicherheit, ja Feigheit ausgesetzt. So wie
die Dinge jetzt liegen, halten wir allerdings den Beschluß der Pastoren des
Bremer Protestantenvereins, von den Drewsschen Versammlungen wegzubleiben,
für sehr richtig, da "die Frage, ob Jesus gelebt habe, als solche keine religiöse,
sondern eine historisch-wissenschaftliche ist". Das Forum für die Behandlung
solcher Fragen "ist aber unter keinen Umständen die Volksversammlung, sondern,
wie das unter ernsten geistigen Arbeitern selbstverständlich sein sollte: die Fach¬
kritik, die historische Wissenschaft, der Gelehrtenkongreß". DieseSelbstverständlichkeit
haben nicht die Theologen, sondern Professor Drews außer acht gelassen.

Um eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Argumentationen
Böthlingks kann es sich in diesem Zusammenhang nicht handeln; es ist ja zudem von
berufener Seite alles gesagt, was gesagt werden kann, ohne daß es auf Böthlingk
Eindruck gemacht hätte. Sogar einem Manne wie Holtzmann, den auch Böthlingk
als Autorität anerkennt, ist das nicht gelungen. Vielleicht aber ist es von
Interesse, die Meinung Böthlingks zu erfahren. "Ob es einen Jesus von Nazareth
gegeben hat oder nicht, -- wir haben ihn jedenfalls nicht! Wogegen Paulus
da ist! Vermögen wir auch seine Theologie nicht zu akzeptieren, so ist doch sein
Gottesglaube von so urwüchsiger, zündender Gewalt, daß er auch heute noch
von dem Buchstabenglauben und der Kirchenknechtschaft von Grund aus zu
erlösen vermag . . . Paulus ... ist ein Protestant im Sinn unbedingter Geistes¬
und Gewissensfreiheit, ein siegreicher Verkündiger der Gotteskindschaft im Sinne
unbedingtester Selbstbestimmung und religiöser Freiheit." -- So anerkennend
haben die christlichen Theologen nicht immer den Apostel Paulus beurteilt.
Viele meinten, er hätte das einfache Evangelium Jesu von der Gotteskindschaft
und der mit ihr gegebenen Freiheit der Gotteskinder zu sehr mit seinem vom
Judentum übernommenen dogmatischen Denken verknüpft; er sei der eigentliche


Die deutsche Theologie und die „Lhristusmythe"

nicht ohne weiteres rauben lassen." So sieht der Monist die Tendenz der
Drewsschen Vorträge an; darf man es den Christen übelnehmen, wenn sie
denselben Eindruck haben? Ihre Religion soll getroffen werden! Daher die
öffentlichen Protestversammlungen. Niemand anders aber hat sie veranlaßt, niemand
anders hat eine an sich geschichtswisseuschaftlicheFrage zu einer religiösen gemacht als
Professor Drews! Das ist der Tatbestand; und wenn Professor Böthlingk diesen
Verlauf der Dinge bedauert, so möge er die Schuld nicht den Theologen zu¬
schieben. Drews allein ist für ihn verantwortlich. Die Theologen haben
vielmehr alles getan, um der Frage ihren geschichtswissenschaftlichen Charakter
zu geben. Dafür ist die Schrift v. Sodens Beweis genug. Die Berliner
Massenversammlungen sind von den „Theologen" nicht inszeniert morden, was
Professor Böthlingk nicht unbekannt sein wird. Wenn Theologen in den
Volksversammlungen auftraten, um gegen Professor Drews zu sprechen, so
mußte ihr Auftreten genau wie das von Drews neben der geschichtswissenschaft¬
lichen auch die religiöse Tendenz hervortreten lassen. Wären sie den Volks¬
versammlungen, zu denen sie nieist eingeladen waren, fern geblieben, so
hätten sie sich dem Vorwurf der Unsicherheit, ja Feigheit ausgesetzt. So wie
die Dinge jetzt liegen, halten wir allerdings den Beschluß der Pastoren des
Bremer Protestantenvereins, von den Drewsschen Versammlungen wegzubleiben,
für sehr richtig, da „die Frage, ob Jesus gelebt habe, als solche keine religiöse,
sondern eine historisch-wissenschaftliche ist". Das Forum für die Behandlung
solcher Fragen „ist aber unter keinen Umständen die Volksversammlung, sondern,
wie das unter ernsten geistigen Arbeitern selbstverständlich sein sollte: die Fach¬
kritik, die historische Wissenschaft, der Gelehrtenkongreß". DieseSelbstverständlichkeit
haben nicht die Theologen, sondern Professor Drews außer acht gelassen.

Um eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Argumentationen
Böthlingks kann es sich in diesem Zusammenhang nicht handeln; es ist ja zudem von
berufener Seite alles gesagt, was gesagt werden kann, ohne daß es auf Böthlingk
Eindruck gemacht hätte. Sogar einem Manne wie Holtzmann, den auch Böthlingk
als Autorität anerkennt, ist das nicht gelungen. Vielleicht aber ist es von
Interesse, die Meinung Böthlingks zu erfahren. „Ob es einen Jesus von Nazareth
gegeben hat oder nicht, — wir haben ihn jedenfalls nicht! Wogegen Paulus
da ist! Vermögen wir auch seine Theologie nicht zu akzeptieren, so ist doch sein
Gottesglaube von so urwüchsiger, zündender Gewalt, daß er auch heute noch
von dem Buchstabenglauben und der Kirchenknechtschaft von Grund aus zu
erlösen vermag . . . Paulus ... ist ein Protestant im Sinn unbedingter Geistes¬
und Gewissensfreiheit, ein siegreicher Verkündiger der Gotteskindschaft im Sinne
unbedingtester Selbstbestimmung und religiöser Freiheit." — So anerkennend
haben die christlichen Theologen nicht immer den Apostel Paulus beurteilt.
Viele meinten, er hätte das einfache Evangelium Jesu von der Gotteskindschaft
und der mit ihr gegebenen Freiheit der Gotteskinder zu sehr mit seinem vom
Judentum übernommenen dogmatischen Denken verknüpft; er sei der eigentliche


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[0276] Die deutsche Theologie und die „Lhristusmythe" nicht ohne weiteres rauben lassen." So sieht der Monist die Tendenz der Drewsschen Vorträge an; darf man es den Christen übelnehmen, wenn sie denselben Eindruck haben? Ihre Religion soll getroffen werden! Daher die öffentlichen Protestversammlungen. Niemand anders aber hat sie veranlaßt, niemand anders hat eine an sich geschichtswisseuschaftlicheFrage zu einer religiösen gemacht als Professor Drews! Das ist der Tatbestand; und wenn Professor Böthlingk diesen Verlauf der Dinge bedauert, so möge er die Schuld nicht den Theologen zu¬ schieben. Drews allein ist für ihn verantwortlich. Die Theologen haben vielmehr alles getan, um der Frage ihren geschichtswissenschaftlichen Charakter zu geben. Dafür ist die Schrift v. Sodens Beweis genug. Die Berliner Massenversammlungen sind von den „Theologen" nicht inszeniert morden, was Professor Böthlingk nicht unbekannt sein wird. Wenn Theologen in den Volksversammlungen auftraten, um gegen Professor Drews zu sprechen, so mußte ihr Auftreten genau wie das von Drews neben der geschichtswissenschaft¬ lichen auch die religiöse Tendenz hervortreten lassen. Wären sie den Volks¬ versammlungen, zu denen sie nieist eingeladen waren, fern geblieben, so hätten sie sich dem Vorwurf der Unsicherheit, ja Feigheit ausgesetzt. So wie die Dinge jetzt liegen, halten wir allerdings den Beschluß der Pastoren des Bremer Protestantenvereins, von den Drewsschen Versammlungen wegzubleiben, für sehr richtig, da „die Frage, ob Jesus gelebt habe, als solche keine religiöse, sondern eine historisch-wissenschaftliche ist". Das Forum für die Behandlung solcher Fragen „ist aber unter keinen Umständen die Volksversammlung, sondern, wie das unter ernsten geistigen Arbeitern selbstverständlich sein sollte: die Fach¬ kritik, die historische Wissenschaft, der Gelehrtenkongreß". DieseSelbstverständlichkeit haben nicht die Theologen, sondern Professor Drews außer acht gelassen. Um eine Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Argumentationen Böthlingks kann es sich in diesem Zusammenhang nicht handeln; es ist ja zudem von berufener Seite alles gesagt, was gesagt werden kann, ohne daß es auf Böthlingk Eindruck gemacht hätte. Sogar einem Manne wie Holtzmann, den auch Böthlingk als Autorität anerkennt, ist das nicht gelungen. Vielleicht aber ist es von Interesse, die Meinung Böthlingks zu erfahren. „Ob es einen Jesus von Nazareth gegeben hat oder nicht, — wir haben ihn jedenfalls nicht! Wogegen Paulus da ist! Vermögen wir auch seine Theologie nicht zu akzeptieren, so ist doch sein Gottesglaube von so urwüchsiger, zündender Gewalt, daß er auch heute noch von dem Buchstabenglauben und der Kirchenknechtschaft von Grund aus zu erlösen vermag . . . Paulus ... ist ein Protestant im Sinn unbedingter Geistes¬ und Gewissensfreiheit, ein siegreicher Verkündiger der Gotteskindschaft im Sinne unbedingtester Selbstbestimmung und religiöser Freiheit." — So anerkennend haben die christlichen Theologen nicht immer den Apostel Paulus beurteilt. Viele meinten, er hätte das einfache Evangelium Jesu von der Gotteskindschaft und der mit ihr gegebenen Freiheit der Gotteskinder zu sehr mit seinem vom Judentum übernommenen dogmatischen Denken verknüpft; er sei der eigentliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/276>, abgerufen am 26.06.2024.