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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen des Naturerkenncns

zu den wenigen, die den im Pariser Becken -- einem ausgetrockneten Tertiär¬
meere -- aufgefundenen Tierknochen mehr Bedeutung beilegten als bloßem
Studienmaterial zur vergleichenden Anatomie. Und trotzdem galt seine Ansicht
Jahrzehnte über für falsch, weil -- Cuvier der Anatomie des sciences in Paris
und damit zugleich der ganzen wissenschaftlichen Welt seine Katastrophentheorie
als die einzig richtige aufzwang.

Inzwischen war die Paläontologie selbst zu einer Wissenschaft erstarkt.
Überall auf der Erde bot sich ihr willig Material dar. Wo immer man Kohlen¬
schächte grub, Bergwerke anlegte oder Steinbrüche abbaute, fand man auch
fossile Neste aus gestorbener Tiergeschlechter. Und überall auf der Erde lagen diese
in einander entsprechenden gleichaltrigen Schichtenablagerungen und bekundeten in
ihrem anatomischen Bau ein stetes Aufwärtsstreben, je mehr sie sich den geologisch
jüngeren Erostraten näherten. Man lernte die aufeinander folgenden Schichten¬
komplexe der Erdkruste immer schärfer begrenzen, stieß auf immer mehr
entwickluugsgeschichtlich verbindende Momente zwischen Tiergruppen längst
vergangener Erdepochen, zwischen solchen, die in verhältnismäßig jüngerer Zeit
der Erdgeschichte gelebt haben und solchen, die noch heute die Erdoberfläche
bevölkern. Man blätterte immer weiter und weiter im Geschichtsbuch der Erd¬
kruste und las darin mit um so größerem Erfolg, mit um so größerer Sicher¬
heit, als man von vornherein die Gewißheit hatte, in diesem mächtigen Buche
keine Druckfehler zu finden. Als die Paläontologie, durch ihre nunmehr mit
Methode erzielten Funde immer kühner geworden, vorausblickeud sogar das
Vorkommen des Diluvialmenschen verkündete, erklärte Cuvier im überzeugten
Brustton einer keinen Widerspruch lernenden Autorität: "Der Mensch hat zur
Diluvialzeit noch nicht gelebt." Und das ganze wissenschaftliche Europa glaubte es
und sprach es der alles Besserwissen ausschließenden Autorität Cuviers gläubig nach.

Es war sein letzter autoritativer Sieg über die Anhängerschaft des tot¬
geschwiegenen Lamarck. Denn bald darauf hob der unermüdliche Gelehrte Boucher
de Crövecoeur de Perthes im Flußgebiet der Somme bei Abbeville seinen ewig
denkwürdigen prähistorischen Schatz, wohl die wichtigste Entdeckung, die je auf
paläontologischen Gebiet gemacht wurde, de Perthes ließ, der Wissenschaft die
größten persönlichen Opfer bringend, an vielen Stellen des Sommetals den
Diluvialschutt bis hinab zu den obersten, ungestört daliegenden Tertiärschichten
abtragen und nach fossilen Fundstücken durchsuchen. Sein Mühen wurde reichlich
belohnt. Zu Tausenden von Exemplaren fand er Steinartefakte in jeder Größe
und von selten vollkommener Ausführung inmitten der Skelette großer Diluvial¬
säugetiere. Da lag es auf einmal klar zutage: Es hat doch einen Diluvial¬
menschen gegeben, vielleicht sogar einen Tertiürmenschen. Solche Werkzeuge,
Beile, Hämmer, Pfriemen, Pfeil- und Lanzenspitzen, aus den: härtesten Feuer¬
stein (Flint) gefertigt, poliert, gebohrt und zugeschliffen, konnten nur aus des
Menschen Hand hervorgegangen sein, und zwar aus einer Hand, die an Geschicklichkeit
derjenigen eines Amaxosakaffern oder eines Botokuden von heute in nichts nachstand.


Grenzboten I 1910 34
Wandlungen des Naturerkenncns

zu den wenigen, die den im Pariser Becken — einem ausgetrockneten Tertiär¬
meere — aufgefundenen Tierknochen mehr Bedeutung beilegten als bloßem
Studienmaterial zur vergleichenden Anatomie. Und trotzdem galt seine Ansicht
Jahrzehnte über für falsch, weil — Cuvier der Anatomie des sciences in Paris
und damit zugleich der ganzen wissenschaftlichen Welt seine Katastrophentheorie
als die einzig richtige aufzwang.

Inzwischen war die Paläontologie selbst zu einer Wissenschaft erstarkt.
Überall auf der Erde bot sich ihr willig Material dar. Wo immer man Kohlen¬
schächte grub, Bergwerke anlegte oder Steinbrüche abbaute, fand man auch
fossile Neste aus gestorbener Tiergeschlechter. Und überall auf der Erde lagen diese
in einander entsprechenden gleichaltrigen Schichtenablagerungen und bekundeten in
ihrem anatomischen Bau ein stetes Aufwärtsstreben, je mehr sie sich den geologisch
jüngeren Erostraten näherten. Man lernte die aufeinander folgenden Schichten¬
komplexe der Erdkruste immer schärfer begrenzen, stieß auf immer mehr
entwickluugsgeschichtlich verbindende Momente zwischen Tiergruppen längst
vergangener Erdepochen, zwischen solchen, die in verhältnismäßig jüngerer Zeit
der Erdgeschichte gelebt haben und solchen, die noch heute die Erdoberfläche
bevölkern. Man blätterte immer weiter und weiter im Geschichtsbuch der Erd¬
kruste und las darin mit um so größerem Erfolg, mit um so größerer Sicher¬
heit, als man von vornherein die Gewißheit hatte, in diesem mächtigen Buche
keine Druckfehler zu finden. Als die Paläontologie, durch ihre nunmehr mit
Methode erzielten Funde immer kühner geworden, vorausblickeud sogar das
Vorkommen des Diluvialmenschen verkündete, erklärte Cuvier im überzeugten
Brustton einer keinen Widerspruch lernenden Autorität: „Der Mensch hat zur
Diluvialzeit noch nicht gelebt." Und das ganze wissenschaftliche Europa glaubte es
und sprach es der alles Besserwissen ausschließenden Autorität Cuviers gläubig nach.

Es war sein letzter autoritativer Sieg über die Anhängerschaft des tot¬
geschwiegenen Lamarck. Denn bald darauf hob der unermüdliche Gelehrte Boucher
de Crövecoeur de Perthes im Flußgebiet der Somme bei Abbeville seinen ewig
denkwürdigen prähistorischen Schatz, wohl die wichtigste Entdeckung, die je auf
paläontologischen Gebiet gemacht wurde, de Perthes ließ, der Wissenschaft die
größten persönlichen Opfer bringend, an vielen Stellen des Sommetals den
Diluvialschutt bis hinab zu den obersten, ungestört daliegenden Tertiärschichten
abtragen und nach fossilen Fundstücken durchsuchen. Sein Mühen wurde reichlich
belohnt. Zu Tausenden von Exemplaren fand er Steinartefakte in jeder Größe
und von selten vollkommener Ausführung inmitten der Skelette großer Diluvial¬
säugetiere. Da lag es auf einmal klar zutage: Es hat doch einen Diluvial¬
menschen gegeben, vielleicht sogar einen Tertiürmenschen. Solche Werkzeuge,
Beile, Hämmer, Pfriemen, Pfeil- und Lanzenspitzen, aus den: härtesten Feuer¬
stein (Flint) gefertigt, poliert, gebohrt und zugeschliffen, konnten nur aus des
Menschen Hand hervorgegangen sein, und zwar aus einer Hand, die an Geschicklichkeit
derjenigen eines Amaxosakaffern oder eines Botokuden von heute in nichts nachstand.


Grenzboten I 1910 34
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[0277] Wandlungen des Naturerkenncns zu den wenigen, die den im Pariser Becken — einem ausgetrockneten Tertiär¬ meere — aufgefundenen Tierknochen mehr Bedeutung beilegten als bloßem Studienmaterial zur vergleichenden Anatomie. Und trotzdem galt seine Ansicht Jahrzehnte über für falsch, weil — Cuvier der Anatomie des sciences in Paris und damit zugleich der ganzen wissenschaftlichen Welt seine Katastrophentheorie als die einzig richtige aufzwang. Inzwischen war die Paläontologie selbst zu einer Wissenschaft erstarkt. Überall auf der Erde bot sich ihr willig Material dar. Wo immer man Kohlen¬ schächte grub, Bergwerke anlegte oder Steinbrüche abbaute, fand man auch fossile Neste aus gestorbener Tiergeschlechter. Und überall auf der Erde lagen diese in einander entsprechenden gleichaltrigen Schichtenablagerungen und bekundeten in ihrem anatomischen Bau ein stetes Aufwärtsstreben, je mehr sie sich den geologisch jüngeren Erostraten näherten. Man lernte die aufeinander folgenden Schichten¬ komplexe der Erdkruste immer schärfer begrenzen, stieß auf immer mehr entwickluugsgeschichtlich verbindende Momente zwischen Tiergruppen längst vergangener Erdepochen, zwischen solchen, die in verhältnismäßig jüngerer Zeit der Erdgeschichte gelebt haben und solchen, die noch heute die Erdoberfläche bevölkern. Man blätterte immer weiter und weiter im Geschichtsbuch der Erd¬ kruste und las darin mit um so größerem Erfolg, mit um so größerer Sicher¬ heit, als man von vornherein die Gewißheit hatte, in diesem mächtigen Buche keine Druckfehler zu finden. Als die Paläontologie, durch ihre nunmehr mit Methode erzielten Funde immer kühner geworden, vorausblickeud sogar das Vorkommen des Diluvialmenschen verkündete, erklärte Cuvier im überzeugten Brustton einer keinen Widerspruch lernenden Autorität: „Der Mensch hat zur Diluvialzeit noch nicht gelebt." Und das ganze wissenschaftliche Europa glaubte es und sprach es der alles Besserwissen ausschließenden Autorität Cuviers gläubig nach. Es war sein letzter autoritativer Sieg über die Anhängerschaft des tot¬ geschwiegenen Lamarck. Denn bald darauf hob der unermüdliche Gelehrte Boucher de Crövecoeur de Perthes im Flußgebiet der Somme bei Abbeville seinen ewig denkwürdigen prähistorischen Schatz, wohl die wichtigste Entdeckung, die je auf paläontologischen Gebiet gemacht wurde, de Perthes ließ, der Wissenschaft die größten persönlichen Opfer bringend, an vielen Stellen des Sommetals den Diluvialschutt bis hinab zu den obersten, ungestört daliegenden Tertiärschichten abtragen und nach fossilen Fundstücken durchsuchen. Sein Mühen wurde reichlich belohnt. Zu Tausenden von Exemplaren fand er Steinartefakte in jeder Größe und von selten vollkommener Ausführung inmitten der Skelette großer Diluvial¬ säugetiere. Da lag es auf einmal klar zutage: Es hat doch einen Diluvial¬ menschen gegeben, vielleicht sogar einen Tertiürmenschen. Solche Werkzeuge, Beile, Hämmer, Pfriemen, Pfeil- und Lanzenspitzen, aus den: härtesten Feuer¬ stein (Flint) gefertigt, poliert, gebohrt und zugeschliffen, konnten nur aus des Menschen Hand hervorgegangen sein, und zwar aus einer Hand, die an Geschicklichkeit derjenigen eines Amaxosakaffern oder eines Botokuden von heute in nichts nachstand. Grenzboten I 1910 34

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/277>, abgerufen am 22.12.2024.