Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Praktischer Patriotismus

Die Wirkung dieser Ewart-Bell war, daß um das Jahr 1900 etnhundert-
sechzig Gemeinden mit zusammen etwa 10^ Millionen Einwohnern mehr als
vier Millionen Mark für Volksbibliotheken aufbrachten, und daß die englischen
Städte zurzeit jährlich insgesamt sechzehn Millionen für ihre freien öffentlichen
Bibliotheken ausgeben.

Neben England steht in der Volksbtldungsbewegung Amerika an erster
Stelle. Zur Ausgestaltung der New-Aorker Zweigbtbliotheken stiftete im
Jahre 1901 Carnegie 6 200 000 Dollars und in den Jahren 1900 und 1901
hat dieser große Volksfreund zusammen 12 769 700 Dollars zu Bildungs¬
zwecken verteilt. Nur solche Opferfreudigkeit konnte es zuwege bringen, daß es
im Jahre 1903 in Amerika 6869 Bibliotheken mit einer Gesamtzahl von etwa
fünfundfünfzig Millionen Büchern gab.

Noch mehr aber als die Bibliotheksbewegung verdient die von England und
Amerika in den Jahren 1870/73 ausgegangene Univsr8lex öxten8ion
movement (die Hochschulausbreitung) gerühmt zu werden. Sie hat durch
Veranstaltung wissenschaftlich-volkstümlicher Kurse große Erfolge erzielt. Bereits
im Jahre 1890 konnte man in Philadelphia mit vierzig Kursen und fünfzigtausend
Hörern beginnen und in den Jahren 1890/91 wurden von Oxford aus einhunderr-
zweiundneunztg Vorlesungen mit über zwanzigtausend Teilnehmern abgehalten.
Ein annähernd gleiches Ergebnis hatten die Universitäten von Cambridge und
London erreicht. Die Wiener Universität hat sich dieser Bewegung im Jahre 1896
mit 6172 Hörern angeschlossen. In Deutschland sind gleiche Bestrebungen erst in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgreich in Fluß geraten,
auch nicht in dem Umfange wie in Amerika und England. Zu nennen sind der
Rhein-Matnische Verband für Volksvorlesungen, die Münchner Volks¬
bildungsvereine, die Gesellschaft zur Verbrettung von Volksbildung
und die Comenius-Gesellschaft. Sie suchen ihrer Aufgabe durch Einzelvorträge
und Unterrtchtskurse gerecht zu werden. Nach dem Muster der Jenaer Universität
sind außerdem an den deutschen Universitäten Volkshochschulkurse ins Leben
gerufen worden, 1896 in München, 1897 in Leipzig und 1898 in Berlin.
Schließlich ist neuerdings die Einführung des staatsbürgerlichen Unterrichts in
den Lehrplan der Schulen und ein wetterer Ausbau des Fortbildungsschul¬
wesens in die Wege geleitet worden.

Die Volksbildungstätigkeit in Deutschland trägt drei Merkmale. Entweder
richtet sie sich lediglich auf die untersten Schichten der Bevölkerung oder erschöpft
sich in schulmä'ßtger Ausbildung jugendlicher Personen oder ist eine für die
Allgemeinheit bestimmte außerschulmäßtge Unterrichtstättgkeit unter dem Zeichen
irgendeiner Partei. So notwendig das Erste und das Zweite, so entbehrlich
ist unter gewissen Verhältnissen das Dritte. Man wird dem vielleicht entgegen
halten, daß jegliche Aufklärungstätigkeit, die sich auf das öffentliche Leben
bezieht, einer Parteifärbung bedarf, wenn sie nicht eine die Gegensätze zu
Unrecht verwischende laue Bewegung bleiben soll. Dieser Einwand verliert


Praktischer Patriotismus

Die Wirkung dieser Ewart-Bell war, daß um das Jahr 1900 etnhundert-
sechzig Gemeinden mit zusammen etwa 10^ Millionen Einwohnern mehr als
vier Millionen Mark für Volksbibliotheken aufbrachten, und daß die englischen
Städte zurzeit jährlich insgesamt sechzehn Millionen für ihre freien öffentlichen
Bibliotheken ausgeben.

Neben England steht in der Volksbtldungsbewegung Amerika an erster
Stelle. Zur Ausgestaltung der New-Aorker Zweigbtbliotheken stiftete im
Jahre 1901 Carnegie 6 200 000 Dollars und in den Jahren 1900 und 1901
hat dieser große Volksfreund zusammen 12 769 700 Dollars zu Bildungs¬
zwecken verteilt. Nur solche Opferfreudigkeit konnte es zuwege bringen, daß es
im Jahre 1903 in Amerika 6869 Bibliotheken mit einer Gesamtzahl von etwa
fünfundfünfzig Millionen Büchern gab.

Noch mehr aber als die Bibliotheksbewegung verdient die von England und
Amerika in den Jahren 1870/73 ausgegangene Univsr8lex öxten8ion
movement (die Hochschulausbreitung) gerühmt zu werden. Sie hat durch
Veranstaltung wissenschaftlich-volkstümlicher Kurse große Erfolge erzielt. Bereits
im Jahre 1890 konnte man in Philadelphia mit vierzig Kursen und fünfzigtausend
Hörern beginnen und in den Jahren 1890/91 wurden von Oxford aus einhunderr-
zweiundneunztg Vorlesungen mit über zwanzigtausend Teilnehmern abgehalten.
Ein annähernd gleiches Ergebnis hatten die Universitäten von Cambridge und
London erreicht. Die Wiener Universität hat sich dieser Bewegung im Jahre 1896
mit 6172 Hörern angeschlossen. In Deutschland sind gleiche Bestrebungen erst in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgreich in Fluß geraten,
auch nicht in dem Umfange wie in Amerika und England. Zu nennen sind der
Rhein-Matnische Verband für Volksvorlesungen, die Münchner Volks¬
bildungsvereine, die Gesellschaft zur Verbrettung von Volksbildung
und die Comenius-Gesellschaft. Sie suchen ihrer Aufgabe durch Einzelvorträge
und Unterrtchtskurse gerecht zu werden. Nach dem Muster der Jenaer Universität
sind außerdem an den deutschen Universitäten Volkshochschulkurse ins Leben
gerufen worden, 1896 in München, 1897 in Leipzig und 1898 in Berlin.
Schließlich ist neuerdings die Einführung des staatsbürgerlichen Unterrichts in
den Lehrplan der Schulen und ein wetterer Ausbau des Fortbildungsschul¬
wesens in die Wege geleitet worden.

Die Volksbildungstätigkeit in Deutschland trägt drei Merkmale. Entweder
richtet sie sich lediglich auf die untersten Schichten der Bevölkerung oder erschöpft
sich in schulmä'ßtger Ausbildung jugendlicher Personen oder ist eine für die
Allgemeinheit bestimmte außerschulmäßtge Unterrichtstättgkeit unter dem Zeichen
irgendeiner Partei. So notwendig das Erste und das Zweite, so entbehrlich
ist unter gewissen Verhältnissen das Dritte. Man wird dem vielleicht entgegen
halten, daß jegliche Aufklärungstätigkeit, die sich auf das öffentliche Leben
bezieht, einer Parteifärbung bedarf, wenn sie nicht eine die Gegensätze zu
Unrecht verwischende laue Bewegung bleiben soll. Dieser Einwand verliert


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0062" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315059"/>
          <fw type="header" place="top"> Praktischer Patriotismus</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_164" prev="#ID_163"> Die Wirkung dieser Ewart-Bell war, daß um das Jahr 1900 etnhundert-<lb/>
sechzig Gemeinden mit zusammen etwa 10^ Millionen Einwohnern mehr als<lb/>
vier Millionen Mark für Volksbibliotheken aufbrachten, und daß die englischen<lb/>
Städte zurzeit jährlich insgesamt sechzehn Millionen für ihre freien öffentlichen<lb/>
Bibliotheken ausgeben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_165"> Neben England steht in der Volksbtldungsbewegung Amerika an erster<lb/>
Stelle. Zur Ausgestaltung der New-Aorker Zweigbtbliotheken stiftete im<lb/>
Jahre 1901 Carnegie 6 200 000 Dollars und in den Jahren 1900 und 1901<lb/>
hat dieser große Volksfreund zusammen 12 769 700 Dollars zu Bildungs¬<lb/>
zwecken verteilt. Nur solche Opferfreudigkeit konnte es zuwege bringen, daß es<lb/>
im Jahre 1903 in Amerika 6869 Bibliotheken mit einer Gesamtzahl von etwa<lb/>
fünfundfünfzig Millionen Büchern gab.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_166"> Noch mehr aber als die Bibliotheksbewegung verdient die von England und<lb/>
Amerika in den Jahren 1870/73 ausgegangene Univsr8lex öxten8ion<lb/>
movement (die Hochschulausbreitung) gerühmt zu werden. Sie hat durch<lb/>
Veranstaltung wissenschaftlich-volkstümlicher Kurse große Erfolge erzielt. Bereits<lb/>
im Jahre 1890 konnte man in Philadelphia mit vierzig Kursen und fünfzigtausend<lb/>
Hörern beginnen und in den Jahren 1890/91 wurden von Oxford aus einhunderr-<lb/>
zweiundneunztg Vorlesungen mit über zwanzigtausend Teilnehmern abgehalten.<lb/>
Ein annähernd gleiches Ergebnis hatten die Universitäten von Cambridge und<lb/>
London erreicht. Die Wiener Universität hat sich dieser Bewegung im Jahre 1896<lb/>
mit 6172 Hörern angeschlossen. In Deutschland sind gleiche Bestrebungen erst in<lb/>
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgreich in Fluß geraten,<lb/>
auch nicht in dem Umfange wie in Amerika und England. Zu nennen sind der<lb/>
Rhein-Matnische Verband für Volksvorlesungen, die Münchner Volks¬<lb/>
bildungsvereine, die Gesellschaft zur Verbrettung von Volksbildung<lb/>
und die Comenius-Gesellschaft. Sie suchen ihrer Aufgabe durch Einzelvorträge<lb/>
und Unterrtchtskurse gerecht zu werden. Nach dem Muster der Jenaer Universität<lb/>
sind außerdem an den deutschen Universitäten Volkshochschulkurse ins Leben<lb/>
gerufen worden, 1896 in München, 1897 in Leipzig und 1898 in Berlin.<lb/>
Schließlich ist neuerdings die Einführung des staatsbürgerlichen Unterrichts in<lb/>
den Lehrplan der Schulen und ein wetterer Ausbau des Fortbildungsschul¬<lb/>
wesens in die Wege geleitet worden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_167" next="#ID_168"> Die Volksbildungstätigkeit in Deutschland trägt drei Merkmale. Entweder<lb/>
richtet sie sich lediglich auf die untersten Schichten der Bevölkerung oder erschöpft<lb/>
sich in schulmä'ßtger Ausbildung jugendlicher Personen oder ist eine für die<lb/>
Allgemeinheit bestimmte außerschulmäßtge Unterrichtstättgkeit unter dem Zeichen<lb/>
irgendeiner Partei. So notwendig das Erste und das Zweite, so entbehrlich<lb/>
ist unter gewissen Verhältnissen das Dritte. Man wird dem vielleicht entgegen<lb/>
halten, daß jegliche Aufklärungstätigkeit, die sich auf das öffentliche Leben<lb/>
bezieht, einer Parteifärbung bedarf, wenn sie nicht eine die Gegensätze zu<lb/>
Unrecht verwischende laue Bewegung bleiben soll. Dieser Einwand verliert</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0062] Praktischer Patriotismus Die Wirkung dieser Ewart-Bell war, daß um das Jahr 1900 etnhundert- sechzig Gemeinden mit zusammen etwa 10^ Millionen Einwohnern mehr als vier Millionen Mark für Volksbibliotheken aufbrachten, und daß die englischen Städte zurzeit jährlich insgesamt sechzehn Millionen für ihre freien öffentlichen Bibliotheken ausgeben. Neben England steht in der Volksbtldungsbewegung Amerika an erster Stelle. Zur Ausgestaltung der New-Aorker Zweigbtbliotheken stiftete im Jahre 1901 Carnegie 6 200 000 Dollars und in den Jahren 1900 und 1901 hat dieser große Volksfreund zusammen 12 769 700 Dollars zu Bildungs¬ zwecken verteilt. Nur solche Opferfreudigkeit konnte es zuwege bringen, daß es im Jahre 1903 in Amerika 6869 Bibliotheken mit einer Gesamtzahl von etwa fünfundfünfzig Millionen Büchern gab. Noch mehr aber als die Bibliotheksbewegung verdient die von England und Amerika in den Jahren 1870/73 ausgegangene Univsr8lex öxten8ion movement (die Hochschulausbreitung) gerühmt zu werden. Sie hat durch Veranstaltung wissenschaftlich-volkstümlicher Kurse große Erfolge erzielt. Bereits im Jahre 1890 konnte man in Philadelphia mit vierzig Kursen und fünfzigtausend Hörern beginnen und in den Jahren 1890/91 wurden von Oxford aus einhunderr- zweiundneunztg Vorlesungen mit über zwanzigtausend Teilnehmern abgehalten. Ein annähernd gleiches Ergebnis hatten die Universitäten von Cambridge und London erreicht. Die Wiener Universität hat sich dieser Bewegung im Jahre 1896 mit 6172 Hörern angeschlossen. In Deutschland sind gleiche Bestrebungen erst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erfolgreich in Fluß geraten, auch nicht in dem Umfange wie in Amerika und England. Zu nennen sind der Rhein-Matnische Verband für Volksvorlesungen, die Münchner Volks¬ bildungsvereine, die Gesellschaft zur Verbrettung von Volksbildung und die Comenius-Gesellschaft. Sie suchen ihrer Aufgabe durch Einzelvorträge und Unterrtchtskurse gerecht zu werden. Nach dem Muster der Jenaer Universität sind außerdem an den deutschen Universitäten Volkshochschulkurse ins Leben gerufen worden, 1896 in München, 1897 in Leipzig und 1898 in Berlin. Schließlich ist neuerdings die Einführung des staatsbürgerlichen Unterrichts in den Lehrplan der Schulen und ein wetterer Ausbau des Fortbildungsschul¬ wesens in die Wege geleitet worden. Die Volksbildungstätigkeit in Deutschland trägt drei Merkmale. Entweder richtet sie sich lediglich auf die untersten Schichten der Bevölkerung oder erschöpft sich in schulmä'ßtger Ausbildung jugendlicher Personen oder ist eine für die Allgemeinheit bestimmte außerschulmäßtge Unterrichtstättgkeit unter dem Zeichen irgendeiner Partei. So notwendig das Erste und das Zweite, so entbehrlich ist unter gewissen Verhältnissen das Dritte. Man wird dem vielleicht entgegen halten, daß jegliche Aufklärungstätigkeit, die sich auf das öffentliche Leben bezieht, einer Parteifärbung bedarf, wenn sie nicht eine die Gegensätze zu Unrecht verwischende laue Bewegung bleiben soll. Dieser Einwand verliert

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/62
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/62>, abgerufen am 04.07.2024.