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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die große Politik und der Zustand Indiens

Volkes". Und nun glaubt man allen Ernstes, mit solchen Phrasen das Ziel
"Indien für die Inder", in ferner Zukunft die Unabhängigkeit erringen zu
können.

Uns erscheint das schon aus dem einen Grunde lächerlich, weil die ganze
bewaffnete Macht des Landes den Engländern zur Verfügung steht, während
Japan eine vortreffliche, wohlgeleitete und wohlgedrillte Armee besaß. Die
wichtige Waffe der Artillerie behält England ausschließlich den weißen Soldaten
vor. Engländer blicken nicht so optimistisch auf diesen Stand der Dinge. Es
wird betont, daß trotz aller Waffenfabrikations- und Waffeneinfuhrverbote die
Eingeborenen im Besitz gefährlicher Schußwaffen seien. Die Bombe ist als eine
neue hinzugekommen. Sie und der Revolver haben unter den nicht bewaffneten
Engländern und vollends unter den im englischen Dienste stehenden Indern
manche Opfer gefordert. Eine ungewisse Sache ist die Treue der eingeborenen
Truppen, ohne welche die englische Herrschaft sogleich erschüttert werden würde.
Noch sind keine Zeichen von Ungehorsam unter ihnen hervorgetreten. Ein Glück,
daß sie zum großen Teil aus Mohammedanern bestehen; die Anhänger des
Propheten sind noch immer nicht an dem aufrührerischen Treiben beteiligt; als
Minderheit im Lande ist ihr Platz naturgemäß an der Seite der fremden
Herrscher. Aber ganz kann man doch auch die Hindus nicht vom Militär
ausschließen, sonst gewinnt dieses noch mehr den Charakter eines Werkzeuges
gegen die Masse des Volkes. Ob uicht eines Tages die brahminische Agitation
in die Massen der Hindusoldateu dringt, weiß niemand.

Die Verschwörer lassen sich nicht leiten von dem, was wir vernünftige,
ruhige Überlegung nennen. Sie arbeiten still und im verborgenen weiter an
der Aufreizung der brahminischen Jugend. Seit wir im April 1909 an dieser
Stelle über die "Britischen Reformen zur Beruhigung Indiens" berichteten, sind
wieder höchst auffällige Begebenheiten eingetreten. Am 2. Juli hatte man im
Indischen Klub zu London eine Festlichkeit abgehalten, um die dort lebenden
Inder zu ehren und zu unterhalten. Am Schluß schoß ein junger Brahmine
einen der verdientesten und menschcnfteuudlichsten früheren anglo-indischen Beamten
mit dem Revolver kurzerhand nieder; auch ein herbeieilender Hindu-Arzt fiel
dein Rasenden zuni Opfer. Es erwies sich, daß der Mörder ein politischer
Fanatiker war. Im November machte der Vizekönig Lord Minto eine Reise
durch den Westen des Landes. In Ahmedabnd, unfern Bombay, fuhr er am
14. November mit seiner Gemahlin, begleitet von einer militärischen Schutzwache,
durch die Meuge. Plötzlich wurde ein Gegenstand vor seinen Wagen geschleudert,
der sich bei der Untersuchung als eine Bombe erwies, die nur deshalb nicht
geplatzt war, weil sie auf weichen Sand gefallen war. Fast gleichzeitig wurden
aus der Menge zwei Speere gegen den Vizekönig geschleudert, die von der Schutz¬
wache mit Säbeln abgewendet wurden. Die Sache machte tiefen Eindruck. Nur
um ein Haar blieb der erste Würdenträger des Landes vor der Ermordung
bewahrt. Und dann: dieser Vorfall ereignete sich im Lande der Mahratten, die


Die große Politik und der Zustand Indiens

Volkes". Und nun glaubt man allen Ernstes, mit solchen Phrasen das Ziel
„Indien für die Inder", in ferner Zukunft die Unabhängigkeit erringen zu
können.

Uns erscheint das schon aus dem einen Grunde lächerlich, weil die ganze
bewaffnete Macht des Landes den Engländern zur Verfügung steht, während
Japan eine vortreffliche, wohlgeleitete und wohlgedrillte Armee besaß. Die
wichtige Waffe der Artillerie behält England ausschließlich den weißen Soldaten
vor. Engländer blicken nicht so optimistisch auf diesen Stand der Dinge. Es
wird betont, daß trotz aller Waffenfabrikations- und Waffeneinfuhrverbote die
Eingeborenen im Besitz gefährlicher Schußwaffen seien. Die Bombe ist als eine
neue hinzugekommen. Sie und der Revolver haben unter den nicht bewaffneten
Engländern und vollends unter den im englischen Dienste stehenden Indern
manche Opfer gefordert. Eine ungewisse Sache ist die Treue der eingeborenen
Truppen, ohne welche die englische Herrschaft sogleich erschüttert werden würde.
Noch sind keine Zeichen von Ungehorsam unter ihnen hervorgetreten. Ein Glück,
daß sie zum großen Teil aus Mohammedanern bestehen; die Anhänger des
Propheten sind noch immer nicht an dem aufrührerischen Treiben beteiligt; als
Minderheit im Lande ist ihr Platz naturgemäß an der Seite der fremden
Herrscher. Aber ganz kann man doch auch die Hindus nicht vom Militär
ausschließen, sonst gewinnt dieses noch mehr den Charakter eines Werkzeuges
gegen die Masse des Volkes. Ob uicht eines Tages die brahminische Agitation
in die Massen der Hindusoldateu dringt, weiß niemand.

Die Verschwörer lassen sich nicht leiten von dem, was wir vernünftige,
ruhige Überlegung nennen. Sie arbeiten still und im verborgenen weiter an
der Aufreizung der brahminischen Jugend. Seit wir im April 1909 an dieser
Stelle über die „Britischen Reformen zur Beruhigung Indiens" berichteten, sind
wieder höchst auffällige Begebenheiten eingetreten. Am 2. Juli hatte man im
Indischen Klub zu London eine Festlichkeit abgehalten, um die dort lebenden
Inder zu ehren und zu unterhalten. Am Schluß schoß ein junger Brahmine
einen der verdientesten und menschcnfteuudlichsten früheren anglo-indischen Beamten
mit dem Revolver kurzerhand nieder; auch ein herbeieilender Hindu-Arzt fiel
dein Rasenden zuni Opfer. Es erwies sich, daß der Mörder ein politischer
Fanatiker war. Im November machte der Vizekönig Lord Minto eine Reise
durch den Westen des Landes. In Ahmedabnd, unfern Bombay, fuhr er am
14. November mit seiner Gemahlin, begleitet von einer militärischen Schutzwache,
durch die Meuge. Plötzlich wurde ein Gegenstand vor seinen Wagen geschleudert,
der sich bei der Untersuchung als eine Bombe erwies, die nur deshalb nicht
geplatzt war, weil sie auf weichen Sand gefallen war. Fast gleichzeitig wurden
aus der Menge zwei Speere gegen den Vizekönig geschleudert, die von der Schutz¬
wache mit Säbeln abgewendet wurden. Die Sache machte tiefen Eindruck. Nur
um ein Haar blieb der erste Würdenträger des Landes vor der Ermordung
bewahrt. Und dann: dieser Vorfall ereignete sich im Lande der Mahratten, die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/449>, abgerufen am 22.12.2024.