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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Parteileitungeil anerkannt zu werden. Die Taktik der Reichspartei bedarf Wohl in¬
sofern keines besondern Kopfzerbrechens, als sie schon durch ihre Haltung während
des Kampfes um die Reichsfinanzreform gegeben ist und sich von der konservativen
Taktik klar unterscheidet. Bei den Nationalliberalen hat es stärkere Schwankungen
gegeben, die sich aus der Eigentümlichkeit der Partei Iwohl erklären. Die starke
Erbitterung, die sich gegen die Konservativen geltend machte, ließ natürlich den
Traum von der großen liberalen Partei und einem liberalen Großblock mit Ein¬
schluß der Sozialdemokratie -- einem Blockgebilde, das ja in Baden im Drange
der Not sogar Wirklichkeit wurde. -- wieder aufleben. Aber jetzt zeigt sich doch
schon in sehr bemerkenswerter Weise, daß der Nationalliberalismus bei der jetzigen
Lage doch die Notwendigkeit erkannt hat, keinen Linksabmarsch und keinen Links¬
anschluß zu vollziehen. Wenn diese Negation einer Linksbewegung schon von
einigen als Bewegung nach rechts empfunden wird, so ist das eine Privatansicht,
die an der Sache nichts ändert. Das Wesentliche ist, daß der Nationalliberalismus
sich auf seinen historischen Charakter besinnt und diese Rolle mit Festigkeit durch¬
führt. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß es bei dieser neuen Gestaltung
der Parteitage einer geschickten Regierung gelingen wird, für die notwendigen
gesetzgeberischen Arbeiten sichere Mehrheiten zu gewinnen. Vielleicht tritt dann
soweit Beruhigung ein, daß die nächsten Neuwahlen zum Reichstage doch besser
ausfallen, als jetzt zu befürchten ist.

Eine sehr bedenkliche Folge der Kämpfe um die Reichsfinanzreform schien
sich im vorigen Jahre aus dem scharfen Hervortreten materieller Interessen zu
ergeben. Die konservative Taktik ließ in der unliebsamsten Weise den materiellen
Jnteressenstandpunkt bestimmter Kreise hervortreten. In der Sozialdemokratie
haben wir ohnehin eine Partei, die von dem einseitigen Interesse der Industrie¬
arbeiter ausgeht, wenn sie auch in höherem und besserem Sinne nicht als politische
Vertretung der Arbeiterschaft gelten kann. Gegen die einseitige und brutale Macht¬
politik des Bundes der Landwirte hat sich der Hansabuud aufgetan. Wir haben daneben
noch die deutsche Mittelstandsvereinigung und als Frucht einer Oppositionsbewegung
der liberalen und demokratischen,^ Elemente in derLandwirtschaft gegen den konservativen
Charakter des Bundes der Landwirte neuerdings auch den deutschen Bauernbund. Und
schließlich regt sich in diesem allgemeinen Wettrennen der materiellen Interessen der
verschiedenen Erwerbsgruppen und Bevölkerungskreise auch das Heer der mittleren
und unteren Beamten und organisiert sich als Bund der Festbesoldeten. So scheint
dieses Hervortreten der Interessenkreise in unser ohnehin schon so verwickeltes
politisches Getriebe neue Verwirrung zu tragen. Man wird aber gut tun, sich
durch die geräuschvolle Art des Auftretens dieser Jnteressenverbände nicht allzusehr
verwirren zu lassen. Diese Erscheinungen sind heilsame Mahnungen an die
Parteien, in Fühlung mit den lebendigen Interessen der Nation und mit den
harten Wirklichkeiten zu bleiben, sie unter höhern Gesichtspunkten zusammen¬
zufassen und sie mit ihren Idealen zu durchdringen. Die Zeiten eines in der
Gedankenwelt konstruierten, rein politischen .Doktrinarismus sind allerdings
vorüber; die wirtschaftlichen Momente fordern unerbittlich ihr Recht. Aber die
Meinung, daß die Organisationen rein wirtschaftlicher Interessen jetzt bestimmt
seien, die alten politischen Parteien aufzulösen und zu ersetzen, hat sich bisher noch
nicht bewahrheitet, obwohl schon vor anderthalb Jahrzehnten mit der größten
Sicherheit von verschiedenen Seiten behauptet wurde, der Moment sei gekommen.
Die klare Erkenntnis der wirtschaftlichen Momente in der politischen Entwicklung
ist allerdings eine der wertvollsten Errungenschaften des letzten Dreivierteljahr¬
hunderts; wir verdanken gerade den deutschen Koryphäen der Volkswirtschaftslehre


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Parteileitungeil anerkannt zu werden. Die Taktik der Reichspartei bedarf Wohl in¬
sofern keines besondern Kopfzerbrechens, als sie schon durch ihre Haltung während
des Kampfes um die Reichsfinanzreform gegeben ist und sich von der konservativen
Taktik klar unterscheidet. Bei den Nationalliberalen hat es stärkere Schwankungen
gegeben, die sich aus der Eigentümlichkeit der Partei Iwohl erklären. Die starke
Erbitterung, die sich gegen die Konservativen geltend machte, ließ natürlich den
Traum von der großen liberalen Partei und einem liberalen Großblock mit Ein¬
schluß der Sozialdemokratie — einem Blockgebilde, das ja in Baden im Drange
der Not sogar Wirklichkeit wurde. — wieder aufleben. Aber jetzt zeigt sich doch
schon in sehr bemerkenswerter Weise, daß der Nationalliberalismus bei der jetzigen
Lage doch die Notwendigkeit erkannt hat, keinen Linksabmarsch und keinen Links¬
anschluß zu vollziehen. Wenn diese Negation einer Linksbewegung schon von
einigen als Bewegung nach rechts empfunden wird, so ist das eine Privatansicht,
die an der Sache nichts ändert. Das Wesentliche ist, daß der Nationalliberalismus
sich auf seinen historischen Charakter besinnt und diese Rolle mit Festigkeit durch¬
führt. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß es bei dieser neuen Gestaltung
der Parteitage einer geschickten Regierung gelingen wird, für die notwendigen
gesetzgeberischen Arbeiten sichere Mehrheiten zu gewinnen. Vielleicht tritt dann
soweit Beruhigung ein, daß die nächsten Neuwahlen zum Reichstage doch besser
ausfallen, als jetzt zu befürchten ist.

Eine sehr bedenkliche Folge der Kämpfe um die Reichsfinanzreform schien
sich im vorigen Jahre aus dem scharfen Hervortreten materieller Interessen zu
ergeben. Die konservative Taktik ließ in der unliebsamsten Weise den materiellen
Jnteressenstandpunkt bestimmter Kreise hervortreten. In der Sozialdemokratie
haben wir ohnehin eine Partei, die von dem einseitigen Interesse der Industrie¬
arbeiter ausgeht, wenn sie auch in höherem und besserem Sinne nicht als politische
Vertretung der Arbeiterschaft gelten kann. Gegen die einseitige und brutale Macht¬
politik des Bundes der Landwirte hat sich der Hansabuud aufgetan. Wir haben daneben
noch die deutsche Mittelstandsvereinigung und als Frucht einer Oppositionsbewegung
der liberalen und demokratischen,^ Elemente in derLandwirtschaft gegen den konservativen
Charakter des Bundes der Landwirte neuerdings auch den deutschen Bauernbund. Und
schließlich regt sich in diesem allgemeinen Wettrennen der materiellen Interessen der
verschiedenen Erwerbsgruppen und Bevölkerungskreise auch das Heer der mittleren
und unteren Beamten und organisiert sich als Bund der Festbesoldeten. So scheint
dieses Hervortreten der Interessenkreise in unser ohnehin schon so verwickeltes
politisches Getriebe neue Verwirrung zu tragen. Man wird aber gut tun, sich
durch die geräuschvolle Art des Auftretens dieser Jnteressenverbände nicht allzusehr
verwirren zu lassen. Diese Erscheinungen sind heilsame Mahnungen an die
Parteien, in Fühlung mit den lebendigen Interessen der Nation und mit den
harten Wirklichkeiten zu bleiben, sie unter höhern Gesichtspunkten zusammen¬
zufassen und sie mit ihren Idealen zu durchdringen. Die Zeiten eines in der
Gedankenwelt konstruierten, rein politischen .Doktrinarismus sind allerdings
vorüber; die wirtschaftlichen Momente fordern unerbittlich ihr Recht. Aber die
Meinung, daß die Organisationen rein wirtschaftlicher Interessen jetzt bestimmt
seien, die alten politischen Parteien aufzulösen und zu ersetzen, hat sich bisher noch
nicht bewahrheitet, obwohl schon vor anderthalb Jahrzehnten mit der größten
Sicherheit von verschiedenen Seiten behauptet wurde, der Moment sei gekommen.
Die klare Erkenntnis der wirtschaftlichen Momente in der politischen Entwicklung
ist allerdings eine der wertvollsten Errungenschaften des letzten Dreivierteljahr¬
hunderts; wir verdanken gerade den deutschen Koryphäen der Volkswirtschaftslehre


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[0049] Maßgebliches und Unmaßgebliches Parteileitungeil anerkannt zu werden. Die Taktik der Reichspartei bedarf Wohl in¬ sofern keines besondern Kopfzerbrechens, als sie schon durch ihre Haltung während des Kampfes um die Reichsfinanzreform gegeben ist und sich von der konservativen Taktik klar unterscheidet. Bei den Nationalliberalen hat es stärkere Schwankungen gegeben, die sich aus der Eigentümlichkeit der Partei Iwohl erklären. Die starke Erbitterung, die sich gegen die Konservativen geltend machte, ließ natürlich den Traum von der großen liberalen Partei und einem liberalen Großblock mit Ein¬ schluß der Sozialdemokratie — einem Blockgebilde, das ja in Baden im Drange der Not sogar Wirklichkeit wurde. — wieder aufleben. Aber jetzt zeigt sich doch schon in sehr bemerkenswerter Weise, daß der Nationalliberalismus bei der jetzigen Lage doch die Notwendigkeit erkannt hat, keinen Linksabmarsch und keinen Links¬ anschluß zu vollziehen. Wenn diese Negation einer Linksbewegung schon von einigen als Bewegung nach rechts empfunden wird, so ist das eine Privatansicht, die an der Sache nichts ändert. Das Wesentliche ist, daß der Nationalliberalismus sich auf seinen historischen Charakter besinnt und diese Rolle mit Festigkeit durch¬ führt. Man darf die Hoffnung nicht aufgeben, daß es bei dieser neuen Gestaltung der Parteitage einer geschickten Regierung gelingen wird, für die notwendigen gesetzgeberischen Arbeiten sichere Mehrheiten zu gewinnen. Vielleicht tritt dann soweit Beruhigung ein, daß die nächsten Neuwahlen zum Reichstage doch besser ausfallen, als jetzt zu befürchten ist. Eine sehr bedenkliche Folge der Kämpfe um die Reichsfinanzreform schien sich im vorigen Jahre aus dem scharfen Hervortreten materieller Interessen zu ergeben. Die konservative Taktik ließ in der unliebsamsten Weise den materiellen Jnteressenstandpunkt bestimmter Kreise hervortreten. In der Sozialdemokratie haben wir ohnehin eine Partei, die von dem einseitigen Interesse der Industrie¬ arbeiter ausgeht, wenn sie auch in höherem und besserem Sinne nicht als politische Vertretung der Arbeiterschaft gelten kann. Gegen die einseitige und brutale Macht¬ politik des Bundes der Landwirte hat sich der Hansabuud aufgetan. Wir haben daneben noch die deutsche Mittelstandsvereinigung und als Frucht einer Oppositionsbewegung der liberalen und demokratischen,^ Elemente in derLandwirtschaft gegen den konservativen Charakter des Bundes der Landwirte neuerdings auch den deutschen Bauernbund. Und schließlich regt sich in diesem allgemeinen Wettrennen der materiellen Interessen der verschiedenen Erwerbsgruppen und Bevölkerungskreise auch das Heer der mittleren und unteren Beamten und organisiert sich als Bund der Festbesoldeten. So scheint dieses Hervortreten der Interessenkreise in unser ohnehin schon so verwickeltes politisches Getriebe neue Verwirrung zu tragen. Man wird aber gut tun, sich durch die geräuschvolle Art des Auftretens dieser Jnteressenverbände nicht allzusehr verwirren zu lassen. Diese Erscheinungen sind heilsame Mahnungen an die Parteien, in Fühlung mit den lebendigen Interessen der Nation und mit den harten Wirklichkeiten zu bleiben, sie unter höhern Gesichtspunkten zusammen¬ zufassen und sie mit ihren Idealen zu durchdringen. Die Zeiten eines in der Gedankenwelt konstruierten, rein politischen .Doktrinarismus sind allerdings vorüber; die wirtschaftlichen Momente fordern unerbittlich ihr Recht. Aber die Meinung, daß die Organisationen rein wirtschaftlicher Interessen jetzt bestimmt seien, die alten politischen Parteien aufzulösen und zu ersetzen, hat sich bisher noch nicht bewahrheitet, obwohl schon vor anderthalb Jahrzehnten mit der größten Sicherheit von verschiedenen Seiten behauptet wurde, der Moment sei gekommen. Die klare Erkenntnis der wirtschaftlichen Momente in der politischen Entwicklung ist allerdings eine der wertvollsten Errungenschaften des letzten Dreivierteljahr¬ hunderts; wir verdanken gerade den deutschen Koryphäen der Volkswirtschaftslehre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/49>, abgerufen am 21.12.2024.