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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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hessischer Brief

was möglich und zu erreichen ist; wir mögen lernen, daß eine bescheidene Tat¬
sache immer noch besser ist als eine hoffärtige Phrase, und daß der Lehrer
wohl sein Körnlein pflanzen und begießen, nicht aber auch uoch den Sonnen¬
schein und Regen dazu machen kann.




Hessischer Brief

as kleine Hessen-Darmstadt mit seinen fünfviertel Millionen Ein¬
wohnern hat in den letzten Jahren wiederholt das allgemeine
politische Interesse erregt. Verschiedene Gründe sprechen hier
mit. Das Land hat einen jungen kunstsinnigen Fürsten, der aus
Erziehung, Neigung und Abstammung nach britischen Vorbilde
zu regieren bestrebt ist. Er läßt seinen Ministern freie Hand, und
als in anderen diese arbeiten streng konstitutionell. Die Folge ist, daß wir in Hessen
mehr deutschen Staaten ein parlamentarisches Regime haben. Ein freies Wahlrecht
unterstützt diese Sachlage. Die Zweite Kammer beherrscht in allen ihren Teilen
ein demokratischer Zug, womit aber nicht gesagt werden soll, daß die Volks¬
vertretung etwa liberal im landläufigen Sinne sei. Die stärksten Parteien sind
die Nationalliberalen und der Hessische Bauernbund. Beide sind mehr
oder minder agrarisch-mittelstandsfreundlich. An zweiter Stelle stehen die
Sozialdemokratie und das Zentrum. Erstere verrät revisionistische Neigungen;
sie ist verwandt mit der Süddeutschen Volkspartei. Der Ton ihrer Vertreter
ist freilich ein ausgesprochen demagogischer. Sie tun sich auf ihre Preußen¬
feindlichkeit etwas zugute, ohne daß man sie partikularistisch nennen könnte.
Das Zentrum wird, ebenso wie die kleine freisinnige Fraktion, von geschickten
Advokaten beherrscht. Da aber nirgends kulturkämpferische Neigungen vor¬
handen sind, und die Nationalliberalen die rechte Seite des Hauses verkörpern,
so wird es den hessischen Klerikalen ermöglicht, sich als wirkliche Mittelpartei zu
fühlen. Auch das Zentrum geht in wirtschaftspolitischen Dingen meist mit den
Agrariern, vernachlässigt aber nicht die städtischen Interessen und tritt für eine
kräftige Sozialpolitik ein. Überhaupt ist für eine fortschrittliche Sozialpolitik bei
allen Parteien, auch bei deu Freisinnigen, Sinn vorhanden. Dieser Grundstimmung
verdankt man u. a. die berühmte hessische Wohnungsgesetzgebung und Wohnungs-
sürsorge, die sich freilich auf dem Papier erheblich besser ausnehmen als in
Wirklichkeit. Eine eigentümliche Rolle spielen die paar Freisinnigen, jetzt
vier Köpfe stark. Sie sind eigentlich gouvernemental, denn auch die Regierung ist
liberal, freilich mit einem starken Zusatz von Bureankratismus. Die Freisinnigen
ließen es sich namentlich angelegen sein, den Finanzminister Dr. Graues zu stützen;
denn Graues wurde eine demokratische Vergangenheit nachgesagt. Württemberger
von Geburt und in seinem ganzen Wesen Schwabe, war dieser Staatsmann
vom Techniker in einer ganz ungewöhnlichen Karriere zum Minister empor¬
gestiegen. Seine Schulung als Verwaltungsbeamter und Finanzmann hat er
lediglich als Oberbürgermeister der Provinzial- und Universitätsstadt Gießen


hessischer Brief

was möglich und zu erreichen ist; wir mögen lernen, daß eine bescheidene Tat¬
sache immer noch besser ist als eine hoffärtige Phrase, und daß der Lehrer
wohl sein Körnlein pflanzen und begießen, nicht aber auch uoch den Sonnen¬
schein und Regen dazu machen kann.




Hessischer Brief

as kleine Hessen-Darmstadt mit seinen fünfviertel Millionen Ein¬
wohnern hat in den letzten Jahren wiederholt das allgemeine
politische Interesse erregt. Verschiedene Gründe sprechen hier
mit. Das Land hat einen jungen kunstsinnigen Fürsten, der aus
Erziehung, Neigung und Abstammung nach britischen Vorbilde
zu regieren bestrebt ist. Er läßt seinen Ministern freie Hand, und
als in anderen diese arbeiten streng konstitutionell. Die Folge ist, daß wir in Hessen
mehr deutschen Staaten ein parlamentarisches Regime haben. Ein freies Wahlrecht
unterstützt diese Sachlage. Die Zweite Kammer beherrscht in allen ihren Teilen
ein demokratischer Zug, womit aber nicht gesagt werden soll, daß die Volks¬
vertretung etwa liberal im landläufigen Sinne sei. Die stärksten Parteien sind
die Nationalliberalen und der Hessische Bauernbund. Beide sind mehr
oder minder agrarisch-mittelstandsfreundlich. An zweiter Stelle stehen die
Sozialdemokratie und das Zentrum. Erstere verrät revisionistische Neigungen;
sie ist verwandt mit der Süddeutschen Volkspartei. Der Ton ihrer Vertreter
ist freilich ein ausgesprochen demagogischer. Sie tun sich auf ihre Preußen¬
feindlichkeit etwas zugute, ohne daß man sie partikularistisch nennen könnte.
Das Zentrum wird, ebenso wie die kleine freisinnige Fraktion, von geschickten
Advokaten beherrscht. Da aber nirgends kulturkämpferische Neigungen vor¬
handen sind, und die Nationalliberalen die rechte Seite des Hauses verkörpern,
so wird es den hessischen Klerikalen ermöglicht, sich als wirkliche Mittelpartei zu
fühlen. Auch das Zentrum geht in wirtschaftspolitischen Dingen meist mit den
Agrariern, vernachlässigt aber nicht die städtischen Interessen und tritt für eine
kräftige Sozialpolitik ein. Überhaupt ist für eine fortschrittliche Sozialpolitik bei
allen Parteien, auch bei deu Freisinnigen, Sinn vorhanden. Dieser Grundstimmung
verdankt man u. a. die berühmte hessische Wohnungsgesetzgebung und Wohnungs-
sürsorge, die sich freilich auf dem Papier erheblich besser ausnehmen als in
Wirklichkeit. Eine eigentümliche Rolle spielen die paar Freisinnigen, jetzt
vier Köpfe stark. Sie sind eigentlich gouvernemental, denn auch die Regierung ist
liberal, freilich mit einem starken Zusatz von Bureankratismus. Die Freisinnigen
ließen es sich namentlich angelegen sein, den Finanzminister Dr. Graues zu stützen;
denn Graues wurde eine demokratische Vergangenheit nachgesagt. Württemberger
von Geburt und in seinem ganzen Wesen Schwabe, war dieser Staatsmann
vom Techniker in einer ganz ungewöhnlichen Karriere zum Minister empor¬
gestiegen. Seine Schulung als Verwaltungsbeamter und Finanzmann hat er
lediglich als Oberbürgermeister der Provinzial- und Universitätsstadt Gießen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/620>, abgerufen am 21.12.2024.