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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr.

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Das Kulturxroblem und die Religion

Wort "Kultur" als die neue Parole allenthalben zur Geltung sich durchringt.
Denn das bedeutet, und kann da, wo wirklicher Ernst ist, nur bedeuten: Wir
wollen aus dem Weltanschauen hinein in die Weltarbeit, wollen aus den Himmeln
herunter auf die Erde, wollen aus dem ästhetisch-intellektuellen Spiel mit dem
All heraus und hinein in den Einzelernst der uns allenthalben umfassenden,
bedrängenden und ach, so unzulänglichen Wirklichkeit, in der wir stecken, und
in die wir nicht ohne eigene Schuld geraten sind.

Wir hatten das Weltall denkend und schauend erobern wollen, und nun
gehen uns die Augen über uns selber auf, und wir bemerken mit Schrecken,
daß wir noch nicht einmal uns selber erobert und gar kein geordnetes und
lebensfähiges Verhältnis zu uns selbst und zu den allernächsten Sachen, Tapeten,
Kleidern, Schuhen, Bildern und Häusern haben, die wir mit unserem eigenen
Geist und unseren eigenen Händen rings um uns aufgebaut.

Wir hatten das All zur Einheit im Denken und Schauen zusammenhauen
wollen, und nun entdecken wir am Ende, daß wir selber noch ein Zufallsbündel
von auseinander strebenden Trieben und Tätigkeiten ohne alle starke und seelisch-
persönliche Lebenseinheit sind. Und wie soll aus dem Grunde eines ungeordneten
seelischen Durcheinanders ein einheitlich beseeltes Reich der Sachen wachsen
können?

Wir hatten also eine Generalabrechnung mit dem All vornehmen wollen,
und der Geist des Alls öffnet uns nun zum Schlußergebnis, kraft seiner Güte
und Weisheit, die Augen für das Defizit in uns selbst. "Denn was hülfe es
dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst?"

Diese Selbsterkenntnis ist nicht gerade angenehm, aber sie ist heilsam und
eine Verheißung neuer Zukunft. Es muß der Mensch von neuem geboren werden,
wenn eine Neugeburt der Kultur sich ereignen soll.

2.

Und nun ist es doch wirklich mit Händen zu greifen, wie uns das Alte
und Bisherige nicht mehr genügt. Die Begeisterung und der Selbstruhm, die
wir noch bis vor kurzen: gegenüber unserer gewaltigen wissenschaftlich-technischen,
maschinellen und industriellen Entwicklung hatten, beginnt merklich abzuflauen
und schlägt hier und da sogar in einen trüben Pessimismus um. Durchaus
nicht nur bei Leuten, wie Rosegger, der in seinem "Ewigen Licht" nichts als
Volksuntergang von feiten dieser Entwicklung kommen sieht. Ja, wenn es sich
bei diesem herben Urteil über unsere bisherige, vielgepriesene "Kultur" nur uni
bäuerlich bedingte Auffassungen und nur um die Meinung von Pfarrern,
Moralisten und sonstigen Hütern und Liebhabern des Patriarchalischen handelte!
Aber das ist durchaus nicht der Fall. Das Mißbehagen über unsere eben noch
so angestaunten technischen Leistungen ergreift viel weitere Kreise, und ganz
modern empfindende Geister sind fast geneigt, ihren Kulturwert radikal zu
verneinen.


Das Kulturxroblem und die Religion

Wort „Kultur" als die neue Parole allenthalben zur Geltung sich durchringt.
Denn das bedeutet, und kann da, wo wirklicher Ernst ist, nur bedeuten: Wir
wollen aus dem Weltanschauen hinein in die Weltarbeit, wollen aus den Himmeln
herunter auf die Erde, wollen aus dem ästhetisch-intellektuellen Spiel mit dem
All heraus und hinein in den Einzelernst der uns allenthalben umfassenden,
bedrängenden und ach, so unzulänglichen Wirklichkeit, in der wir stecken, und
in die wir nicht ohne eigene Schuld geraten sind.

Wir hatten das Weltall denkend und schauend erobern wollen, und nun
gehen uns die Augen über uns selber auf, und wir bemerken mit Schrecken,
daß wir noch nicht einmal uns selber erobert und gar kein geordnetes und
lebensfähiges Verhältnis zu uns selbst und zu den allernächsten Sachen, Tapeten,
Kleidern, Schuhen, Bildern und Häusern haben, die wir mit unserem eigenen
Geist und unseren eigenen Händen rings um uns aufgebaut.

Wir hatten das All zur Einheit im Denken und Schauen zusammenhauen
wollen, und nun entdecken wir am Ende, daß wir selber noch ein Zufallsbündel
von auseinander strebenden Trieben und Tätigkeiten ohne alle starke und seelisch-
persönliche Lebenseinheit sind. Und wie soll aus dem Grunde eines ungeordneten
seelischen Durcheinanders ein einheitlich beseeltes Reich der Sachen wachsen
können?

Wir hatten also eine Generalabrechnung mit dem All vornehmen wollen,
und der Geist des Alls öffnet uns nun zum Schlußergebnis, kraft seiner Güte
und Weisheit, die Augen für das Defizit in uns selbst. „Denn was hülfe es
dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst?"

Diese Selbsterkenntnis ist nicht gerade angenehm, aber sie ist heilsam und
eine Verheißung neuer Zukunft. Es muß der Mensch von neuem geboren werden,
wenn eine Neugeburt der Kultur sich ereignen soll.

2.

Und nun ist es doch wirklich mit Händen zu greifen, wie uns das Alte
und Bisherige nicht mehr genügt. Die Begeisterung und der Selbstruhm, die
wir noch bis vor kurzen: gegenüber unserer gewaltigen wissenschaftlich-technischen,
maschinellen und industriellen Entwicklung hatten, beginnt merklich abzuflauen
und schlägt hier und da sogar in einen trüben Pessimismus um. Durchaus
nicht nur bei Leuten, wie Rosegger, der in seinem „Ewigen Licht" nichts als
Volksuntergang von feiten dieser Entwicklung kommen sieht. Ja, wenn es sich
bei diesem herben Urteil über unsere bisherige, vielgepriesene „Kultur" nur uni
bäuerlich bedingte Auffassungen und nur um die Meinung von Pfarrern,
Moralisten und sonstigen Hütern und Liebhabern des Patriarchalischen handelte!
Aber das ist durchaus nicht der Fall. Das Mißbehagen über unsere eben noch
so angestaunten technischen Leistungen ergreift viel weitere Kreise, und ganz
modern empfindende Geister sind fast geneigt, ihren Kulturwert radikal zu
verneinen.


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[0164] Das Kulturxroblem und die Religion Wort „Kultur" als die neue Parole allenthalben zur Geltung sich durchringt. Denn das bedeutet, und kann da, wo wirklicher Ernst ist, nur bedeuten: Wir wollen aus dem Weltanschauen hinein in die Weltarbeit, wollen aus den Himmeln herunter auf die Erde, wollen aus dem ästhetisch-intellektuellen Spiel mit dem All heraus und hinein in den Einzelernst der uns allenthalben umfassenden, bedrängenden und ach, so unzulänglichen Wirklichkeit, in der wir stecken, und in die wir nicht ohne eigene Schuld geraten sind. Wir hatten das Weltall denkend und schauend erobern wollen, und nun gehen uns die Augen über uns selber auf, und wir bemerken mit Schrecken, daß wir noch nicht einmal uns selber erobert und gar kein geordnetes und lebensfähiges Verhältnis zu uns selbst und zu den allernächsten Sachen, Tapeten, Kleidern, Schuhen, Bildern und Häusern haben, die wir mit unserem eigenen Geist und unseren eigenen Händen rings um uns aufgebaut. Wir hatten das All zur Einheit im Denken und Schauen zusammenhauen wollen, und nun entdecken wir am Ende, daß wir selber noch ein Zufallsbündel von auseinander strebenden Trieben und Tätigkeiten ohne alle starke und seelisch- persönliche Lebenseinheit sind. Und wie soll aus dem Grunde eines ungeordneten seelischen Durcheinanders ein einheitlich beseeltes Reich der Sachen wachsen können? Wir hatten also eine Generalabrechnung mit dem All vornehmen wollen, und der Geist des Alls öffnet uns nun zum Schlußergebnis, kraft seiner Güte und Weisheit, die Augen für das Defizit in uns selbst. „Denn was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und verlöre sich selbst?" Diese Selbsterkenntnis ist nicht gerade angenehm, aber sie ist heilsam und eine Verheißung neuer Zukunft. Es muß der Mensch von neuem geboren werden, wenn eine Neugeburt der Kultur sich ereignen soll. 2. Und nun ist es doch wirklich mit Händen zu greifen, wie uns das Alte und Bisherige nicht mehr genügt. Die Begeisterung und der Selbstruhm, die wir noch bis vor kurzen: gegenüber unserer gewaltigen wissenschaftlich-technischen, maschinellen und industriellen Entwicklung hatten, beginnt merklich abzuflauen und schlägt hier und da sogar in einen trüben Pessimismus um. Durchaus nicht nur bei Leuten, wie Rosegger, der in seinem „Ewigen Licht" nichts als Volksuntergang von feiten dieser Entwicklung kommen sieht. Ja, wenn es sich bei diesem herben Urteil über unsere bisherige, vielgepriesene „Kultur" nur uni bäuerlich bedingte Auffassungen und nur um die Meinung von Pfarrern, Moralisten und sonstigen Hütern und Liebhabern des Patriarchalischen handelte! Aber das ist durchaus nicht der Fall. Das Mißbehagen über unsere eben noch so angestaunten technischen Leistungen ergreift viel weitere Kreise, und ganz modern empfindende Geister sind fast geneigt, ihren Kulturwert radikal zu verneinen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_315638/164>, abgerufen am 29.06.2024.