Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die große Politik und der Instand Indiens

würden, das ist eine ganz andere Sache. Wir glauben nicht daran. Beide
verdanken den Engländern außerordentlich viel. Der indische Koloß würde sich
aus eigenem noch gar nicht helfen können. Er würde Stadien der schlimmsten
Anarchie durchzumachen haben. Und dann käme doch wahrscheinlich wieder die
Unterwerfung unter die jetzigen Herren. Doch das ist gar nicht das Problem,
um das es sich bei der Frage handelt, ob England im Fall seiner Beteiligung
an einer europäischen Verwicklung auf höchst unangenehme Rückwirkungen zu
rechnen habe. Wie gering auch die Aussichten der Inder auf dauernden Sieg
sein mögen, sicher ist, daß der Ausbruch eines ernstlichen Aufruhrs die Engländer
nötigen würde, einen Teil ihrer Kräfte auf seine Bewältigung zu verwenden.

England selber denkt wohl weniger an die Rückwirkung eines etwaigen
indischen Aufstandes auf die Lage Europas. Ihm ist die Notwendigkeit, seine
wertvollste Kolonie sich zu erhalten, indem es sie gegen Aufruhr schirmt, wichtig
genug, um sich ihr ganz zu widmen. Es bedarf nicht eines Ausblicks in ent¬
ferntere Möglichkeiten. Es hat viele Sachverständige, die nach langjährigen:
Aufenthalt in Indien heimgekehrt sind und nun naturgemäß eine wichtige Stimme
haben, die aber fast nur die Sache selbst betrachten, so daß diese in England
fast allein erörtert wird. Und doch ist man dort keineswegs blind gegen die
Wirkungen, die der Sieg Japans über Rußland auf das indische Volk ausgeübt
hat. England selber hat sich bemüht, dem indischen Volke und seinen Fürsten,
soweit diese noch im Suzeränitätsverhältnis stehen, Furcht vor Rußland bei¬
zubringen. Je näher die Russen der indischen Nordgrenze kamen, als sie Turkistan,
Maro, die Telle-Turkmenen unterwarfen, vollends, als sie die transkaspische
Eisenbahn und gar die Militärbahn von Merw nach der afghanischen Nordgrenze
bauten, desto mehr verstand England, die Inder mit Sorge für ihre eigene
Sicherheit gegenüber den Russen zu erfüllen. Mit ihnen auch den Emir von
Afghanistan und den Maharadscha!) von Kaschmir, zwei Lehnsfürsten, die an:
ersten die Flut heranströmender Kosakenregimenter über sich ergehen zu lassen
hätten. Nun aber hat ein astatisches Volk, dessen Einwohnerschaft nur ein
Sechstel der indischen zählt, die gefürchteten Russen in einen: offenen Kriege völlig
besiegt I Man kann sich denken, wie das auf die Inder wirken mußte. Und
in der Tat hat seitdem die Unregierlichkeit der Inder erst ihren Anfang genommen.
Eben auf die gebildeten Kreise hat das Beispiel im höchsten Grade sinn¬
verwirrend gewirkt. Die heutigen Brahminen sind nicht mehr die träumerischen
Priester von ehedem. Auf Englands eigene Anregung haben sie sich Schul-
erziehung und Weltkenntnis verschafft. Sie haben in Indien studiert und ein
Teil ^von ihnen hat die Hochschulen von Enropa und Amerika besucht. So
klein dieser ist, so hat er doch wie ein Sauerteig in der trägen Masse des
Brahminentums gewirkt. Im geheimen in Priesterschulen und Konvention,
öffentlich auf den indischen Universitäten haben diese hochgebildeten Leute ihre
Kenntnisse weiter verbreitet. Die Schwäche Englands bildet einen vielbehandelten
Gegenstand. Daneben stellt man "das Recht und die Macht des indischen


Die große Politik und der Instand Indiens

würden, das ist eine ganz andere Sache. Wir glauben nicht daran. Beide
verdanken den Engländern außerordentlich viel. Der indische Koloß würde sich
aus eigenem noch gar nicht helfen können. Er würde Stadien der schlimmsten
Anarchie durchzumachen haben. Und dann käme doch wahrscheinlich wieder die
Unterwerfung unter die jetzigen Herren. Doch das ist gar nicht das Problem,
um das es sich bei der Frage handelt, ob England im Fall seiner Beteiligung
an einer europäischen Verwicklung auf höchst unangenehme Rückwirkungen zu
rechnen habe. Wie gering auch die Aussichten der Inder auf dauernden Sieg
sein mögen, sicher ist, daß der Ausbruch eines ernstlichen Aufruhrs die Engländer
nötigen würde, einen Teil ihrer Kräfte auf seine Bewältigung zu verwenden.

England selber denkt wohl weniger an die Rückwirkung eines etwaigen
indischen Aufstandes auf die Lage Europas. Ihm ist die Notwendigkeit, seine
wertvollste Kolonie sich zu erhalten, indem es sie gegen Aufruhr schirmt, wichtig
genug, um sich ihr ganz zu widmen. Es bedarf nicht eines Ausblicks in ent¬
ferntere Möglichkeiten. Es hat viele Sachverständige, die nach langjährigen:
Aufenthalt in Indien heimgekehrt sind und nun naturgemäß eine wichtige Stimme
haben, die aber fast nur die Sache selbst betrachten, so daß diese in England
fast allein erörtert wird. Und doch ist man dort keineswegs blind gegen die
Wirkungen, die der Sieg Japans über Rußland auf das indische Volk ausgeübt
hat. England selber hat sich bemüht, dem indischen Volke und seinen Fürsten,
soweit diese noch im Suzeränitätsverhältnis stehen, Furcht vor Rußland bei¬
zubringen. Je näher die Russen der indischen Nordgrenze kamen, als sie Turkistan,
Maro, die Telle-Turkmenen unterwarfen, vollends, als sie die transkaspische
Eisenbahn und gar die Militärbahn von Merw nach der afghanischen Nordgrenze
bauten, desto mehr verstand England, die Inder mit Sorge für ihre eigene
Sicherheit gegenüber den Russen zu erfüllen. Mit ihnen auch den Emir von
Afghanistan und den Maharadscha!) von Kaschmir, zwei Lehnsfürsten, die an:
ersten die Flut heranströmender Kosakenregimenter über sich ergehen zu lassen
hätten. Nun aber hat ein astatisches Volk, dessen Einwohnerschaft nur ein
Sechstel der indischen zählt, die gefürchteten Russen in einen: offenen Kriege völlig
besiegt I Man kann sich denken, wie das auf die Inder wirken mußte. Und
in der Tat hat seitdem die Unregierlichkeit der Inder erst ihren Anfang genommen.
Eben auf die gebildeten Kreise hat das Beispiel im höchsten Grade sinn¬
verwirrend gewirkt. Die heutigen Brahminen sind nicht mehr die träumerischen
Priester von ehedem. Auf Englands eigene Anregung haben sie sich Schul-
erziehung und Weltkenntnis verschafft. Sie haben in Indien studiert und ein
Teil ^von ihnen hat die Hochschulen von Enropa und Amerika besucht. So
klein dieser ist, so hat er doch wie ein Sauerteig in der trägen Masse des
Brahminentums gewirkt. Im geheimen in Priesterschulen und Konvention,
öffentlich auf den indischen Universitäten haben diese hochgebildeten Leute ihre
Kenntnisse weiter verbreitet. Die Schwäche Englands bildet einen vielbehandelten
Gegenstand. Daneben stellt man „das Recht und die Macht des indischen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0448" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315445"/>
          <fw type="header" place="top"> Die große Politik und der Instand Indiens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1960" prev="#ID_1959"> würden, das ist eine ganz andere Sache. Wir glauben nicht daran. Beide<lb/>
verdanken den Engländern außerordentlich viel. Der indische Koloß würde sich<lb/>
aus eigenem noch gar nicht helfen können. Er würde Stadien der schlimmsten<lb/>
Anarchie durchzumachen haben. Und dann käme doch wahrscheinlich wieder die<lb/>
Unterwerfung unter die jetzigen Herren. Doch das ist gar nicht das Problem,<lb/>
um das es sich bei der Frage handelt, ob England im Fall seiner Beteiligung<lb/>
an einer europäischen Verwicklung auf höchst unangenehme Rückwirkungen zu<lb/>
rechnen habe. Wie gering auch die Aussichten der Inder auf dauernden Sieg<lb/>
sein mögen, sicher ist, daß der Ausbruch eines ernstlichen Aufruhrs die Engländer<lb/>
nötigen würde, einen Teil ihrer Kräfte auf seine Bewältigung zu verwenden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1961" next="#ID_1962"> England selber denkt wohl weniger an die Rückwirkung eines etwaigen<lb/>
indischen Aufstandes auf die Lage Europas. Ihm ist die Notwendigkeit, seine<lb/>
wertvollste Kolonie sich zu erhalten, indem es sie gegen Aufruhr schirmt, wichtig<lb/>
genug, um sich ihr ganz zu widmen. Es bedarf nicht eines Ausblicks in ent¬<lb/>
ferntere Möglichkeiten. Es hat viele Sachverständige, die nach langjährigen:<lb/>
Aufenthalt in Indien heimgekehrt sind und nun naturgemäß eine wichtige Stimme<lb/>
haben, die aber fast nur die Sache selbst betrachten, so daß diese in England<lb/>
fast allein erörtert wird. Und doch ist man dort keineswegs blind gegen die<lb/>
Wirkungen, die der Sieg Japans über Rußland auf das indische Volk ausgeübt<lb/>
hat. England selber hat sich bemüht, dem indischen Volke und seinen Fürsten,<lb/>
soweit diese noch im Suzeränitätsverhältnis stehen, Furcht vor Rußland bei¬<lb/>
zubringen. Je näher die Russen der indischen Nordgrenze kamen, als sie Turkistan,<lb/>
Maro, die Telle-Turkmenen unterwarfen, vollends, als sie die transkaspische<lb/>
Eisenbahn und gar die Militärbahn von Merw nach der afghanischen Nordgrenze<lb/>
bauten, desto mehr verstand England, die Inder mit Sorge für ihre eigene<lb/>
Sicherheit gegenüber den Russen zu erfüllen. Mit ihnen auch den Emir von<lb/>
Afghanistan und den Maharadscha!) von Kaschmir, zwei Lehnsfürsten, die an:<lb/>
ersten die Flut heranströmender Kosakenregimenter über sich ergehen zu lassen<lb/>
hätten. Nun aber hat ein astatisches Volk, dessen Einwohnerschaft nur ein<lb/>
Sechstel der indischen zählt, die gefürchteten Russen in einen: offenen Kriege völlig<lb/>
besiegt I Man kann sich denken, wie das auf die Inder wirken mußte. Und<lb/>
in der Tat hat seitdem die Unregierlichkeit der Inder erst ihren Anfang genommen.<lb/>
Eben auf die gebildeten Kreise hat das Beispiel im höchsten Grade sinn¬<lb/>
verwirrend gewirkt. Die heutigen Brahminen sind nicht mehr die träumerischen<lb/>
Priester von ehedem. Auf Englands eigene Anregung haben sie sich Schul-<lb/>
erziehung und Weltkenntnis verschafft. Sie haben in Indien studiert und ein<lb/>
Teil ^von ihnen hat die Hochschulen von Enropa und Amerika besucht. So<lb/>
klein dieser ist, so hat er doch wie ein Sauerteig in der trägen Masse des<lb/>
Brahminentums gewirkt. Im geheimen in Priesterschulen und Konvention,<lb/>
öffentlich auf den indischen Universitäten haben diese hochgebildeten Leute ihre<lb/>
Kenntnisse weiter verbreitet. Die Schwäche Englands bildet einen vielbehandelten<lb/>
Gegenstand.  Daneben stellt man &#x201E;das Recht und die Macht des indischen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0448] Die große Politik und der Instand Indiens würden, das ist eine ganz andere Sache. Wir glauben nicht daran. Beide verdanken den Engländern außerordentlich viel. Der indische Koloß würde sich aus eigenem noch gar nicht helfen können. Er würde Stadien der schlimmsten Anarchie durchzumachen haben. Und dann käme doch wahrscheinlich wieder die Unterwerfung unter die jetzigen Herren. Doch das ist gar nicht das Problem, um das es sich bei der Frage handelt, ob England im Fall seiner Beteiligung an einer europäischen Verwicklung auf höchst unangenehme Rückwirkungen zu rechnen habe. Wie gering auch die Aussichten der Inder auf dauernden Sieg sein mögen, sicher ist, daß der Ausbruch eines ernstlichen Aufruhrs die Engländer nötigen würde, einen Teil ihrer Kräfte auf seine Bewältigung zu verwenden. England selber denkt wohl weniger an die Rückwirkung eines etwaigen indischen Aufstandes auf die Lage Europas. Ihm ist die Notwendigkeit, seine wertvollste Kolonie sich zu erhalten, indem es sie gegen Aufruhr schirmt, wichtig genug, um sich ihr ganz zu widmen. Es bedarf nicht eines Ausblicks in ent¬ ferntere Möglichkeiten. Es hat viele Sachverständige, die nach langjährigen: Aufenthalt in Indien heimgekehrt sind und nun naturgemäß eine wichtige Stimme haben, die aber fast nur die Sache selbst betrachten, so daß diese in England fast allein erörtert wird. Und doch ist man dort keineswegs blind gegen die Wirkungen, die der Sieg Japans über Rußland auf das indische Volk ausgeübt hat. England selber hat sich bemüht, dem indischen Volke und seinen Fürsten, soweit diese noch im Suzeränitätsverhältnis stehen, Furcht vor Rußland bei¬ zubringen. Je näher die Russen der indischen Nordgrenze kamen, als sie Turkistan, Maro, die Telle-Turkmenen unterwarfen, vollends, als sie die transkaspische Eisenbahn und gar die Militärbahn von Merw nach der afghanischen Nordgrenze bauten, desto mehr verstand England, die Inder mit Sorge für ihre eigene Sicherheit gegenüber den Russen zu erfüllen. Mit ihnen auch den Emir von Afghanistan und den Maharadscha!) von Kaschmir, zwei Lehnsfürsten, die an: ersten die Flut heranströmender Kosakenregimenter über sich ergehen zu lassen hätten. Nun aber hat ein astatisches Volk, dessen Einwohnerschaft nur ein Sechstel der indischen zählt, die gefürchteten Russen in einen: offenen Kriege völlig besiegt I Man kann sich denken, wie das auf die Inder wirken mußte. Und in der Tat hat seitdem die Unregierlichkeit der Inder erst ihren Anfang genommen. Eben auf die gebildeten Kreise hat das Beispiel im höchsten Grade sinn¬ verwirrend gewirkt. Die heutigen Brahminen sind nicht mehr die träumerischen Priester von ehedem. Auf Englands eigene Anregung haben sie sich Schul- erziehung und Weltkenntnis verschafft. Sie haben in Indien studiert und ein Teil ^von ihnen hat die Hochschulen von Enropa und Amerika besucht. So klein dieser ist, so hat er doch wie ein Sauerteig in der trägen Masse des Brahminentums gewirkt. Im geheimen in Priesterschulen und Konvention, öffentlich auf den indischen Universitäten haben diese hochgebildeten Leute ihre Kenntnisse weiter verbreitet. Die Schwäche Englands bildet einen vielbehandelten Gegenstand. Daneben stellt man „das Recht und die Macht des indischen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/448
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/448>, abgerufen am 21.12.2024.