Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches falls anzuwenden. Aber es scheint doch recht notwendig, daß man auf die von Maßgebliches und Unmaßgebliches falls anzuwenden. Aber es scheint doch recht notwendig, daß man auf die von <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0387" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315384"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1711" prev="#ID_1710" next="#ID_1712"> falls anzuwenden. Aber es scheint doch recht notwendig, daß man auf die von<lb/> dem großen Staatsmann erteilte Lehre immer wieder zurückkommt. Wenn der<lb/> Eindruck, daß die Wahlrechtsvorlage dieses Moment recht wenig beachtet hat, schon<lb/> bei der Veröffentlichung des Entwurfs entstehen mußte, so hat die Einführungs¬<lb/> rede des Ministerpräsidenten diesen Eindruck bedeutend vertieft. Das ergab sich<lb/> aus dem sehr nachdrücklichen Hinweis darauf, daß die Sehnsucht nach einer Ver-<lb/> besserung des Wahlrechts in Preußen nach dem Charakter der bestehenden Zustände<lb/> gar keinen rechten Grund habe. Der preußische Staatsbürger habe ja doch tat¬<lb/> sächlich alle Rechte, die er in einem geordneten Staatswesen füglich verlangen<lb/> könne, und jeden Einfluß auf das Gemeinwohl, der mit dem Interesse der<lb/> Allgemeinheit vereinbar sei. Dieser Grundgedanke der Rede trat recht stark hervor.<lb/> Aber daraus folgt noch nicht, daß die Einrichtungen des Wahlsystems dem eigensten<lb/> Rechtsbedürfnis und Rechtsbewußtsein des Volkes entsprechen. Eine Parallele drängt<lb/> sich auf in den Fragen der Sozialreform, die die neunziger Jahre des verflossenen<lb/> Jahrhunderts bewegten. Auch damals glaubten viele die Rechtsfragen zwischen<lb/> Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erschöpfen, wenn sie nachwiesen, daß die Arbeitgeber<lb/> gewissenhafte und fürsorgliche Herren ihrer Angestellten im Sinne ihres materiellen<lb/> Wohls waren. Daß ein Mensch es vorziehen kann, materiell schlechter gestellt<lb/> zu sein, wenn er nur gewisse Rechte und Freiheiten anerkannt sieht, schien vielen<lb/> damals unbegreiflich. Herrn v. Bethmann Hollweg soll es unvergessen sein, daß<lb/> er als Staatssekretär des Innern gleich seinem Vorgänger Grafen Posadowsky<lb/> gerade diese Fragen mit tiefgründiger Sachkenntnis und sorgsam wägender<lb/> Gerechtigkeit erörtert hat. Auch bei der Wahlrechtsvorlage aber spielt das in der<lb/> Phantasie wurzelnde Rechtsempfinden gegenüber dem trocknen, verstandesmäßigen<lb/> Nachweis, daß alles zum besten bestellt sei, eine berechtigte Rolle. Es wird immer<lb/> vergeblich sein, der aus unmittelbaren Eindrücken und realen Erfahrungen<lb/> geschöpften Vorstellung des geringen Mannes, daß er bei diesem Wahlsystem von<lb/> vornherein überstimmt und unterdrückt sei, mit statistischen Nachweisen zu begegnen.<lb/> Wäre es nun wirklich so bedenklich gewesen, diesen — gull sagen wir: — Vor¬<lb/> urteilen der Volksmeinung weiter engegenzukommen, als es in dem vorgelegten<lb/> Entwurf geschehen ist? Wir glauben, es hätte hier sehr viel mehr geschehen<lb/> können, ohne daß von einer wirklichen Demokratisierung des Wahlrechts die Rede<lb/> zu sein brauchte. Ein genügend fester Wille der Regierung, eine starke Initiative<lb/> und eine geschickte Vorbereitung der öffentlichen Meinung in der Weise, wie das<lb/> in einem modernen, zivilisierten Staat heutzutage nun einmal geschehen muß,<lb/> hätte einer wirklich über den Parteien stehenden Regierung eine sichere Mehrheit<lb/> im Abgeordnetenhause verschafft, und unter diesen Voraussetzungen hätte sich auch<lb/> das Herrenhaus — das trotz allen radikalen Schimpfereien und Spöttereien in<lb/> entscheidenden Fragen immer über eine, wenn auch knappe, Mehrheit von besonnenen,<lb/> weitblickenden und staatsmännisch veranlagten Männern verfügt — willig gesunden.<lb/> Die wohltätigen, ausgleichenden, beruhigenden, Vertrauen schaffenden.Wirkungen<lb/> einer solchen Lösung auf alle politischen Fragen und auf die Entwicklung der<lb/> nächsten Zukunft hätten kaum hoch genug eingeschätzt werden können. Jetzt werden<lb/> wir wohl auf alle Fälle mit dem Gegenteil rechnen müssen. Wir meinen dabei<lb/> nicht das ziemlich törichte Spiel mit revolutionären Gedanken, wie es die bürger¬<lb/> liche und soziale Demokratie jetzt liebt. Die Voraussetzungen einer Revolution sind<lb/> ganz andrer Art. Besonders die Sozialdemokratie schadet sich nur selbst mit<lb/> Demonstrationen, die der ruhig denkenden Mehrheit unsres Volkes auf die<lb/> Dauer lächerlich, langweilig oder gar widerwärtig erscheinen. Aber es<lb/> liegt eine Erschwerung einer gesunden Politik darin, wenn die von Hause</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0387]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
falls anzuwenden. Aber es scheint doch recht notwendig, daß man auf die von
dem großen Staatsmann erteilte Lehre immer wieder zurückkommt. Wenn der
Eindruck, daß die Wahlrechtsvorlage dieses Moment recht wenig beachtet hat, schon
bei der Veröffentlichung des Entwurfs entstehen mußte, so hat die Einführungs¬
rede des Ministerpräsidenten diesen Eindruck bedeutend vertieft. Das ergab sich
aus dem sehr nachdrücklichen Hinweis darauf, daß die Sehnsucht nach einer Ver-
besserung des Wahlrechts in Preußen nach dem Charakter der bestehenden Zustände
gar keinen rechten Grund habe. Der preußische Staatsbürger habe ja doch tat¬
sächlich alle Rechte, die er in einem geordneten Staatswesen füglich verlangen
könne, und jeden Einfluß auf das Gemeinwohl, der mit dem Interesse der
Allgemeinheit vereinbar sei. Dieser Grundgedanke der Rede trat recht stark hervor.
Aber daraus folgt noch nicht, daß die Einrichtungen des Wahlsystems dem eigensten
Rechtsbedürfnis und Rechtsbewußtsein des Volkes entsprechen. Eine Parallele drängt
sich auf in den Fragen der Sozialreform, die die neunziger Jahre des verflossenen
Jahrhunderts bewegten. Auch damals glaubten viele die Rechtsfragen zwischen
Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu erschöpfen, wenn sie nachwiesen, daß die Arbeitgeber
gewissenhafte und fürsorgliche Herren ihrer Angestellten im Sinne ihres materiellen
Wohls waren. Daß ein Mensch es vorziehen kann, materiell schlechter gestellt
zu sein, wenn er nur gewisse Rechte und Freiheiten anerkannt sieht, schien vielen
damals unbegreiflich. Herrn v. Bethmann Hollweg soll es unvergessen sein, daß
er als Staatssekretär des Innern gleich seinem Vorgänger Grafen Posadowsky
gerade diese Fragen mit tiefgründiger Sachkenntnis und sorgsam wägender
Gerechtigkeit erörtert hat. Auch bei der Wahlrechtsvorlage aber spielt das in der
Phantasie wurzelnde Rechtsempfinden gegenüber dem trocknen, verstandesmäßigen
Nachweis, daß alles zum besten bestellt sei, eine berechtigte Rolle. Es wird immer
vergeblich sein, der aus unmittelbaren Eindrücken und realen Erfahrungen
geschöpften Vorstellung des geringen Mannes, daß er bei diesem Wahlsystem von
vornherein überstimmt und unterdrückt sei, mit statistischen Nachweisen zu begegnen.
Wäre es nun wirklich so bedenklich gewesen, diesen — gull sagen wir: — Vor¬
urteilen der Volksmeinung weiter engegenzukommen, als es in dem vorgelegten
Entwurf geschehen ist? Wir glauben, es hätte hier sehr viel mehr geschehen
können, ohne daß von einer wirklichen Demokratisierung des Wahlrechts die Rede
zu sein brauchte. Ein genügend fester Wille der Regierung, eine starke Initiative
und eine geschickte Vorbereitung der öffentlichen Meinung in der Weise, wie das
in einem modernen, zivilisierten Staat heutzutage nun einmal geschehen muß,
hätte einer wirklich über den Parteien stehenden Regierung eine sichere Mehrheit
im Abgeordnetenhause verschafft, und unter diesen Voraussetzungen hätte sich auch
das Herrenhaus — das trotz allen radikalen Schimpfereien und Spöttereien in
entscheidenden Fragen immer über eine, wenn auch knappe, Mehrheit von besonnenen,
weitblickenden und staatsmännisch veranlagten Männern verfügt — willig gesunden.
Die wohltätigen, ausgleichenden, beruhigenden, Vertrauen schaffenden.Wirkungen
einer solchen Lösung auf alle politischen Fragen und auf die Entwicklung der
nächsten Zukunft hätten kaum hoch genug eingeschätzt werden können. Jetzt werden
wir wohl auf alle Fälle mit dem Gegenteil rechnen müssen. Wir meinen dabei
nicht das ziemlich törichte Spiel mit revolutionären Gedanken, wie es die bürger¬
liche und soziale Demokratie jetzt liebt. Die Voraussetzungen einer Revolution sind
ganz andrer Art. Besonders die Sozialdemokratie schadet sich nur selbst mit
Demonstrationen, die der ruhig denkenden Mehrheit unsres Volkes auf die
Dauer lächerlich, langweilig oder gar widerwärtig erscheinen. Aber es
liegt eine Erschwerung einer gesunden Politik darin, wenn die von Hause
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