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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Das Elsaß

bedeutsamer Interessen eines Großstaats finden sie im Reichstage
nur Zank um Finanz- und Personenfragen.

Die Anschauung, das Reich sei fertig, liegt auch dem Schlüsse der großen
Rede des Reichskanzlers im Abgeordnetenhause vom 10. Februar d. Is. zugrunde.
Er sagt, die deutsche Zersplitterung entspräche einem tiefen Zuge des deutschen Wesens,
der freilich die Quelle des politischen Elends sei, zugleich aber mit dem Reichtum und
der Innerlichkeit der deutschen Kultur eng zusammenhänge . . . Die jetzt endlich
gefundene politische Form könne daher nur ein föderativer Staat sein. Die
Wichtigkeit des Gegenstandes möge es gestatten, auch abseits des Themas hierauf
mit wenigen Worten einzugehen. Daß der Reichtum und die Innerlichkeit
unserer Kultur durch die Zersplitterung begünstigt oder gar hervorgerufen sei,
nutz ernstlich bezweifelt werden; unsere Kultur hat sich trotz der Zersplitterung
entwickelt, aber ist dadurch solange aufgehalten. Weder in England noch in Frankreich
haben Kultur und geistige Entwicklung unter der Einheit gelitten, vielmehr ist
beides zusammen gediehen. Daß in Deutschland derselbe Weg hätte eingeschlagen
werden können, dafür ist gerade der preußische Staat der beste Beweis. Der Herr
Ministerpräsident kann doch unmöglich der Meinung sein, daß die preußische
Kultur hinter denen der anderen Staaten zurückgeblieben sei. Ebensowenig
haben bisher die Provinzler, Ostpreußen, Märker, Sachsen, Westfalen, Rhein¬
länder, etwas von der besondern Richtung ihrer Stammesart aufgegeben, sie
sind keine Berliner geworden. Die Unterdrückung unseres Stammeslebens durch
einen Zentralstaat sowie die Abhängigkeit unserer Kultur von einer Mehrzahl
von Mittelpunkten ist eine Legende, die am wenigsten in Preußen ausgesprochen
werden sollte. Die vom Kanzler angeregten Gedanken kann man versuchen
dahin zu beantworten, daß alle politischen Kräfte ausschließlich Vereinigung ver¬
langen, wie die Römer das durch ihre laces andeuteten, daß dagegen alle Kultur¬
zweige ihre Eigenart ebensogut im einzelnen ausbilden, und in zahlreichen Mittel¬
punkten ebenso gedeihen. Für letztere wird bei den vom Kanzler richtig geschilderten
deutschen Neigungen noch lange gesorgt sein; beides nebeneinander kann ohne
erhebliche Konflikte, ohne gegenseitige Störung nicht nur bestehen, sondern sich
gegenseitig fördern. Politische Elemente können sich aber ohne Zusammenfassung
nicht bewähren, in der Organisation liegt vielmehr das ganze Geheimnis ihrer
Kraft. Ihr deutlichstes Beispiel aus neuerer Zeit ist Napoleon der Erste. Der
Kanzler hat somit recht, wenn er sagt, daß in der Zersplitterung, diesem tiefen
Zuge unseres Wesens, die Quelle des politischen Elends zu suchen sei; damit
hat er diese Neigung als Fehler, als Mangel an Selbstzucht zugunsten des
Ganzen, an Altruismus gekennzeichnet. Es ist noch immer unsere wichtigste
Aufgabe, diesen Fehler endlich abzutun und Unterordnung unter das
Ganze zu lernen. Leider gehören die starken Ansätze dazu schon wieder
der Vergangenheit an, der Anlauf war zu kurZ; die Erwartungen
Bismarcks -sind getäuscht, noch immer gilt das andere Wort von Blut
und Eisen.


Das Elsaß

bedeutsamer Interessen eines Großstaats finden sie im Reichstage
nur Zank um Finanz- und Personenfragen.

Die Anschauung, das Reich sei fertig, liegt auch dem Schlüsse der großen
Rede des Reichskanzlers im Abgeordnetenhause vom 10. Februar d. Is. zugrunde.
Er sagt, die deutsche Zersplitterung entspräche einem tiefen Zuge des deutschen Wesens,
der freilich die Quelle des politischen Elends sei, zugleich aber mit dem Reichtum und
der Innerlichkeit der deutschen Kultur eng zusammenhänge . . . Die jetzt endlich
gefundene politische Form könne daher nur ein föderativer Staat sein. Die
Wichtigkeit des Gegenstandes möge es gestatten, auch abseits des Themas hierauf
mit wenigen Worten einzugehen. Daß der Reichtum und die Innerlichkeit
unserer Kultur durch die Zersplitterung begünstigt oder gar hervorgerufen sei,
nutz ernstlich bezweifelt werden; unsere Kultur hat sich trotz der Zersplitterung
entwickelt, aber ist dadurch solange aufgehalten. Weder in England noch in Frankreich
haben Kultur und geistige Entwicklung unter der Einheit gelitten, vielmehr ist
beides zusammen gediehen. Daß in Deutschland derselbe Weg hätte eingeschlagen
werden können, dafür ist gerade der preußische Staat der beste Beweis. Der Herr
Ministerpräsident kann doch unmöglich der Meinung sein, daß die preußische
Kultur hinter denen der anderen Staaten zurückgeblieben sei. Ebensowenig
haben bisher die Provinzler, Ostpreußen, Märker, Sachsen, Westfalen, Rhein¬
länder, etwas von der besondern Richtung ihrer Stammesart aufgegeben, sie
sind keine Berliner geworden. Die Unterdrückung unseres Stammeslebens durch
einen Zentralstaat sowie die Abhängigkeit unserer Kultur von einer Mehrzahl
von Mittelpunkten ist eine Legende, die am wenigsten in Preußen ausgesprochen
werden sollte. Die vom Kanzler angeregten Gedanken kann man versuchen
dahin zu beantworten, daß alle politischen Kräfte ausschließlich Vereinigung ver¬
langen, wie die Römer das durch ihre laces andeuteten, daß dagegen alle Kultur¬
zweige ihre Eigenart ebensogut im einzelnen ausbilden, und in zahlreichen Mittel¬
punkten ebenso gedeihen. Für letztere wird bei den vom Kanzler richtig geschilderten
deutschen Neigungen noch lange gesorgt sein; beides nebeneinander kann ohne
erhebliche Konflikte, ohne gegenseitige Störung nicht nur bestehen, sondern sich
gegenseitig fördern. Politische Elemente können sich aber ohne Zusammenfassung
nicht bewähren, in der Organisation liegt vielmehr das ganze Geheimnis ihrer
Kraft. Ihr deutlichstes Beispiel aus neuerer Zeit ist Napoleon der Erste. Der
Kanzler hat somit recht, wenn er sagt, daß in der Zersplitterung, diesem tiefen
Zuge unseres Wesens, die Quelle des politischen Elends zu suchen sei; damit
hat er diese Neigung als Fehler, als Mangel an Selbstzucht zugunsten des
Ganzen, an Altruismus gekennzeichnet. Es ist noch immer unsere wichtigste
Aufgabe, diesen Fehler endlich abzutun und Unterordnung unter das
Ganze zu lernen. Leider gehören die starken Ansätze dazu schon wieder
der Vergangenheit an, der Anlauf war zu kurZ; die Erwartungen
Bismarcks -sind getäuscht, noch immer gilt das andere Wort von Blut
und Eisen.


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[0466] Das Elsaß bedeutsamer Interessen eines Großstaats finden sie im Reichstage nur Zank um Finanz- und Personenfragen. Die Anschauung, das Reich sei fertig, liegt auch dem Schlüsse der großen Rede des Reichskanzlers im Abgeordnetenhause vom 10. Februar d. Is. zugrunde. Er sagt, die deutsche Zersplitterung entspräche einem tiefen Zuge des deutschen Wesens, der freilich die Quelle des politischen Elends sei, zugleich aber mit dem Reichtum und der Innerlichkeit der deutschen Kultur eng zusammenhänge . . . Die jetzt endlich gefundene politische Form könne daher nur ein föderativer Staat sein. Die Wichtigkeit des Gegenstandes möge es gestatten, auch abseits des Themas hierauf mit wenigen Worten einzugehen. Daß der Reichtum und die Innerlichkeit unserer Kultur durch die Zersplitterung begünstigt oder gar hervorgerufen sei, nutz ernstlich bezweifelt werden; unsere Kultur hat sich trotz der Zersplitterung entwickelt, aber ist dadurch solange aufgehalten. Weder in England noch in Frankreich haben Kultur und geistige Entwicklung unter der Einheit gelitten, vielmehr ist beides zusammen gediehen. Daß in Deutschland derselbe Weg hätte eingeschlagen werden können, dafür ist gerade der preußische Staat der beste Beweis. Der Herr Ministerpräsident kann doch unmöglich der Meinung sein, daß die preußische Kultur hinter denen der anderen Staaten zurückgeblieben sei. Ebensowenig haben bisher die Provinzler, Ostpreußen, Märker, Sachsen, Westfalen, Rhein¬ länder, etwas von der besondern Richtung ihrer Stammesart aufgegeben, sie sind keine Berliner geworden. Die Unterdrückung unseres Stammeslebens durch einen Zentralstaat sowie die Abhängigkeit unserer Kultur von einer Mehrzahl von Mittelpunkten ist eine Legende, die am wenigsten in Preußen ausgesprochen werden sollte. Die vom Kanzler angeregten Gedanken kann man versuchen dahin zu beantworten, daß alle politischen Kräfte ausschließlich Vereinigung ver¬ langen, wie die Römer das durch ihre laces andeuteten, daß dagegen alle Kultur¬ zweige ihre Eigenart ebensogut im einzelnen ausbilden, und in zahlreichen Mittel¬ punkten ebenso gedeihen. Für letztere wird bei den vom Kanzler richtig geschilderten deutschen Neigungen noch lange gesorgt sein; beides nebeneinander kann ohne erhebliche Konflikte, ohne gegenseitige Störung nicht nur bestehen, sondern sich gegenseitig fördern. Politische Elemente können sich aber ohne Zusammenfassung nicht bewähren, in der Organisation liegt vielmehr das ganze Geheimnis ihrer Kraft. Ihr deutlichstes Beispiel aus neuerer Zeit ist Napoleon der Erste. Der Kanzler hat somit recht, wenn er sagt, daß in der Zersplitterung, diesem tiefen Zuge unseres Wesens, die Quelle des politischen Elends zu suchen sei; damit hat er diese Neigung als Fehler, als Mangel an Selbstzucht zugunsten des Ganzen, an Altruismus gekennzeichnet. Es ist noch immer unsere wichtigste Aufgabe, diesen Fehler endlich abzutun und Unterordnung unter das Ganze zu lernen. Leider gehören die starken Ansätze dazu schon wieder der Vergangenheit an, der Anlauf war zu kurZ; die Erwartungen Bismarcks -sind getäuscht, noch immer gilt das andere Wort von Blut und Eisen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/466>, abgerufen am 22.12.2024.