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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Lharlotte von Stein und Sophie von Lömcnthal

sehen. Erst dann geht der Tag für sie ein, wenn sie die geliebten Züge ihrer
Hand erblicken. Sie stehlen sich jeden Augenblick ab, um ihren Lieben zu
schreiben und ihnen zu sagen, wie sie sie vermissen. Sie sehen oder hören
nichts, das sie nicht im Augenblicke mit ihnen teilen wollen. Sie finden keine
Ruhe, ehe sie sich nicht ihre Gedanken und Gefühle vom Herzen geschrieben
haben. Und wenn sie zusammengekommen sind, scheiden sie ungern von ihnen.
Beim Aufwachen nennen sie zuerst der Geliebten Namen, sie schlafen nicht ein,
ohne ihnen in Gedanken gute Nacht gesagt zu haben. Ja, bis auf einzelne
Gedanken und Ausdrücke ähneln sich beide Dichter. So ruft Goethe aus:
"Was wäre ein Tag, ohne dich zu sehen", und Lenau ist jeder Tag aus dem
Leben gestohlen, den er ohne sie verleben muß.

Wie wunderbar klingt bei beiden der Hymnus, den sie der Liebe singen!
Sie ist ihnen eine der heiligsten Angelegenheiten der Menschheit, den: Lenau
die stärkste Macht im Himmel und auf Erden, sie hat die Welt erschaffen, sie
erhält sie, und nur durch sie lernen wir sie begreifen; Goethe ist sie der
Sonnenschein der Welt, der Born, der nie versiegt, das Feuer, das nie erlischt.
Das Verhältnis zu den Geliebten dünkt ihnen das reinste, schönste und wahrste,
das sie bisher zu einem Weibe gehabt haben, nur die Mutter bei Lenau und
die Schwester bei Goethe ausgenommen. Leer und kalt ist es sonst draußen in
der Welt, voll und warm aber bei ihnen. Sie richten die Gedanken immer
wieder auf die Geliebten; was sich nicht auf sie beziehen läßt, hat keinen Wert
für sie. Ihre Liebe wird ihnen so unentbehrlich wie die Luft und die Sonne,
ihr Leben wäre nichts ohne diese Liebe. Sie leben nur bei und in ihnen und
durch sie. Sie sehen überall der Geliebten teures Bild, Lenau bis zur visionären
Deutlichkeit, vor dessen Zudringlichkeit er sich nicht zu retten vermag. "Dein
Bild wandelt um mich herum," sagt Goethe, "wenn ich sitze und arbeite. Du
bist mir in alle Gegenstände trcmssubstantiiert. Ich sehe dich in allen Gestalten
immer vor mir." Mit tausend Wurzelfasern ist Lenau an seine Geliebte
angelebt, Goethes Seele hat tausend Assoziationen, um Erinnerungen an sie
anzuknüpfen. Ihre Seelen sind an die der Geliebten angewachsen, so beteuern
beide in übereinstimmender Weise. So wird denn diese Liebe ihnen eine Quelle
des Glückes, sie gibt ihnen ein Gefühl der Heimatlichkeit, wie Lenau sich aus¬
drückt. Goethe ist es, als wenn er ein wohlgegründetes Haus zum Geschenk
erhalten hätte, drinnen zu leben und zu sterben und alle seine Besitztümer
drinnen zu bewahren. Es kommen selbst einem Lenau Augenblicke, wo das
Herz im Himmel ist und jeden Wunsch vergißt, wo er sein Haupt in ihrem
Schoße birgt und alle Kümmernisse verschmerzt. Wie eine süße Melodie die
Menschen in die Höhe hebt, ihren Sorgen und Schmerzen eine weiche Wolke
unterband, so ist Goethe seiner Geliebten Wesen. Beide werden nicht müde, zu
beteuern, daß diese ihre Liebe das einzige und schönste Band ihres Lebens
ist. Die Worte fehlen ihnen, um die Größe ihrer Liebe und Sehnsucht aus¬
zudrücken.


Lharlotte von Stein und Sophie von Lömcnthal

sehen. Erst dann geht der Tag für sie ein, wenn sie die geliebten Züge ihrer
Hand erblicken. Sie stehlen sich jeden Augenblick ab, um ihren Lieben zu
schreiben und ihnen zu sagen, wie sie sie vermissen. Sie sehen oder hören
nichts, das sie nicht im Augenblicke mit ihnen teilen wollen. Sie finden keine
Ruhe, ehe sie sich nicht ihre Gedanken und Gefühle vom Herzen geschrieben
haben. Und wenn sie zusammengekommen sind, scheiden sie ungern von ihnen.
Beim Aufwachen nennen sie zuerst der Geliebten Namen, sie schlafen nicht ein,
ohne ihnen in Gedanken gute Nacht gesagt zu haben. Ja, bis auf einzelne
Gedanken und Ausdrücke ähneln sich beide Dichter. So ruft Goethe aus:
„Was wäre ein Tag, ohne dich zu sehen", und Lenau ist jeder Tag aus dem
Leben gestohlen, den er ohne sie verleben muß.

Wie wunderbar klingt bei beiden der Hymnus, den sie der Liebe singen!
Sie ist ihnen eine der heiligsten Angelegenheiten der Menschheit, den: Lenau
die stärkste Macht im Himmel und auf Erden, sie hat die Welt erschaffen, sie
erhält sie, und nur durch sie lernen wir sie begreifen; Goethe ist sie der
Sonnenschein der Welt, der Born, der nie versiegt, das Feuer, das nie erlischt.
Das Verhältnis zu den Geliebten dünkt ihnen das reinste, schönste und wahrste,
das sie bisher zu einem Weibe gehabt haben, nur die Mutter bei Lenau und
die Schwester bei Goethe ausgenommen. Leer und kalt ist es sonst draußen in
der Welt, voll und warm aber bei ihnen. Sie richten die Gedanken immer
wieder auf die Geliebten; was sich nicht auf sie beziehen läßt, hat keinen Wert
für sie. Ihre Liebe wird ihnen so unentbehrlich wie die Luft und die Sonne,
ihr Leben wäre nichts ohne diese Liebe. Sie leben nur bei und in ihnen und
durch sie. Sie sehen überall der Geliebten teures Bild, Lenau bis zur visionären
Deutlichkeit, vor dessen Zudringlichkeit er sich nicht zu retten vermag. „Dein
Bild wandelt um mich herum," sagt Goethe, „wenn ich sitze und arbeite. Du
bist mir in alle Gegenstände trcmssubstantiiert. Ich sehe dich in allen Gestalten
immer vor mir." Mit tausend Wurzelfasern ist Lenau an seine Geliebte
angelebt, Goethes Seele hat tausend Assoziationen, um Erinnerungen an sie
anzuknüpfen. Ihre Seelen sind an die der Geliebten angewachsen, so beteuern
beide in übereinstimmender Weise. So wird denn diese Liebe ihnen eine Quelle
des Glückes, sie gibt ihnen ein Gefühl der Heimatlichkeit, wie Lenau sich aus¬
drückt. Goethe ist es, als wenn er ein wohlgegründetes Haus zum Geschenk
erhalten hätte, drinnen zu leben und zu sterben und alle seine Besitztümer
drinnen zu bewahren. Es kommen selbst einem Lenau Augenblicke, wo das
Herz im Himmel ist und jeden Wunsch vergißt, wo er sein Haupt in ihrem
Schoße birgt und alle Kümmernisse verschmerzt. Wie eine süße Melodie die
Menschen in die Höhe hebt, ihren Sorgen und Schmerzen eine weiche Wolke
unterband, so ist Goethe seiner Geliebten Wesen. Beide werden nicht müde, zu
beteuern, daß diese ihre Liebe das einzige und schönste Band ihres Lebens
ist. Die Worte fehlen ihnen, um die Größe ihrer Liebe und Sehnsucht aus¬
zudrücken.


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[0502] Lharlotte von Stein und Sophie von Lömcnthal sehen. Erst dann geht der Tag für sie ein, wenn sie die geliebten Züge ihrer Hand erblicken. Sie stehlen sich jeden Augenblick ab, um ihren Lieben zu schreiben und ihnen zu sagen, wie sie sie vermissen. Sie sehen oder hören nichts, das sie nicht im Augenblicke mit ihnen teilen wollen. Sie finden keine Ruhe, ehe sie sich nicht ihre Gedanken und Gefühle vom Herzen geschrieben haben. Und wenn sie zusammengekommen sind, scheiden sie ungern von ihnen. Beim Aufwachen nennen sie zuerst der Geliebten Namen, sie schlafen nicht ein, ohne ihnen in Gedanken gute Nacht gesagt zu haben. Ja, bis auf einzelne Gedanken und Ausdrücke ähneln sich beide Dichter. So ruft Goethe aus: „Was wäre ein Tag, ohne dich zu sehen", und Lenau ist jeder Tag aus dem Leben gestohlen, den er ohne sie verleben muß. Wie wunderbar klingt bei beiden der Hymnus, den sie der Liebe singen! Sie ist ihnen eine der heiligsten Angelegenheiten der Menschheit, den: Lenau die stärkste Macht im Himmel und auf Erden, sie hat die Welt erschaffen, sie erhält sie, und nur durch sie lernen wir sie begreifen; Goethe ist sie der Sonnenschein der Welt, der Born, der nie versiegt, das Feuer, das nie erlischt. Das Verhältnis zu den Geliebten dünkt ihnen das reinste, schönste und wahrste, das sie bisher zu einem Weibe gehabt haben, nur die Mutter bei Lenau und die Schwester bei Goethe ausgenommen. Leer und kalt ist es sonst draußen in der Welt, voll und warm aber bei ihnen. Sie richten die Gedanken immer wieder auf die Geliebten; was sich nicht auf sie beziehen läßt, hat keinen Wert für sie. Ihre Liebe wird ihnen so unentbehrlich wie die Luft und die Sonne, ihr Leben wäre nichts ohne diese Liebe. Sie leben nur bei und in ihnen und durch sie. Sie sehen überall der Geliebten teures Bild, Lenau bis zur visionären Deutlichkeit, vor dessen Zudringlichkeit er sich nicht zu retten vermag. „Dein Bild wandelt um mich herum," sagt Goethe, „wenn ich sitze und arbeite. Du bist mir in alle Gegenstände trcmssubstantiiert. Ich sehe dich in allen Gestalten immer vor mir." Mit tausend Wurzelfasern ist Lenau an seine Geliebte angelebt, Goethes Seele hat tausend Assoziationen, um Erinnerungen an sie anzuknüpfen. Ihre Seelen sind an die der Geliebten angewachsen, so beteuern beide in übereinstimmender Weise. So wird denn diese Liebe ihnen eine Quelle des Glückes, sie gibt ihnen ein Gefühl der Heimatlichkeit, wie Lenau sich aus¬ drückt. Goethe ist es, als wenn er ein wohlgegründetes Haus zum Geschenk erhalten hätte, drinnen zu leben und zu sterben und alle seine Besitztümer drinnen zu bewahren. Es kommen selbst einem Lenau Augenblicke, wo das Herz im Himmel ist und jeden Wunsch vergißt, wo er sein Haupt in ihrem Schoße birgt und alle Kümmernisse verschmerzt. Wie eine süße Melodie die Menschen in die Höhe hebt, ihren Sorgen und Schmerzen eine weiche Wolke unterband, so ist Goethe seiner Geliebten Wesen. Beide werden nicht müde, zu beteuern, daß diese ihre Liebe das einzige und schönste Band ihres Lebens ist. Die Worte fehlen ihnen, um die Größe ihrer Liebe und Sehnsucht aus¬ zudrücken.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/502>, abgerufen am 22.12.2024.