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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Berliner Scilonlcbeil

Beziehung, Mannigfaltigkeit der ab- und zuströmenden Persönlichkeiten, in denen
wir alte Bekannte wiederfinden oder neue Freundschaften schließen, sucht der
Verkehr in unsern Salons seinesgleichen. Nur in einem Punkt machen wir
uns das Leben unnütz schwer und haben gewisse Unbequemlichkeiten noch nicht
ganz überwunden.

In allen anderen Weltstädten sind die Grenzen zwischen Arbeit und Ver¬
gnügen, den Berufsstuuden und Mahlzeiten für jedermann genau und gleich¬
mäßig gezogen. Bei uns werden diese Schranken jedoch willkührlich hin und
her geschoben. Wer mit den Lebensgewohnheiten seiner Bekannten nicht genau
vertraut ist, muß immer erst genau überlegen, ob ihnen sein Besuch willkommen
oder störend ist. In jeder anderen Metropole setzt man sich um ein Uhr zum
zweiten Frühstück und um sieben Uhr zum Mittagsmahl an den Tisch. Diese
Regel wird so genau beobachtet, daß man während der Zwischenzeit in den
französischen Speisehäusern nur unter erschwerenden Umständen einen Gang und
in London während gewisser Stunden am Sonntag überhaupt nichts zu essen
bekommt. In Berlin herrscht dagegen in dieser Beziehung der Grundsatz
Friedrichs des Großen: jeden nach seiner Fasson selig oder vielmehr satt
werden zu lassen. Überall raucht der Schornstein zu verschiedenen Zeiten, bei
dem Professor X. um halb zwei Uhr, wenn er von der Universität kommt,
beim Kommerzienrat U. um drei, bei dem Architekten Z., der sich eine Unter¬
brechung seiner Arbeit früher "licht gestattet, um vier, bei Müller und Schulze, die
vorher schnell ein Beefsteak oder Kotelett zu sich genommen haben, vielleicht erst um
fünf oder sechs. Wer zum ersten Male nach Berlin kommt und seine Besuchsreise
macht, kann es erleben, daß dienende Geister ihn während der ganzen Zeit an
der Tür mit der Bemerkung empfangen, die Herrschaften seien gerade bei Tisch.
Er ringt dann wohl nach Fassung, wenn so viele Mühe umsonst vertan und er
lieben Menschen überall in die Suppe gefallen ist.

Bis zum französischen Kriege aß man in Berlin ungefähr um zwei Uhr
gleichmäßig Mittag. Das galt vom preußischen Königshof bis zu einfach
bürgerlichen Familien. Seitdem ist die Hauptmahlzeit immer weiter, mit ver¬
schiedener Beschleunigung hinausgerückt und in vielen Fällen sogar auf den
Abend verlegt worden. Dadurch sind viele alte Gewohnheiten umgestürzt,
ohne daß man sie durch feststehende neue Gebräuche ersetzt hat. Die meisten
speisen später als gewöhnlich, wenn sie eingeladen sind oder Gäste bei sich
sehen. Mancher hat bereits vorher gegessen und kränkt die Hausfrau, wenn
er ihren Gaben nicht fleißig genug zuspricht. Ein anderer erscheint wieder zur
festgesetzten Stunde so hungrig, daß er bei Tisch mehr an seinen Magen als an
die schöne Nachbarin denkt, für deren Unterhaltung er sorgen soll. Karl Gutzkow
entwickelte einmal scherzhaft den Gedanken, daß wir deshalb keine National¬
bühne haben, weil wir gegen halb neun Uhr abends, wenn sich die Perepetien
der Dramen entwickeln, plötzlich Hunger bekommen und statt des Bratens mit
unbewußter Verwechselung der Gegenstände Dichter und Schauspieler zerfleischen.


Berliner Scilonlcbeil

Beziehung, Mannigfaltigkeit der ab- und zuströmenden Persönlichkeiten, in denen
wir alte Bekannte wiederfinden oder neue Freundschaften schließen, sucht der
Verkehr in unsern Salons seinesgleichen. Nur in einem Punkt machen wir
uns das Leben unnütz schwer und haben gewisse Unbequemlichkeiten noch nicht
ganz überwunden.

In allen anderen Weltstädten sind die Grenzen zwischen Arbeit und Ver¬
gnügen, den Berufsstuuden und Mahlzeiten für jedermann genau und gleich¬
mäßig gezogen. Bei uns werden diese Schranken jedoch willkührlich hin und
her geschoben. Wer mit den Lebensgewohnheiten seiner Bekannten nicht genau
vertraut ist, muß immer erst genau überlegen, ob ihnen sein Besuch willkommen
oder störend ist. In jeder anderen Metropole setzt man sich um ein Uhr zum
zweiten Frühstück und um sieben Uhr zum Mittagsmahl an den Tisch. Diese
Regel wird so genau beobachtet, daß man während der Zwischenzeit in den
französischen Speisehäusern nur unter erschwerenden Umständen einen Gang und
in London während gewisser Stunden am Sonntag überhaupt nichts zu essen
bekommt. In Berlin herrscht dagegen in dieser Beziehung der Grundsatz
Friedrichs des Großen: jeden nach seiner Fasson selig oder vielmehr satt
werden zu lassen. Überall raucht der Schornstein zu verschiedenen Zeiten, bei
dem Professor X. um halb zwei Uhr, wenn er von der Universität kommt,
beim Kommerzienrat U. um drei, bei dem Architekten Z., der sich eine Unter¬
brechung seiner Arbeit früher »licht gestattet, um vier, bei Müller und Schulze, die
vorher schnell ein Beefsteak oder Kotelett zu sich genommen haben, vielleicht erst um
fünf oder sechs. Wer zum ersten Male nach Berlin kommt und seine Besuchsreise
macht, kann es erleben, daß dienende Geister ihn während der ganzen Zeit an
der Tür mit der Bemerkung empfangen, die Herrschaften seien gerade bei Tisch.
Er ringt dann wohl nach Fassung, wenn so viele Mühe umsonst vertan und er
lieben Menschen überall in die Suppe gefallen ist.

Bis zum französischen Kriege aß man in Berlin ungefähr um zwei Uhr
gleichmäßig Mittag. Das galt vom preußischen Königshof bis zu einfach
bürgerlichen Familien. Seitdem ist die Hauptmahlzeit immer weiter, mit ver¬
schiedener Beschleunigung hinausgerückt und in vielen Fällen sogar auf den
Abend verlegt worden. Dadurch sind viele alte Gewohnheiten umgestürzt,
ohne daß man sie durch feststehende neue Gebräuche ersetzt hat. Die meisten
speisen später als gewöhnlich, wenn sie eingeladen sind oder Gäste bei sich
sehen. Mancher hat bereits vorher gegessen und kränkt die Hausfrau, wenn
er ihren Gaben nicht fleißig genug zuspricht. Ein anderer erscheint wieder zur
festgesetzten Stunde so hungrig, daß er bei Tisch mehr an seinen Magen als an
die schöne Nachbarin denkt, für deren Unterhaltung er sorgen soll. Karl Gutzkow
entwickelte einmal scherzhaft den Gedanken, daß wir deshalb keine National¬
bühne haben, weil wir gegen halb neun Uhr abends, wenn sich die Perepetien
der Dramen entwickeln, plötzlich Hunger bekommen und statt des Bratens mit
unbewußter Verwechselung der Gegenstände Dichter und Schauspieler zerfleischen.


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[0478] Berliner Scilonlcbeil Beziehung, Mannigfaltigkeit der ab- und zuströmenden Persönlichkeiten, in denen wir alte Bekannte wiederfinden oder neue Freundschaften schließen, sucht der Verkehr in unsern Salons seinesgleichen. Nur in einem Punkt machen wir uns das Leben unnütz schwer und haben gewisse Unbequemlichkeiten noch nicht ganz überwunden. In allen anderen Weltstädten sind die Grenzen zwischen Arbeit und Ver¬ gnügen, den Berufsstuuden und Mahlzeiten für jedermann genau und gleich¬ mäßig gezogen. Bei uns werden diese Schranken jedoch willkührlich hin und her geschoben. Wer mit den Lebensgewohnheiten seiner Bekannten nicht genau vertraut ist, muß immer erst genau überlegen, ob ihnen sein Besuch willkommen oder störend ist. In jeder anderen Metropole setzt man sich um ein Uhr zum zweiten Frühstück und um sieben Uhr zum Mittagsmahl an den Tisch. Diese Regel wird so genau beobachtet, daß man während der Zwischenzeit in den französischen Speisehäusern nur unter erschwerenden Umständen einen Gang und in London während gewisser Stunden am Sonntag überhaupt nichts zu essen bekommt. In Berlin herrscht dagegen in dieser Beziehung der Grundsatz Friedrichs des Großen: jeden nach seiner Fasson selig oder vielmehr satt werden zu lassen. Überall raucht der Schornstein zu verschiedenen Zeiten, bei dem Professor X. um halb zwei Uhr, wenn er von der Universität kommt, beim Kommerzienrat U. um drei, bei dem Architekten Z., der sich eine Unter¬ brechung seiner Arbeit früher »licht gestattet, um vier, bei Müller und Schulze, die vorher schnell ein Beefsteak oder Kotelett zu sich genommen haben, vielleicht erst um fünf oder sechs. Wer zum ersten Male nach Berlin kommt und seine Besuchsreise macht, kann es erleben, daß dienende Geister ihn während der ganzen Zeit an der Tür mit der Bemerkung empfangen, die Herrschaften seien gerade bei Tisch. Er ringt dann wohl nach Fassung, wenn so viele Mühe umsonst vertan und er lieben Menschen überall in die Suppe gefallen ist. Bis zum französischen Kriege aß man in Berlin ungefähr um zwei Uhr gleichmäßig Mittag. Das galt vom preußischen Königshof bis zu einfach bürgerlichen Familien. Seitdem ist die Hauptmahlzeit immer weiter, mit ver¬ schiedener Beschleunigung hinausgerückt und in vielen Fällen sogar auf den Abend verlegt worden. Dadurch sind viele alte Gewohnheiten umgestürzt, ohne daß man sie durch feststehende neue Gebräuche ersetzt hat. Die meisten speisen später als gewöhnlich, wenn sie eingeladen sind oder Gäste bei sich sehen. Mancher hat bereits vorher gegessen und kränkt die Hausfrau, wenn er ihren Gaben nicht fleißig genug zuspricht. Ein anderer erscheint wieder zur festgesetzten Stunde so hungrig, daß er bei Tisch mehr an seinen Magen als an die schöne Nachbarin denkt, für deren Unterhaltung er sorgen soll. Karl Gutzkow entwickelte einmal scherzhaft den Gedanken, daß wir deshalb keine National¬ bühne haben, weil wir gegen halb neun Uhr abends, wenn sich die Perepetien der Dramen entwickeln, plötzlich Hunger bekommen und statt des Bratens mit unbewußter Verwechselung der Gegenstände Dichter und Schauspieler zerfleischen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/478>, abgerufen am 22.12.2024.