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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Georg Frechcrr von l^crtling

ans nicht, wie er meint, durch eine vernünftige Philosophie begründen läßt.
Richt doch jener Glaube auf dem Glauben, daß Gott anders handeln könnte,
als er handelt, daß seiner Allmacht durch seine Naturgesetze keine Schranken
gesetzt siud. Das Bittgebet als solches schließt aber auch einen Zweifel um
Gottes vorschauende Weisheit in sich.

Daraus, daß der Katholizismus uur den Wissenschaften, die keine oder doch
ruir ganz entfernte Berührungspunkte mit religiösen Problemen bieten, wie die
Chemie, Physik, vollkommen freien Spielraum gewährt, den übrigen aber
nur dann Existenzberechtigung zuerkennt, wenn sie sich unter das Joch des
Katholizismus beugen, diesem Gefolgschaft leisten, mit einem Worte sich
ihres Charakters als Wissenschaft begeben, folgt mit zwingender Notwendigkeit
das auffallende Zurückbleiben der deutschen Katholiken auf dein Gebiete
der Wissenschaft, das den Zentrumsführcr so bekümmert macht und an
dem alle seine Reden, Notrufe und der Bestand der Görres-Gesellschaft
nichts ändern werden und nichts ändern können. Die Wissenschaft duldet nun
einmal keine Einmischung einer Autorität, sie ist konfessionslos. Sehr beherzigens¬
wert ist uoch bellte, obwohl fast ein halbes Jahrhundert schon darüber hinweg¬
gegangen, das die gleiche Frage, die ungeheure wissenschaftliche Rückständigkeit
der deutschen Katholiken behandelnde dritte Kapitel "Unsere Lage" der 1801
erschienenen Schrift "Die Freiheit der Wissenschaft" des Münchner Philosophie-
Professors Jakob Froh schaun, er.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Hertling 1892 ein Buch
über "John Locke und die Schule vou Cambridge" veröffentlicht hat. Die
Gedanken, die das Haupt des englischen Sensualismus in seinem berühmten
Versuche über den menschlichen Verstand vertritt, lassen sich durchaus nicht zu
einer in sich harmonisch geschlossenen und widerspruchsfreien Einheit verbinden.
Sehr richtig sagt der Altmeister Kant in dem die Geschichte der reinen Vernunft
behandelnden vierten Hauptstücke der transzendentalen Methvdenlehre: "Wenigstens
verfuhr Epikur seinerseits viel konsequenter nach seinem Seusualsystem (denn er
ging mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze der Erfahrung hinaus), als
Aristoteles und Locke (vornehmlich aber der letztere), der, nachdem er alle
Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet hatte, so weit im Gebrauche
derselben geht, daß er behauptet: man könne das Dasein Gottes und die Un¬
sterblichkeit der Seele, obgleich beide Gegenstände ganz außer den Grenzen
möglicher Erfahrung liegen, ebenso evident beweisen als irgendeinen mathe¬
matischen Lehrsatz." Dieser Mangel an Einheit in Lockes Philosophie legte
Hertling die Frage nähe, welches die Faktoren gewesen sein mögen, unter deren
Einwirkung sich verschiedene Elemente in seinem Gedankenzusammenhänge ent¬
wickelt haben. Einen dieser Faktoren glaubt der Verfasser in der Schule der
platonisierenden Theologen von Cambridge aufzeigen zu können, mit deren
engerem und weiterem Kreise Locke durch mannigfache Bande persönlicher Freund¬
schaft und religiöser wie kirchlich-politischer Übereinstimmung verknüpft war.


Georg Frechcrr von l^crtling

ans nicht, wie er meint, durch eine vernünftige Philosophie begründen läßt.
Richt doch jener Glaube auf dem Glauben, daß Gott anders handeln könnte,
als er handelt, daß seiner Allmacht durch seine Naturgesetze keine Schranken
gesetzt siud. Das Bittgebet als solches schließt aber auch einen Zweifel um
Gottes vorschauende Weisheit in sich.

Daraus, daß der Katholizismus uur den Wissenschaften, die keine oder doch
ruir ganz entfernte Berührungspunkte mit religiösen Problemen bieten, wie die
Chemie, Physik, vollkommen freien Spielraum gewährt, den übrigen aber
nur dann Existenzberechtigung zuerkennt, wenn sie sich unter das Joch des
Katholizismus beugen, diesem Gefolgschaft leisten, mit einem Worte sich
ihres Charakters als Wissenschaft begeben, folgt mit zwingender Notwendigkeit
das auffallende Zurückbleiben der deutschen Katholiken auf dein Gebiete
der Wissenschaft, das den Zentrumsführcr so bekümmert macht und an
dem alle seine Reden, Notrufe und der Bestand der Görres-Gesellschaft
nichts ändern werden und nichts ändern können. Die Wissenschaft duldet nun
einmal keine Einmischung einer Autorität, sie ist konfessionslos. Sehr beherzigens¬
wert ist uoch bellte, obwohl fast ein halbes Jahrhundert schon darüber hinweg¬
gegangen, das die gleiche Frage, die ungeheure wissenschaftliche Rückständigkeit
der deutschen Katholiken behandelnde dritte Kapitel „Unsere Lage" der 1801
erschienenen Schrift „Die Freiheit der Wissenschaft" des Münchner Philosophie-
Professors Jakob Froh schaun, er.

Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Hertling 1892 ein Buch
über „John Locke und die Schule vou Cambridge" veröffentlicht hat. Die
Gedanken, die das Haupt des englischen Sensualismus in seinem berühmten
Versuche über den menschlichen Verstand vertritt, lassen sich durchaus nicht zu
einer in sich harmonisch geschlossenen und widerspruchsfreien Einheit verbinden.
Sehr richtig sagt der Altmeister Kant in dem die Geschichte der reinen Vernunft
behandelnden vierten Hauptstücke der transzendentalen Methvdenlehre: „Wenigstens
verfuhr Epikur seinerseits viel konsequenter nach seinem Seusualsystem (denn er
ging mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze der Erfahrung hinaus), als
Aristoteles und Locke (vornehmlich aber der letztere), der, nachdem er alle
Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet hatte, so weit im Gebrauche
derselben geht, daß er behauptet: man könne das Dasein Gottes und die Un¬
sterblichkeit der Seele, obgleich beide Gegenstände ganz außer den Grenzen
möglicher Erfahrung liegen, ebenso evident beweisen als irgendeinen mathe¬
matischen Lehrsatz." Dieser Mangel an Einheit in Lockes Philosophie legte
Hertling die Frage nähe, welches die Faktoren gewesen sein mögen, unter deren
Einwirkung sich verschiedene Elemente in seinem Gedankenzusammenhänge ent¬
wickelt haben. Einen dieser Faktoren glaubt der Verfasser in der Schule der
platonisierenden Theologen von Cambridge aufzeigen zu können, mit deren
engerem und weiterem Kreise Locke durch mannigfache Bande persönlicher Freund¬
schaft und religiöser wie kirchlich-politischer Übereinstimmung verknüpft war.


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[0323] Georg Frechcrr von l^crtling ans nicht, wie er meint, durch eine vernünftige Philosophie begründen läßt. Richt doch jener Glaube auf dem Glauben, daß Gott anders handeln könnte, als er handelt, daß seiner Allmacht durch seine Naturgesetze keine Schranken gesetzt siud. Das Bittgebet als solches schließt aber auch einen Zweifel um Gottes vorschauende Weisheit in sich. Daraus, daß der Katholizismus uur den Wissenschaften, die keine oder doch ruir ganz entfernte Berührungspunkte mit religiösen Problemen bieten, wie die Chemie, Physik, vollkommen freien Spielraum gewährt, den übrigen aber nur dann Existenzberechtigung zuerkennt, wenn sie sich unter das Joch des Katholizismus beugen, diesem Gefolgschaft leisten, mit einem Worte sich ihres Charakters als Wissenschaft begeben, folgt mit zwingender Notwendigkeit das auffallende Zurückbleiben der deutschen Katholiken auf dein Gebiete der Wissenschaft, das den Zentrumsführcr so bekümmert macht und an dem alle seine Reden, Notrufe und der Bestand der Görres-Gesellschaft nichts ändern werden und nichts ändern können. Die Wissenschaft duldet nun einmal keine Einmischung einer Autorität, sie ist konfessionslos. Sehr beherzigens¬ wert ist uoch bellte, obwohl fast ein halbes Jahrhundert schon darüber hinweg¬ gegangen, das die gleiche Frage, die ungeheure wissenschaftliche Rückständigkeit der deutschen Katholiken behandelnde dritte Kapitel „Unsere Lage" der 1801 erschienenen Schrift „Die Freiheit der Wissenschaft" des Münchner Philosophie- Professors Jakob Froh schaun, er. Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, daß Hertling 1892 ein Buch über „John Locke und die Schule vou Cambridge" veröffentlicht hat. Die Gedanken, die das Haupt des englischen Sensualismus in seinem berühmten Versuche über den menschlichen Verstand vertritt, lassen sich durchaus nicht zu einer in sich harmonisch geschlossenen und widerspruchsfreien Einheit verbinden. Sehr richtig sagt der Altmeister Kant in dem die Geschichte der reinen Vernunft behandelnden vierten Hauptstücke der transzendentalen Methvdenlehre: „Wenigstens verfuhr Epikur seinerseits viel konsequenter nach seinem Seusualsystem (denn er ging mit seinen Schlüssen niemals über die Grenze der Erfahrung hinaus), als Aristoteles und Locke (vornehmlich aber der letztere), der, nachdem er alle Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet hatte, so weit im Gebrauche derselben geht, daß er behauptet: man könne das Dasein Gottes und die Un¬ sterblichkeit der Seele, obgleich beide Gegenstände ganz außer den Grenzen möglicher Erfahrung liegen, ebenso evident beweisen als irgendeinen mathe¬ matischen Lehrsatz." Dieser Mangel an Einheit in Lockes Philosophie legte Hertling die Frage nähe, welches die Faktoren gewesen sein mögen, unter deren Einwirkung sich verschiedene Elemente in seinem Gedankenzusammenhänge ent¬ wickelt haben. Einen dieser Faktoren glaubt der Verfasser in der Schule der platonisierenden Theologen von Cambridge aufzeigen zu können, mit deren engerem und weiterem Kreise Locke durch mannigfache Bande persönlicher Freund¬ schaft und religiöser wie kirchlich-politischer Übereinstimmung verknüpft war.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/323>, abgerufen am 22.12.2024.