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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspieqel

(Die preußische Wahlrechtsvorlage. Der Fall Oldenburg im Reichstage.
Reichtagswahl in Eisenach-Dermbach. Schiffahrtsabgaben. Der portugiesische
Handelsvertrag. Handelsbeziehungen zu Amerika. Vom nahen Orient.)

Im Vordergrunde des öffentlichen Interesses steht gegenwärtig die preußische
Wahlrechtsvorlage, die soeben aus dem mystischen Dunkel des Geheimnisses
in das helle Sonnenlicht gestellt worden ist. Eine gründliche Besprechung des
neuen Gesetzentwurfs und seiner Begründung kann an dieser Stelle nicht unter¬
nommen werden. Es muß einstweilen genügen, auf einige Hauptpunkte hinzuweisen.
Daß die Wünsche der Demokratie nicht erfüllt werden konnten -- bekanntlich
begegnen sich hier die Wünsche der bürgerlichen und der sozialen Demokratie --,
ist jedem denkenden Politiker von vornherein klar gewesen. Es ist niemals davon
die Rede gewesen, die verfassungsmäßigen Grundlagen bei der Wahlreform zu
verlassen; immer handelte es sich nur um den zeitgemäßen Ausbau der in
der Verfassungsurkunde festgelegten Bestimmungen. Daraus geht hervor, daß an
eine Befriedigung der demokratischen Wünsche, die in der Übertragung des Reichs¬
tagswahlrechts auf Preußen gipfelten, gar nicht gedacht werden konnte. Die
Meinung, daß das im Reich bestehende Wahlsystem auch für die Einzelstaaten
maßgebend sein müsse, ist innerlich durch nichts begründet. Es ist eine willkür¬
liche Behauptung ohne Beweiskraft. Man kann umgekehrt sagen: Gerade weil
wir alle gemeinsamen Gesetzgebungsfragen des deutschen Volks einer Volksvertretung
unterbreiten, die nach einem demokratischeren Prinzip gewählt ist als die meisten
europäischen Parlamente, müssen die deutschen Einzelstaaten und vor allen Preußen
als der führende Staat um so mehr darauf bedacht sein, die besondern Aufgaben
ihrer Gesetzgebung so zu lösen, wie es ihrer Eigenart, ihrer geschichtlichen Ent¬
wicklung und ihrer Stellung im Reich entspricht. Nun ist die große Streitsrage,
wie man das preußische Wahlrecht zeitgemäß umgestalten kann, wenn seine
verfassungsmäßige Grundform erhalten bleiben soll. An dem Dreiklassensystem
konnte schon deshalb nicht gerüttelt werden, weil solches Vorgehen die soeben
erwähnte Grundbedingung der Reform nicht erfüllt hätte. Das wäre ein Neubau
gewesen, den man nur nach völligem Niederreißen des einschlägigen Teils der
Verfassung hätte errichten können. Man mußte also darauf bedacht sein, die
Dreiklasseneinteilung selbst so zu reformieren, daß ihre Hauptmangel beseitigt
wurden. Diese Hauptmangel waren in dem rein plutokratischen Charakter des
Systems und der im einzelnen ganz von Zufällen abhängigen Zusammensetzung
der Wählerklassen zu suchen. Die Vorlage macht nun den Versuch, die Einteilung
der drei Wählerklassen -- oder vielmehr Wählerabteilungen, wie man jetzt
sagen muß -- so zu ordnen, daß diese einigermaßen den ursprünglichen Sinn




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspieqel

(Die preußische Wahlrechtsvorlage. Der Fall Oldenburg im Reichstage.
Reichtagswahl in Eisenach-Dermbach. Schiffahrtsabgaben. Der portugiesische
Handelsvertrag. Handelsbeziehungen zu Amerika. Vom nahen Orient.)

Im Vordergrunde des öffentlichen Interesses steht gegenwärtig die preußische
Wahlrechtsvorlage, die soeben aus dem mystischen Dunkel des Geheimnisses
in das helle Sonnenlicht gestellt worden ist. Eine gründliche Besprechung des
neuen Gesetzentwurfs und seiner Begründung kann an dieser Stelle nicht unter¬
nommen werden. Es muß einstweilen genügen, auf einige Hauptpunkte hinzuweisen.
Daß die Wünsche der Demokratie nicht erfüllt werden konnten — bekanntlich
begegnen sich hier die Wünsche der bürgerlichen und der sozialen Demokratie —,
ist jedem denkenden Politiker von vornherein klar gewesen. Es ist niemals davon
die Rede gewesen, die verfassungsmäßigen Grundlagen bei der Wahlreform zu
verlassen; immer handelte es sich nur um den zeitgemäßen Ausbau der in
der Verfassungsurkunde festgelegten Bestimmungen. Daraus geht hervor, daß an
eine Befriedigung der demokratischen Wünsche, die in der Übertragung des Reichs¬
tagswahlrechts auf Preußen gipfelten, gar nicht gedacht werden konnte. Die
Meinung, daß das im Reich bestehende Wahlsystem auch für die Einzelstaaten
maßgebend sein müsse, ist innerlich durch nichts begründet. Es ist eine willkür¬
liche Behauptung ohne Beweiskraft. Man kann umgekehrt sagen: Gerade weil
wir alle gemeinsamen Gesetzgebungsfragen des deutschen Volks einer Volksvertretung
unterbreiten, die nach einem demokratischeren Prinzip gewählt ist als die meisten
europäischen Parlamente, müssen die deutschen Einzelstaaten und vor allen Preußen
als der führende Staat um so mehr darauf bedacht sein, die besondern Aufgaben
ihrer Gesetzgebung so zu lösen, wie es ihrer Eigenart, ihrer geschichtlichen Ent¬
wicklung und ihrer Stellung im Reich entspricht. Nun ist die große Streitsrage,
wie man das preußische Wahlrecht zeitgemäß umgestalten kann, wenn seine
verfassungsmäßige Grundform erhalten bleiben soll. An dem Dreiklassensystem
konnte schon deshalb nicht gerüttelt werden, weil solches Vorgehen die soeben
erwähnte Grundbedingung der Reform nicht erfüllt hätte. Das wäre ein Neubau
gewesen, den man nur nach völligem Niederreißen des einschlägigen Teils der
Verfassung hätte errichten können. Man mußte also darauf bedacht sein, die
Dreiklasseneinteilung selbst so zu reformieren, daß ihre Hauptmangel beseitigt
wurden. Diese Hauptmangel waren in dem rein plutokratischen Charakter des
Systems und der im einzelnen ganz von Zufällen abhängigen Zusammensetzung
der Wählerklassen zu suchen. Die Vorlage macht nun den Versuch, die Einteilung
der drei Wählerklassen — oder vielmehr Wählerabteilungen, wie man jetzt
sagen muß — so zu ordnen, daß diese einigermaßen den ursprünglichen Sinn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/292>, abgerufen am 04.07.2024.