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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Handlungen des Naturcrkennens

Zustandekommen der Schutzfärbung nach dem Gesetz der natürlichen Auslese bei
Tieren, die in den Polarländern lebten. Man deutete die für die Polarfauna
zweckmäßige weiße Pelzfarbe als eine krankhafte Entartung, die einem exzessiven
Kälteklima und der wenig intensiven Sonnbestrahlung zuzuschreiben sei. Man
sprach von physiologischen Störungen, die das Äußere der Polartiere, ähnlich
wie bei den rätselhaften Albinos, in anormaler Weise beeinflußten. Gegen diese
Behauptung gibt es keine bessere Abwehr, als daß man auf die mit dem
Grundton der Landschaft nicht minder gut übereinstimmende, gleichfalls hell
gefärbte Wüstenfauna hinweist. In der lichtgrau oder fahlgelb gefärbten sub¬
tropischen Wüste oder Steppe ist das Phänomen der Schutzfärbung bei den
Tieren noch viel mannigfaltiger und ausgeprägter als in der arktischen Zone.
Nun wird aber doch niemand behaupten wollen, daß etwa in der Sahara die
Intensität der Sonnbestrahlung und der Wärme nicht ausreiche, um im Tierkörper
genügend Stoffe zum Dunkelfärben des Pelzes auszuscheiden und aufzuspeichern.
Lebt doch hier gerade diejenige Menschenrasse, die wegen der reichlichen Pigment¬
ablagerung in den Hautzellen die "schwarze" genannt wird. Die niedrige Luft¬
temperatur und wenig energische Sonnbestrahlung kann also an der weißen
Farbe der arktischen Fauna so wenig beteiligt sein, wie die hohe Lufttemperatur
und außerordentlich intensive Sonnbestrahlung an der hellgrauen oder fahlgelben
Pelzfarbe der Wüsten- und Steppenfauna. Hier wird also die im Kampf ums
Dasein liegende Naturauslese Darwins doch füglich zu Recht bestehen bleiben
müssen, trotz alles Gegeneifcrns.

Wie mit der Schutzfärbung der Tiere verhält es sich auch mit noch so
manchen anderen Erscheinungen in der lebenden Natur. Vor allem wird man
auch heute noch mit der Darwinschen Deszendenzlehre dann am weitesten kommen,
wenn man den Boden des Natürlichen möglichst lange behaupten will. Was
in den letztvergangenen Jahren den Niedergang des Darwinismus, wenigstens
im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit, so sehr beschleunigte, war die einseitige,
grob materialistische Richtung, die viele seiner begeistertsten Anhänger einschlugen.
Die Kraft- und Stoffpropheten Büchner, Vogt und Moleschott trugen zwar dazu
bei, den: Naturerkennen die Wege zu ebnen, doch trifft sie der Vorwurf, in
vielem vorschnell über das Ziel hinausgeschossen zu haben. Dies hat vor allem
dann Geltung, wenn rein biologische Probleme gelöst werden sollen. Wo es
sich um Lebendiges handelt, wo es gilt, das Zustandekommen nicht bloß von
Organischen aus Unorganischen, sondern von Belebtorganischem, also Organisierten,
begreiflich zu machen, wo es darauf ankommt, vitalistische Gesetzmäßigkeiten auf¬
zustöbern, Lebenserscheinungen zu erklären und vollends den Wechselwirkungen
zwischen Geist, oder Seele, und Materie auf den Grund zu kommen, da reichen
streng mechanische Theorien nicht aus. Ebensowenig wird man auf den: Wege
rein chemisch-physikalischen Geschehens der schwierigen Lebensfrage näherrücken.

Als es im ersten Drittel des letztvergangenen Jahrhunderts Wöhler gelungen
war, den Harnstoff in der Retorte künstlich darzustellen, glaubte man schon, der


Handlungen des Naturcrkennens

Zustandekommen der Schutzfärbung nach dem Gesetz der natürlichen Auslese bei
Tieren, die in den Polarländern lebten. Man deutete die für die Polarfauna
zweckmäßige weiße Pelzfarbe als eine krankhafte Entartung, die einem exzessiven
Kälteklima und der wenig intensiven Sonnbestrahlung zuzuschreiben sei. Man
sprach von physiologischen Störungen, die das Äußere der Polartiere, ähnlich
wie bei den rätselhaften Albinos, in anormaler Weise beeinflußten. Gegen diese
Behauptung gibt es keine bessere Abwehr, als daß man auf die mit dem
Grundton der Landschaft nicht minder gut übereinstimmende, gleichfalls hell
gefärbte Wüstenfauna hinweist. In der lichtgrau oder fahlgelb gefärbten sub¬
tropischen Wüste oder Steppe ist das Phänomen der Schutzfärbung bei den
Tieren noch viel mannigfaltiger und ausgeprägter als in der arktischen Zone.
Nun wird aber doch niemand behaupten wollen, daß etwa in der Sahara die
Intensität der Sonnbestrahlung und der Wärme nicht ausreiche, um im Tierkörper
genügend Stoffe zum Dunkelfärben des Pelzes auszuscheiden und aufzuspeichern.
Lebt doch hier gerade diejenige Menschenrasse, die wegen der reichlichen Pigment¬
ablagerung in den Hautzellen die „schwarze" genannt wird. Die niedrige Luft¬
temperatur und wenig energische Sonnbestrahlung kann also an der weißen
Farbe der arktischen Fauna so wenig beteiligt sein, wie die hohe Lufttemperatur
und außerordentlich intensive Sonnbestrahlung an der hellgrauen oder fahlgelben
Pelzfarbe der Wüsten- und Steppenfauna. Hier wird also die im Kampf ums
Dasein liegende Naturauslese Darwins doch füglich zu Recht bestehen bleiben
müssen, trotz alles Gegeneifcrns.

Wie mit der Schutzfärbung der Tiere verhält es sich auch mit noch so
manchen anderen Erscheinungen in der lebenden Natur. Vor allem wird man
auch heute noch mit der Darwinschen Deszendenzlehre dann am weitesten kommen,
wenn man den Boden des Natürlichen möglichst lange behaupten will. Was
in den letztvergangenen Jahren den Niedergang des Darwinismus, wenigstens
im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit, so sehr beschleunigte, war die einseitige,
grob materialistische Richtung, die viele seiner begeistertsten Anhänger einschlugen.
Die Kraft- und Stoffpropheten Büchner, Vogt und Moleschott trugen zwar dazu
bei, den: Naturerkennen die Wege zu ebnen, doch trifft sie der Vorwurf, in
vielem vorschnell über das Ziel hinausgeschossen zu haben. Dies hat vor allem
dann Geltung, wenn rein biologische Probleme gelöst werden sollen. Wo es
sich um Lebendiges handelt, wo es gilt, das Zustandekommen nicht bloß von
Organischen aus Unorganischen, sondern von Belebtorganischem, also Organisierten,
begreiflich zu machen, wo es darauf ankommt, vitalistische Gesetzmäßigkeiten auf¬
zustöbern, Lebenserscheinungen zu erklären und vollends den Wechselwirkungen
zwischen Geist, oder Seele, und Materie auf den Grund zu kommen, da reichen
streng mechanische Theorien nicht aus. Ebensowenig wird man auf den: Wege
rein chemisch-physikalischen Geschehens der schwierigen Lebensfrage näherrücken.

Als es im ersten Drittel des letztvergangenen Jahrhunderts Wöhler gelungen
war, den Harnstoff in der Retorte künstlich darzustellen, glaubte man schon, der


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[0281] Handlungen des Naturcrkennens Zustandekommen der Schutzfärbung nach dem Gesetz der natürlichen Auslese bei Tieren, die in den Polarländern lebten. Man deutete die für die Polarfauna zweckmäßige weiße Pelzfarbe als eine krankhafte Entartung, die einem exzessiven Kälteklima und der wenig intensiven Sonnbestrahlung zuzuschreiben sei. Man sprach von physiologischen Störungen, die das Äußere der Polartiere, ähnlich wie bei den rätselhaften Albinos, in anormaler Weise beeinflußten. Gegen diese Behauptung gibt es keine bessere Abwehr, als daß man auf die mit dem Grundton der Landschaft nicht minder gut übereinstimmende, gleichfalls hell gefärbte Wüstenfauna hinweist. In der lichtgrau oder fahlgelb gefärbten sub¬ tropischen Wüste oder Steppe ist das Phänomen der Schutzfärbung bei den Tieren noch viel mannigfaltiger und ausgeprägter als in der arktischen Zone. Nun wird aber doch niemand behaupten wollen, daß etwa in der Sahara die Intensität der Sonnbestrahlung und der Wärme nicht ausreiche, um im Tierkörper genügend Stoffe zum Dunkelfärben des Pelzes auszuscheiden und aufzuspeichern. Lebt doch hier gerade diejenige Menschenrasse, die wegen der reichlichen Pigment¬ ablagerung in den Hautzellen die „schwarze" genannt wird. Die niedrige Luft¬ temperatur und wenig energische Sonnbestrahlung kann also an der weißen Farbe der arktischen Fauna so wenig beteiligt sein, wie die hohe Lufttemperatur und außerordentlich intensive Sonnbestrahlung an der hellgrauen oder fahlgelben Pelzfarbe der Wüsten- und Steppenfauna. Hier wird also die im Kampf ums Dasein liegende Naturauslese Darwins doch füglich zu Recht bestehen bleiben müssen, trotz alles Gegeneifcrns. Wie mit der Schutzfärbung der Tiere verhält es sich auch mit noch so manchen anderen Erscheinungen in der lebenden Natur. Vor allem wird man auch heute noch mit der Darwinschen Deszendenzlehre dann am weitesten kommen, wenn man den Boden des Natürlichen möglichst lange behaupten will. Was in den letztvergangenen Jahren den Niedergang des Darwinismus, wenigstens im Sinne strenger Wissenschaftlichkeit, so sehr beschleunigte, war die einseitige, grob materialistische Richtung, die viele seiner begeistertsten Anhänger einschlugen. Die Kraft- und Stoffpropheten Büchner, Vogt und Moleschott trugen zwar dazu bei, den: Naturerkennen die Wege zu ebnen, doch trifft sie der Vorwurf, in vielem vorschnell über das Ziel hinausgeschossen zu haben. Dies hat vor allem dann Geltung, wenn rein biologische Probleme gelöst werden sollen. Wo es sich um Lebendiges handelt, wo es gilt, das Zustandekommen nicht bloß von Organischen aus Unorganischen, sondern von Belebtorganischem, also Organisierten, begreiflich zu machen, wo es darauf ankommt, vitalistische Gesetzmäßigkeiten auf¬ zustöbern, Lebenserscheinungen zu erklären und vollends den Wechselwirkungen zwischen Geist, oder Seele, und Materie auf den Grund zu kommen, da reichen streng mechanische Theorien nicht aus. Ebensowenig wird man auf den: Wege rein chemisch-physikalischen Geschehens der schwierigen Lebensfrage näherrücken. Als es im ersten Drittel des letztvergangenen Jahrhunderts Wöhler gelungen war, den Harnstoff in der Retorte künstlich darzustellen, glaubte man schon, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/281>, abgerufen am 04.07.2024.