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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Aus dem sogenannte" "Tande der Freiheit"

nicht entfernt die gesetzgeberischen Quängeleien und Drängeleien gefallen lassen
würden, wie sie sich diese stolzen und freien Republikaner tagtäglich bieten
lassen, ohne mit den Wimpern zu zucken I

Wir haben es hier mit der hochinteressanter Tatsache zu tun, daß der
bis zur äußersten Konsequenz angewandte demokratische Grundsatz der unbeschränkten
Majoritätsherrschast sich gewissermaßen überschlägt und zur unerhörten Bedrückung
und Drangsalierung der Minorität führt. Ja, und dabei ist es zumeist noch
recht fraglich, ob es sich da überhaupt noch immer um wirkliche Majoritäten
handelt, und nicht vielleicht um die drückende Herrschaft einer oft nur kleinen,
dabei vorzüglich organisierten, sowie zäh und zielbewußt arbeitenden Minorität
über die große, aber unorganisierte und untereinander in Folge von allerlei
Eigenbrödeleien uneinige Majorität!

Unterstützt wird die sieghafte Minorität in diesen: Kampfe noch durch ein
paar sehr stark im amerikanischen Volkscharakter hervortretende Züge und Eigen^
tümlichkeiten.

Es ist das erstens der von der Ritterlichkeit des Amerikaners -- und
zwar bis zum verwegen aussehenden wild-westlichen Cowboy herab -- ein
schönes Zeugnis ablegende, in der Übertreibung aber freilich oft grotesk wirkende
Frauendienst, welcher zur direkten Folge hat, daß der Einfluß der "Ladies"
auf die Politik ein ganz erstaunlich großer ist. Das gilt aber nicht etwa nur
von denjenigen Staaten in der Union, in denen die Frauen das Stimmrecht
errungen haben, sondern erst recht in den Staaten ohne dies Stimmrecht.

Es wirkt da ferner noch ein Umstand mit, welcher dem amerikanischen
Volkscharakter zwar kein rühmliches Zeugnis ausstellt, den aber der Freund
und Verehrer dieses großen, rührigen, unglaublich tatkräftigen und geistig bei¬
spiellos regsamen Volkes ebenso wenig verschweigen darf, wie etwa ein Maler
darauf verzichten kann, auf seinem Bilde den Schatten um so stärker zu betonen,
je Heller er die Beleuchtung gewählt hat. Diese Schattenseite im amerikanischen
Volkscharakter, besonders aber unter den leitenden Politikern, ist der Hang
zur . . . Heuchelei! Manche Vorgänge im amerikanischen Volksleben sind
schlechterdings unverständlich, wenn man die Rolle, welche diese Heuchelei darin
spielt, nicht kennt, oder wenn man auch nur ihre Tragweite unterschätzt.

Dabei kann man diesen unschönen Zug nicht etwa auch noch als ein Erb¬
stück Kalvins und der Puritaner bezeichnen. Denn wenn man auch der
puritanischen Gedankensphäre persönlich noch so fern steht, so erfordert es einfach die
Pflicht der Gerechtigkeit, diesen Männern zuzustehen, daß sie zwar finstere Zeloten
und fanatische Eiferer waren, aber daß sie gleichzeitig auch Fanatiker aus
innigster ehrlicher Überzeugung gewesen sind. Das kann man aber ihren
heutigen Anhängern und Nachbetern keineswegs mit demselben Rechte nachrühmen.

Was aber speziell die Heuchelei der die Drähte ziehenden Politiker und
ihre Feigheit der öffentlichen Meinung gegenüber anlangt, so kann man sich ja
dabei auf keinen Geringeren berufen als den Austauschprofessor Dr. George
Moore, der ja erst vor kurzen: in seiner Antrittsvorlesung in der Berliner
Universität mit großen: Freimut hierüber sprach. Dies Eingeständnis mag
dem amerikanischen Professor nicht leicht geworden sein, aber es ist und bleibt
wahr, daß dieser Mangel an Mut und überzeugungstreue die Hauptschuld
trägt an den meisten der schweren übelstände auf den: Gebiete der amerikanischen
Politik.

Indirekt ist aber uuziveifelhaft dieser Hang zur Bigotterie unter den heutigen
Ungko-Amerikanern doch noch auf die Nachwirkung des Geistes der puritanischen


Aus dem sogenannte» „Tande der Freiheit"

nicht entfernt die gesetzgeberischen Quängeleien und Drängeleien gefallen lassen
würden, wie sie sich diese stolzen und freien Republikaner tagtäglich bieten
lassen, ohne mit den Wimpern zu zucken I

Wir haben es hier mit der hochinteressanter Tatsache zu tun, daß der
bis zur äußersten Konsequenz angewandte demokratische Grundsatz der unbeschränkten
Majoritätsherrschast sich gewissermaßen überschlägt und zur unerhörten Bedrückung
und Drangsalierung der Minorität führt. Ja, und dabei ist es zumeist noch
recht fraglich, ob es sich da überhaupt noch immer um wirkliche Majoritäten
handelt, und nicht vielleicht um die drückende Herrschaft einer oft nur kleinen,
dabei vorzüglich organisierten, sowie zäh und zielbewußt arbeitenden Minorität
über die große, aber unorganisierte und untereinander in Folge von allerlei
Eigenbrödeleien uneinige Majorität!

Unterstützt wird die sieghafte Minorität in diesen: Kampfe noch durch ein
paar sehr stark im amerikanischen Volkscharakter hervortretende Züge und Eigen^
tümlichkeiten.

Es ist das erstens der von der Ritterlichkeit des Amerikaners — und
zwar bis zum verwegen aussehenden wild-westlichen Cowboy herab — ein
schönes Zeugnis ablegende, in der Übertreibung aber freilich oft grotesk wirkende
Frauendienst, welcher zur direkten Folge hat, daß der Einfluß der „Ladies"
auf die Politik ein ganz erstaunlich großer ist. Das gilt aber nicht etwa nur
von denjenigen Staaten in der Union, in denen die Frauen das Stimmrecht
errungen haben, sondern erst recht in den Staaten ohne dies Stimmrecht.

Es wirkt da ferner noch ein Umstand mit, welcher dem amerikanischen
Volkscharakter zwar kein rühmliches Zeugnis ausstellt, den aber der Freund
und Verehrer dieses großen, rührigen, unglaublich tatkräftigen und geistig bei¬
spiellos regsamen Volkes ebenso wenig verschweigen darf, wie etwa ein Maler
darauf verzichten kann, auf seinem Bilde den Schatten um so stärker zu betonen,
je Heller er die Beleuchtung gewählt hat. Diese Schattenseite im amerikanischen
Volkscharakter, besonders aber unter den leitenden Politikern, ist der Hang
zur . . . Heuchelei! Manche Vorgänge im amerikanischen Volksleben sind
schlechterdings unverständlich, wenn man die Rolle, welche diese Heuchelei darin
spielt, nicht kennt, oder wenn man auch nur ihre Tragweite unterschätzt.

Dabei kann man diesen unschönen Zug nicht etwa auch noch als ein Erb¬
stück Kalvins und der Puritaner bezeichnen. Denn wenn man auch der
puritanischen Gedankensphäre persönlich noch so fern steht, so erfordert es einfach die
Pflicht der Gerechtigkeit, diesen Männern zuzustehen, daß sie zwar finstere Zeloten
und fanatische Eiferer waren, aber daß sie gleichzeitig auch Fanatiker aus
innigster ehrlicher Überzeugung gewesen sind. Das kann man aber ihren
heutigen Anhängern und Nachbetern keineswegs mit demselben Rechte nachrühmen.

Was aber speziell die Heuchelei der die Drähte ziehenden Politiker und
ihre Feigheit der öffentlichen Meinung gegenüber anlangt, so kann man sich ja
dabei auf keinen Geringeren berufen als den Austauschprofessor Dr. George
Moore, der ja erst vor kurzen: in seiner Antrittsvorlesung in der Berliner
Universität mit großen: Freimut hierüber sprach. Dies Eingeständnis mag
dem amerikanischen Professor nicht leicht geworden sein, aber es ist und bleibt
wahr, daß dieser Mangel an Mut und überzeugungstreue die Hauptschuld
trägt an den meisten der schweren übelstände auf den: Gebiete der amerikanischen
Politik.

Indirekt ist aber uuziveifelhaft dieser Hang zur Bigotterie unter den heutigen
Ungko-Amerikanern doch noch auf die Nachwirkung des Geistes der puritanischen


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[0376] Aus dem sogenannte» „Tande der Freiheit" nicht entfernt die gesetzgeberischen Quängeleien und Drängeleien gefallen lassen würden, wie sie sich diese stolzen und freien Republikaner tagtäglich bieten lassen, ohne mit den Wimpern zu zucken I Wir haben es hier mit der hochinteressanter Tatsache zu tun, daß der bis zur äußersten Konsequenz angewandte demokratische Grundsatz der unbeschränkten Majoritätsherrschast sich gewissermaßen überschlägt und zur unerhörten Bedrückung und Drangsalierung der Minorität führt. Ja, und dabei ist es zumeist noch recht fraglich, ob es sich da überhaupt noch immer um wirkliche Majoritäten handelt, und nicht vielleicht um die drückende Herrschaft einer oft nur kleinen, dabei vorzüglich organisierten, sowie zäh und zielbewußt arbeitenden Minorität über die große, aber unorganisierte und untereinander in Folge von allerlei Eigenbrödeleien uneinige Majorität! Unterstützt wird die sieghafte Minorität in diesen: Kampfe noch durch ein paar sehr stark im amerikanischen Volkscharakter hervortretende Züge und Eigen^ tümlichkeiten. Es ist das erstens der von der Ritterlichkeit des Amerikaners — und zwar bis zum verwegen aussehenden wild-westlichen Cowboy herab — ein schönes Zeugnis ablegende, in der Übertreibung aber freilich oft grotesk wirkende Frauendienst, welcher zur direkten Folge hat, daß der Einfluß der „Ladies" auf die Politik ein ganz erstaunlich großer ist. Das gilt aber nicht etwa nur von denjenigen Staaten in der Union, in denen die Frauen das Stimmrecht errungen haben, sondern erst recht in den Staaten ohne dies Stimmrecht. Es wirkt da ferner noch ein Umstand mit, welcher dem amerikanischen Volkscharakter zwar kein rühmliches Zeugnis ausstellt, den aber der Freund und Verehrer dieses großen, rührigen, unglaublich tatkräftigen und geistig bei¬ spiellos regsamen Volkes ebenso wenig verschweigen darf, wie etwa ein Maler darauf verzichten kann, auf seinem Bilde den Schatten um so stärker zu betonen, je Heller er die Beleuchtung gewählt hat. Diese Schattenseite im amerikanischen Volkscharakter, besonders aber unter den leitenden Politikern, ist der Hang zur . . . Heuchelei! Manche Vorgänge im amerikanischen Volksleben sind schlechterdings unverständlich, wenn man die Rolle, welche diese Heuchelei darin spielt, nicht kennt, oder wenn man auch nur ihre Tragweite unterschätzt. Dabei kann man diesen unschönen Zug nicht etwa auch noch als ein Erb¬ stück Kalvins und der Puritaner bezeichnen. Denn wenn man auch der puritanischen Gedankensphäre persönlich noch so fern steht, so erfordert es einfach die Pflicht der Gerechtigkeit, diesen Männern zuzustehen, daß sie zwar finstere Zeloten und fanatische Eiferer waren, aber daß sie gleichzeitig auch Fanatiker aus innigster ehrlicher Überzeugung gewesen sind. Das kann man aber ihren heutigen Anhängern und Nachbetern keineswegs mit demselben Rechte nachrühmen. Was aber speziell die Heuchelei der die Drähte ziehenden Politiker und ihre Feigheit der öffentlichen Meinung gegenüber anlangt, so kann man sich ja dabei auf keinen Geringeren berufen als den Austauschprofessor Dr. George Moore, der ja erst vor kurzen: in seiner Antrittsvorlesung in der Berliner Universität mit großen: Freimut hierüber sprach. Dies Eingeständnis mag dem amerikanischen Professor nicht leicht geworden sein, aber es ist und bleibt wahr, daß dieser Mangel an Mut und überzeugungstreue die Hauptschuld trägt an den meisten der schweren übelstände auf den: Gebiete der amerikanischen Politik. Indirekt ist aber uuziveifelhaft dieser Hang zur Bigotterie unter den heutigen Ungko-Amerikanern doch noch auf die Nachwirkung des Geistes der puritanischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/376>, abgerufen am 22.12.2024.