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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Der proletarische Rlassenkampf

Schritt erreicht, desto geringfügiger schätzt er die Zugeständnisse ein und desto
schärfer wird er in seinen Anklagen gegen Bedrückung und Ausbeutung. Dadurch
wird und soll die Arbeiterschaft isoliert und zum reinen Klassenkampf stark
gemacht werden, dein merkwürdigerweise eine große kulturelle Bedeutung für
die Allgemeinheit vindiziert wird, nämlich die Fähigkeit, die anarchistische Güter-
produktion zu bekämpfen und die Güterverteilung demnächst zweckmäßiger zu
regeln. Das möglichst große Glück der möglichst großen Zahl soll auf diesen:
Wege zwangsweise in das absolute Glück der absoluten Totalität umgesetzt
werden.

Die einheitlich geschlossene Klasse der Proletarier, die man der "reaktionären
Masse" entgegenstellt, ist ja aber auch nicht viel mehr als ein parteipolitisches
Schlagwort. Auch in der Arbeiterschaft gibt es eine Vielzahl von Abstufungen
und Übergängen zur Bourgeoisie und zur reaktionären Masse. Da gibt es
Arbeiter mit Haus- und Grundbesitz, am Gewinn des Unternehmens Beteiligte
usw. und der Unterschied von Besitzenden und Besitzlosen reicht auf der anderen
Seite nicht aus, um die proletarische Organisation sicherzustellen, denn in dieser
Organisation sind seit langem sehr vermögende Leute. "Was den Proletarier
unserer Tage", so sagt der Sozialdemokrat Kampffmener, "von dem Proletarier
des Kommunistischen Manifestes und des Kapitals unterscheidet, ist seine größere
Existenzsicherheit und seine damit gesteigerte Widerstandsfähigkeit in den Konflikten
mit der Kapitalistenklasse. Mit der Befestigung seiner Situation näherte sich
der Arbeiter sozial den Klassen, die sich, obwohl sie im Besitz der Produktions¬
mittel sind, doch in mageren Einkommensverhältnissen befinden." Er meint
weiter, die ursprüngliche Marxsche Definition des Proletariats als eines von
den Arbeitsmitteln getrennten, besitzlosen, eine nackte haltlose Existenz fristenden
Arbeiters sei dank der Annäherung bestimmter sozialer Klassen an die Arbeiter¬
schaft zu eng geworden. Umgekehrt. Die Arbeiterschaft ist teilweise in den Mittel¬
stand hineingewachsen und darum ist die Klassenkampflehre ebenso hinfällig, wie
die übrigen Teile des Erfurter Programmes. Legt man die Statistik von
Dr. Blenck über das Mitläufertum der Sozialdemokratie zugrunde, eine Statistik,
deren Richtigkeit von der Sozialdemokratie anerkannt worden ist, so rührten
bei der Reichstagswahl von 1903 mindestens 600000 bis 750000 Wahl-
stimmen von anderen als der gewerblichen Arbeiterklasse angehörenden Wühlern
her, von Handwerkern, Kleingewerbetreibenden, Angestellten und Beamten. In
der Arbeiterschaft nimmt die soziale Differenzierung zu, was z. B. auch bei
dem sächsischen Pluralwahlrecht zum Ausdruck gekommen ist. Nach diesen:
Wahlrecht hat jeder Wähler eine Grundstimme und die Zuteilung von Zusatz¬
stimmen (bis zu 4) richtet sich nach dem Alter, nach den: Einkommen und nach
dem Vorhandensein von Grundbesitz. Es ist nun offenkundig geworden, daß
in fast allen Wahlkreisen, namentlich in den großstädtischen, die Zahl der
Arbeiter, die zwei und mehr Stimmen abgaben, doch sehr erheblich war. Also
auch hier sind Stufeuleitern zum Auf- und Absteigen vorhanden.


Der proletarische Rlassenkampf

Schritt erreicht, desto geringfügiger schätzt er die Zugeständnisse ein und desto
schärfer wird er in seinen Anklagen gegen Bedrückung und Ausbeutung. Dadurch
wird und soll die Arbeiterschaft isoliert und zum reinen Klassenkampf stark
gemacht werden, dein merkwürdigerweise eine große kulturelle Bedeutung für
die Allgemeinheit vindiziert wird, nämlich die Fähigkeit, die anarchistische Güter-
produktion zu bekämpfen und die Güterverteilung demnächst zweckmäßiger zu
regeln. Das möglichst große Glück der möglichst großen Zahl soll auf diesen:
Wege zwangsweise in das absolute Glück der absoluten Totalität umgesetzt
werden.

Die einheitlich geschlossene Klasse der Proletarier, die man der „reaktionären
Masse" entgegenstellt, ist ja aber auch nicht viel mehr als ein parteipolitisches
Schlagwort. Auch in der Arbeiterschaft gibt es eine Vielzahl von Abstufungen
und Übergängen zur Bourgeoisie und zur reaktionären Masse. Da gibt es
Arbeiter mit Haus- und Grundbesitz, am Gewinn des Unternehmens Beteiligte
usw. und der Unterschied von Besitzenden und Besitzlosen reicht auf der anderen
Seite nicht aus, um die proletarische Organisation sicherzustellen, denn in dieser
Organisation sind seit langem sehr vermögende Leute. „Was den Proletarier
unserer Tage", so sagt der Sozialdemokrat Kampffmener, „von dem Proletarier
des Kommunistischen Manifestes und des Kapitals unterscheidet, ist seine größere
Existenzsicherheit und seine damit gesteigerte Widerstandsfähigkeit in den Konflikten
mit der Kapitalistenklasse. Mit der Befestigung seiner Situation näherte sich
der Arbeiter sozial den Klassen, die sich, obwohl sie im Besitz der Produktions¬
mittel sind, doch in mageren Einkommensverhältnissen befinden." Er meint
weiter, die ursprüngliche Marxsche Definition des Proletariats als eines von
den Arbeitsmitteln getrennten, besitzlosen, eine nackte haltlose Existenz fristenden
Arbeiters sei dank der Annäherung bestimmter sozialer Klassen an die Arbeiter¬
schaft zu eng geworden. Umgekehrt. Die Arbeiterschaft ist teilweise in den Mittel¬
stand hineingewachsen und darum ist die Klassenkampflehre ebenso hinfällig, wie
die übrigen Teile des Erfurter Programmes. Legt man die Statistik von
Dr. Blenck über das Mitläufertum der Sozialdemokratie zugrunde, eine Statistik,
deren Richtigkeit von der Sozialdemokratie anerkannt worden ist, so rührten
bei der Reichstagswahl von 1903 mindestens 600000 bis 750000 Wahl-
stimmen von anderen als der gewerblichen Arbeiterklasse angehörenden Wühlern
her, von Handwerkern, Kleingewerbetreibenden, Angestellten und Beamten. In
der Arbeiterschaft nimmt die soziale Differenzierung zu, was z. B. auch bei
dem sächsischen Pluralwahlrecht zum Ausdruck gekommen ist. Nach diesen:
Wahlrecht hat jeder Wähler eine Grundstimme und die Zuteilung von Zusatz¬
stimmen (bis zu 4) richtet sich nach dem Alter, nach den: Einkommen und nach
dem Vorhandensein von Grundbesitz. Es ist nun offenkundig geworden, daß
in fast allen Wahlkreisen, namentlich in den großstädtischen, die Zahl der
Arbeiter, die zwei und mehr Stimmen abgaben, doch sehr erheblich war. Also
auch hier sind Stufeuleitern zum Auf- und Absteigen vorhanden.


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[0559] Der proletarische Rlassenkampf Schritt erreicht, desto geringfügiger schätzt er die Zugeständnisse ein und desto schärfer wird er in seinen Anklagen gegen Bedrückung und Ausbeutung. Dadurch wird und soll die Arbeiterschaft isoliert und zum reinen Klassenkampf stark gemacht werden, dein merkwürdigerweise eine große kulturelle Bedeutung für die Allgemeinheit vindiziert wird, nämlich die Fähigkeit, die anarchistische Güter- produktion zu bekämpfen und die Güterverteilung demnächst zweckmäßiger zu regeln. Das möglichst große Glück der möglichst großen Zahl soll auf diesen: Wege zwangsweise in das absolute Glück der absoluten Totalität umgesetzt werden. Die einheitlich geschlossene Klasse der Proletarier, die man der „reaktionären Masse" entgegenstellt, ist ja aber auch nicht viel mehr als ein parteipolitisches Schlagwort. Auch in der Arbeiterschaft gibt es eine Vielzahl von Abstufungen und Übergängen zur Bourgeoisie und zur reaktionären Masse. Da gibt es Arbeiter mit Haus- und Grundbesitz, am Gewinn des Unternehmens Beteiligte usw. und der Unterschied von Besitzenden und Besitzlosen reicht auf der anderen Seite nicht aus, um die proletarische Organisation sicherzustellen, denn in dieser Organisation sind seit langem sehr vermögende Leute. „Was den Proletarier unserer Tage", so sagt der Sozialdemokrat Kampffmener, „von dem Proletarier des Kommunistischen Manifestes und des Kapitals unterscheidet, ist seine größere Existenzsicherheit und seine damit gesteigerte Widerstandsfähigkeit in den Konflikten mit der Kapitalistenklasse. Mit der Befestigung seiner Situation näherte sich der Arbeiter sozial den Klassen, die sich, obwohl sie im Besitz der Produktions¬ mittel sind, doch in mageren Einkommensverhältnissen befinden." Er meint weiter, die ursprüngliche Marxsche Definition des Proletariats als eines von den Arbeitsmitteln getrennten, besitzlosen, eine nackte haltlose Existenz fristenden Arbeiters sei dank der Annäherung bestimmter sozialer Klassen an die Arbeiter¬ schaft zu eng geworden. Umgekehrt. Die Arbeiterschaft ist teilweise in den Mittel¬ stand hineingewachsen und darum ist die Klassenkampflehre ebenso hinfällig, wie die übrigen Teile des Erfurter Programmes. Legt man die Statistik von Dr. Blenck über das Mitläufertum der Sozialdemokratie zugrunde, eine Statistik, deren Richtigkeit von der Sozialdemokratie anerkannt worden ist, so rührten bei der Reichstagswahl von 1903 mindestens 600000 bis 750000 Wahl- stimmen von anderen als der gewerblichen Arbeiterklasse angehörenden Wühlern her, von Handwerkern, Kleingewerbetreibenden, Angestellten und Beamten. In der Arbeiterschaft nimmt die soziale Differenzierung zu, was z. B. auch bei dem sächsischen Pluralwahlrecht zum Ausdruck gekommen ist. Nach diesen: Wahlrecht hat jeder Wähler eine Grundstimme und die Zuteilung von Zusatz¬ stimmen (bis zu 4) richtet sich nach dem Alter, nach den: Einkommen und nach dem Vorhandensein von Grundbesitz. Es ist nun offenkundig geworden, daß in fast allen Wahlkreisen, namentlich in den großstädtischen, die Zahl der Arbeiter, die zwei und mehr Stimmen abgaben, doch sehr erheblich war. Also auch hier sind Stufeuleitern zum Auf- und Absteigen vorhanden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/559>, abgerufen am 24.07.2024.