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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Nationalliberale, Regierung und Konservative

Soldin, zum Siege, so drang die agrarisch-konservative Lesart in die Welt:
nur die konservative Weltanschauung vermag der roten Flut Widerstand zu
leisten, nur das Land bietet noch Sicherheit gegen den Umsturz! Der Zusammen¬
bruch des Konservatismus in Moabit, sein einschrumpfen im Königreich Sachsen,
die schweren Verluste der Zentrumspartei bei verschiedenen Reichstagsnachwahlen
bedeckte man mit freundlichen: Stillschweigen. Die preußische Regierung und
wohl auch die Reichskanzlei hielten es jedenfalls von jetzt ab für zweckmäßig,
sich auf Zentrum und Agrarkonservative zu stützen. Ungehindert arbeitet gegen¬
wärtig im Lande der Regierungsapparat für diese Kombination und von der
zeitweiligen Duldung des Nationalliberalismus in Beamtenkreisen ist man
mittlerweile ungeniert zur Maßregelung der nationalliberalen Beamten über¬
gegangen. Die Nationalliberalen sollen offenbar mürbe gemacht werden, damit
sie sich entschließen neben Zentrum und Konservativen wieder der Dritte im
Bunde zu werden. Man streichelt den ziemlich unschädlichen Freisinn und hat
nichts dagegen, daß dessen aufgeregte Bestandteile im Verein mit der Demokratie
dem nationalen und gemäßigten Liberalismus das Leben möglichst sauer machen.
Unter solchen Umständen wird von der nationalliberalen Partei ein hohes Maß
von taktischer Geschicklichkeit, aber auch von Festigkeit verlangt.

Beachtet man alle diese Momente, so gewinnt die preußische Wahlrechts¬
vorlage eine doppelte Bedeutung. Einmal ist sie an sich ein Prüfstein für den
nationalen Liberalismus. In weiten Kreisen des nationalen Bürgertums ist
der Wunsch verbreitet, das preußische Parlament möge eine Zusammensetzung
erhalten, die auch den modernen Triebkräften in: Volke: Jndustrialismus, Arbeiter¬
bewegung und städtisches Kulturleben den gebührenden Einfluß einräumt und
dementsprechend das agrarisch-klerikale Übergewicht im Abgeordnetenhause zurück¬
treten läßt. Man verspricht sich mit dem Ausgleich der verschiedenen Wahl¬
rechte in Nord und Süd eine Festigung des Reichsgedankens, eine Mäßigung
der sozialradikalen Bewegung und eine Politisierung des ein wenig hinter die
Front geratenen Bürgertums, ferner eine zweckmäßigere Verwaltung und ein volks¬
tümlicheres Regiment in Preußen. Alle diese Dinge zu erreichen, muß natürlich
die Liberalen zur höchsten politischen und taktischen Leistungsfähigkeit anspornen.
Verlieren sie diese Schlacht gegen die Agrarkonservativen, so ist ihre Gesamt¬
position in Deutschland auf Jahre hinaus erschüttert.

Die zweite Bedeutung liegt darin, daß es der Rechten darauf ankommt,
die Natioualliberaleu wieder an die Seite der Konservativen und des Zentrums
zu zwingen und dadurch einer mehr liberalen Orientierung unserer Politik in
Preußen und im Reiche vorzubeugen. Zu diesem Zweck werden gegenwärtig
vom Zentrum und von den Konservativen die Nationalliberalen, die auf klare
Scheidung vom Bunde der Landwirte letzthin gedrängt und bei der sogenannten
Reichsfinanzreform den Bruch des Besitzsteuerkompromisses der Konservativen
mit dem Abrücken von der neuen Mehrheit beantwortet hatten, viel schärfer als
alle anderen Parteien, die Sozialdemokratie eingeschlossen, bekämpft. Nicht


Nationalliberale, Regierung und Konservative

Soldin, zum Siege, so drang die agrarisch-konservative Lesart in die Welt:
nur die konservative Weltanschauung vermag der roten Flut Widerstand zu
leisten, nur das Land bietet noch Sicherheit gegen den Umsturz! Der Zusammen¬
bruch des Konservatismus in Moabit, sein einschrumpfen im Königreich Sachsen,
die schweren Verluste der Zentrumspartei bei verschiedenen Reichstagsnachwahlen
bedeckte man mit freundlichen: Stillschweigen. Die preußische Regierung und
wohl auch die Reichskanzlei hielten es jedenfalls von jetzt ab für zweckmäßig,
sich auf Zentrum und Agrarkonservative zu stützen. Ungehindert arbeitet gegen¬
wärtig im Lande der Regierungsapparat für diese Kombination und von der
zeitweiligen Duldung des Nationalliberalismus in Beamtenkreisen ist man
mittlerweile ungeniert zur Maßregelung der nationalliberalen Beamten über¬
gegangen. Die Nationalliberalen sollen offenbar mürbe gemacht werden, damit
sie sich entschließen neben Zentrum und Konservativen wieder der Dritte im
Bunde zu werden. Man streichelt den ziemlich unschädlichen Freisinn und hat
nichts dagegen, daß dessen aufgeregte Bestandteile im Verein mit der Demokratie
dem nationalen und gemäßigten Liberalismus das Leben möglichst sauer machen.
Unter solchen Umständen wird von der nationalliberalen Partei ein hohes Maß
von taktischer Geschicklichkeit, aber auch von Festigkeit verlangt.

Beachtet man alle diese Momente, so gewinnt die preußische Wahlrechts¬
vorlage eine doppelte Bedeutung. Einmal ist sie an sich ein Prüfstein für den
nationalen Liberalismus. In weiten Kreisen des nationalen Bürgertums ist
der Wunsch verbreitet, das preußische Parlament möge eine Zusammensetzung
erhalten, die auch den modernen Triebkräften in: Volke: Jndustrialismus, Arbeiter¬
bewegung und städtisches Kulturleben den gebührenden Einfluß einräumt und
dementsprechend das agrarisch-klerikale Übergewicht im Abgeordnetenhause zurück¬
treten läßt. Man verspricht sich mit dem Ausgleich der verschiedenen Wahl¬
rechte in Nord und Süd eine Festigung des Reichsgedankens, eine Mäßigung
der sozialradikalen Bewegung und eine Politisierung des ein wenig hinter die
Front geratenen Bürgertums, ferner eine zweckmäßigere Verwaltung und ein volks¬
tümlicheres Regiment in Preußen. Alle diese Dinge zu erreichen, muß natürlich
die Liberalen zur höchsten politischen und taktischen Leistungsfähigkeit anspornen.
Verlieren sie diese Schlacht gegen die Agrarkonservativen, so ist ihre Gesamt¬
position in Deutschland auf Jahre hinaus erschüttert.

Die zweite Bedeutung liegt darin, daß es der Rechten darauf ankommt,
die Natioualliberaleu wieder an die Seite der Konservativen und des Zentrums
zu zwingen und dadurch einer mehr liberalen Orientierung unserer Politik in
Preußen und im Reiche vorzubeugen. Zu diesem Zweck werden gegenwärtig
vom Zentrum und von den Konservativen die Nationalliberalen, die auf klare
Scheidung vom Bunde der Landwirte letzthin gedrängt und bei der sogenannten
Reichsfinanzreform den Bruch des Besitzsteuerkompromisses der Konservativen
mit dem Abrücken von der neuen Mehrheit beantwortet hatten, viel schärfer als
alle anderen Parteien, die Sozialdemokratie eingeschlossen, bekämpft. Nicht


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[0351] Nationalliberale, Regierung und Konservative Soldin, zum Siege, so drang die agrarisch-konservative Lesart in die Welt: nur die konservative Weltanschauung vermag der roten Flut Widerstand zu leisten, nur das Land bietet noch Sicherheit gegen den Umsturz! Der Zusammen¬ bruch des Konservatismus in Moabit, sein einschrumpfen im Königreich Sachsen, die schweren Verluste der Zentrumspartei bei verschiedenen Reichstagsnachwahlen bedeckte man mit freundlichen: Stillschweigen. Die preußische Regierung und wohl auch die Reichskanzlei hielten es jedenfalls von jetzt ab für zweckmäßig, sich auf Zentrum und Agrarkonservative zu stützen. Ungehindert arbeitet gegen¬ wärtig im Lande der Regierungsapparat für diese Kombination und von der zeitweiligen Duldung des Nationalliberalismus in Beamtenkreisen ist man mittlerweile ungeniert zur Maßregelung der nationalliberalen Beamten über¬ gegangen. Die Nationalliberalen sollen offenbar mürbe gemacht werden, damit sie sich entschließen neben Zentrum und Konservativen wieder der Dritte im Bunde zu werden. Man streichelt den ziemlich unschädlichen Freisinn und hat nichts dagegen, daß dessen aufgeregte Bestandteile im Verein mit der Demokratie dem nationalen und gemäßigten Liberalismus das Leben möglichst sauer machen. Unter solchen Umständen wird von der nationalliberalen Partei ein hohes Maß von taktischer Geschicklichkeit, aber auch von Festigkeit verlangt. Beachtet man alle diese Momente, so gewinnt die preußische Wahlrechts¬ vorlage eine doppelte Bedeutung. Einmal ist sie an sich ein Prüfstein für den nationalen Liberalismus. In weiten Kreisen des nationalen Bürgertums ist der Wunsch verbreitet, das preußische Parlament möge eine Zusammensetzung erhalten, die auch den modernen Triebkräften in: Volke: Jndustrialismus, Arbeiter¬ bewegung und städtisches Kulturleben den gebührenden Einfluß einräumt und dementsprechend das agrarisch-klerikale Übergewicht im Abgeordnetenhause zurück¬ treten läßt. Man verspricht sich mit dem Ausgleich der verschiedenen Wahl¬ rechte in Nord und Süd eine Festigung des Reichsgedankens, eine Mäßigung der sozialradikalen Bewegung und eine Politisierung des ein wenig hinter die Front geratenen Bürgertums, ferner eine zweckmäßigere Verwaltung und ein volks¬ tümlicheres Regiment in Preußen. Alle diese Dinge zu erreichen, muß natürlich die Liberalen zur höchsten politischen und taktischen Leistungsfähigkeit anspornen. Verlieren sie diese Schlacht gegen die Agrarkonservativen, so ist ihre Gesamt¬ position in Deutschland auf Jahre hinaus erschüttert. Die zweite Bedeutung liegt darin, daß es der Rechten darauf ankommt, die Natioualliberaleu wieder an die Seite der Konservativen und des Zentrums zu zwingen und dadurch einer mehr liberalen Orientierung unserer Politik in Preußen und im Reiche vorzubeugen. Zu diesem Zweck werden gegenwärtig vom Zentrum und von den Konservativen die Nationalliberalen, die auf klare Scheidung vom Bunde der Landwirte letzthin gedrängt und bei der sogenannten Reichsfinanzreform den Bruch des Besitzsteuerkompromisses der Konservativen mit dem Abrücken von der neuen Mehrheit beantwortet hatten, viel schärfer als alle anderen Parteien, die Sozialdemokratie eingeschlossen, bekämpft. Nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/351>, abgerufen am 19.06.2024.