Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.Wandlungen des Naturerkennons Notwendigkeit untergehen. Die Teleologie, das Zweckmäßigkeitsdogma, dieses Die ganze Zwcckmäßigkeitsfrage verlor den Schleier des Mystischen von Als nach einiger Zeit die frohe Botschaft von Darwins Deszendenzlehre Wandlungen des Naturerkennons Notwendigkeit untergehen. Die Teleologie, das Zweckmäßigkeitsdogma, dieses Die ganze Zwcckmäßigkeitsfrage verlor den Schleier des Mystischen von Als nach einiger Zeit die frohe Botschaft von Darwins Deszendenzlehre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0280" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315277"/> <fw type="header" place="top"> Wandlungen des Naturerkennons</fw><lb/> <p xml:id="ID_1078" prev="#ID_1077"> Notwendigkeit untergehen. Die Teleologie, das Zweckmäßigkeitsdogma, dieses<lb/> unheimliche Nätselwesen, das bisher bei den kleinsten wie bei den größten Vor¬<lb/> gängen innerhalb der lebendigen Natur überall die geheimnisvoll munkelnde<lb/> Hand mit im Spiel hatte, mit einem Male nahm sie ihr mittelalterliches Visir<lb/> von dein aschgrauen Gespensterhaupt herunter und zeigte ein ganz offenes, menschlich<lb/> irdisches Gesicht. War man erst einmal zur Erkenntnis gekommen, daß der rastlose<lb/> Kampf ums Dasein nur immer die den augenblicklich auf der Erdoberflüche<lb/> herrschenden Lebensbedingungen am besten angepaßten Individuen, Arten und<lb/> Gattungen züchtet und zur Fortpflanzung gelangen läßt, dann fiel es auch uicht<lb/> mehr schwer, einzusehen, daß und warum gerade sie die zweckmäßigsten Körper¬<lb/> formen, die am zweckmäßigsten funktionierenden Organe besitzen müssen, daß<lb/> und warum gerade ihre Lebensiveise naturnotwendig die zweckmäßigste ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1079"> Die ganze Zwcckmäßigkeitsfrage verlor den Schleier des Mystischen von<lb/> dem Augenblick an, da man sie anstatt als „erschaffen" als „erworben" betrachten<lb/> konnte. — Die Wale, als Produkte einer zweckmüßigen Schöpfertütigkeit gedacht,<lb/> sind so unzweckmäßig organisiert, daß sie für ein wahres Schöpfungspfuschwerk<lb/> angesehen werden müssen. Als Säugetiere, die ihre Lebensluft durch Lungen<lb/> einatmen, sind sie heute zum dauernden Aufenthalt im Wasser verdammt, in<lb/> demjenigen Lebensmedium, das sie jeden Augenblick zu ersticken droht. Was<lb/> diese bedauernswerten Stiefkinder einer vermeintlich zweckmäßigen Schöpfung,<lb/> diese Wale, an Körperausrüstung wirklich Zweckmäßiges besitzen, die Fischgestalt<lb/> und die zu Luftmagazinen erweiterten Blutgefäße, haben sie im harten Daseins¬<lb/> ringen mühsam sich erwerben müssen, und zwar zu einer Zeit, da gewaltige<lb/> Störungen auf der Erdoberfläche oder sonst irgendwelche besonderen Umstände<lb/> sie zwangen, das Leben im Wasser dem auf dem Lande vorzuziehen. Wäre<lb/> der Maulwurf (Talpa) für sein Leben unter der Erdoberfläche zweckmäßig<lb/> geschaffen, dann dürfte er keine Augen besitzen, die ihn: nicht nur nichts nützen,<lb/> sondern im Gegenteil durch häufiges Erkranken sehr schaden. Was wirklich zweck¬<lb/> mäßig an ihn: ist, daß nämlich seine Augen mehr und mehr verkümmern, daß seine<lb/> Vorderfüße zu immer vollkommeneren Grabschaufeln werden, daß die vordere<lb/> Hälfte des Kopfes heute ein formvollendeter Wühlrüssel ist, alles dies hat auch<lb/> seine Sippe dermalen im harten Kampf ums Dasein erst mühsam erwerben<lb/> müssen. Nicht deshalb hat die Giraffe einen langen Hals und die Antilope<lb/> flinke Beine erschaffen erhalten, damit die erstere von hohen Bäumen Blätter<lb/> abweiden und die letztere ihren vielen Feinden entfliehen kann. Die Giraffe<lb/> hat sich ihren langen Hals als zweckmäßig erworben, weil das Futter im Greif¬<lb/> bereich der übrigen Tiere für sie unzulänglich wurde. Die Antilope hat die flinken<lb/> Beine als zweckmäßig erworben, weil ihr von so vielen Feinden nachgestellt wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1080" next="#ID_1081"> Als nach einiger Zeit die frohe Botschaft von Darwins Deszendenzlehre<lb/> nicht alles hielt, was sie auf den ersten Blick hin versprach, da fingen, das Kind<lb/> mit dem Bad ausschüttend, sogar im Lager der Naturforscher manche an, ihre<lb/> kräftigsten Stützen einzureihen. So leugnete man unter anderem auch das</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0280]
Wandlungen des Naturerkennons
Notwendigkeit untergehen. Die Teleologie, das Zweckmäßigkeitsdogma, dieses
unheimliche Nätselwesen, das bisher bei den kleinsten wie bei den größten Vor¬
gängen innerhalb der lebendigen Natur überall die geheimnisvoll munkelnde
Hand mit im Spiel hatte, mit einem Male nahm sie ihr mittelalterliches Visir
von dein aschgrauen Gespensterhaupt herunter und zeigte ein ganz offenes, menschlich
irdisches Gesicht. War man erst einmal zur Erkenntnis gekommen, daß der rastlose
Kampf ums Dasein nur immer die den augenblicklich auf der Erdoberflüche
herrschenden Lebensbedingungen am besten angepaßten Individuen, Arten und
Gattungen züchtet und zur Fortpflanzung gelangen läßt, dann fiel es auch uicht
mehr schwer, einzusehen, daß und warum gerade sie die zweckmäßigsten Körper¬
formen, die am zweckmäßigsten funktionierenden Organe besitzen müssen, daß
und warum gerade ihre Lebensiveise naturnotwendig die zweckmäßigste ist.
Die ganze Zwcckmäßigkeitsfrage verlor den Schleier des Mystischen von
dem Augenblick an, da man sie anstatt als „erschaffen" als „erworben" betrachten
konnte. — Die Wale, als Produkte einer zweckmüßigen Schöpfertütigkeit gedacht,
sind so unzweckmäßig organisiert, daß sie für ein wahres Schöpfungspfuschwerk
angesehen werden müssen. Als Säugetiere, die ihre Lebensluft durch Lungen
einatmen, sind sie heute zum dauernden Aufenthalt im Wasser verdammt, in
demjenigen Lebensmedium, das sie jeden Augenblick zu ersticken droht. Was
diese bedauernswerten Stiefkinder einer vermeintlich zweckmäßigen Schöpfung,
diese Wale, an Körperausrüstung wirklich Zweckmäßiges besitzen, die Fischgestalt
und die zu Luftmagazinen erweiterten Blutgefäße, haben sie im harten Daseins¬
ringen mühsam sich erwerben müssen, und zwar zu einer Zeit, da gewaltige
Störungen auf der Erdoberfläche oder sonst irgendwelche besonderen Umstände
sie zwangen, das Leben im Wasser dem auf dem Lande vorzuziehen. Wäre
der Maulwurf (Talpa) für sein Leben unter der Erdoberfläche zweckmäßig
geschaffen, dann dürfte er keine Augen besitzen, die ihn: nicht nur nichts nützen,
sondern im Gegenteil durch häufiges Erkranken sehr schaden. Was wirklich zweck¬
mäßig an ihn: ist, daß nämlich seine Augen mehr und mehr verkümmern, daß seine
Vorderfüße zu immer vollkommeneren Grabschaufeln werden, daß die vordere
Hälfte des Kopfes heute ein formvollendeter Wühlrüssel ist, alles dies hat auch
seine Sippe dermalen im harten Kampf ums Dasein erst mühsam erwerben
müssen. Nicht deshalb hat die Giraffe einen langen Hals und die Antilope
flinke Beine erschaffen erhalten, damit die erstere von hohen Bäumen Blätter
abweiden und die letztere ihren vielen Feinden entfliehen kann. Die Giraffe
hat sich ihren langen Hals als zweckmäßig erworben, weil das Futter im Greif¬
bereich der übrigen Tiere für sie unzulänglich wurde. Die Antilope hat die flinken
Beine als zweckmäßig erworben, weil ihr von so vielen Feinden nachgestellt wurde.
Als nach einiger Zeit die frohe Botschaft von Darwins Deszendenzlehre
nicht alles hielt, was sie auf den ersten Blick hin versprach, da fingen, das Kind
mit dem Bad ausschüttend, sogar im Lager der Naturforscher manche an, ihre
kräftigsten Stützen einzureihen. So leugnete man unter anderem auch das
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