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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Engländer und Esperanto

hat. Sie schützt mit der Pflege der Sitte die Schwachen, die in Gefahr kommen
könnten.

Genau so hält es der Engländer mit allem, was seiner Persönlichkeit die
Freiheit sichert, auf die er Wert legt. Mag er auch im besonderen Falle den
Zusammenhang nicht erkennen, und mögen es anscheinend unbedeutende Kleinig¬
keiten sein, -- hat einmal die Gemeinschaft ein Interesse an der strengen Heilig-
haltung des Sonntags, so richtet sich der Einzelne danach, ohne zu überlegen,
ob es für ihn Sinn oder Zweck hat. Dieselbe Veranlagung kommt dein Fortschritt
zugute, sobald die Gemeinschaft für ihn reif ist. Was kluge Müuner -- und
es gibt sehr kluge Engländer -- als nützlich erkennen, das darf freilich nicht so
erscheinen, als brächte es auf einmal eine Umwandlung gewohnter und bewährter
Gemeinschaftsverhältnisse mit sich, im übrigen stößt es aber nicht auf die Wider¬
stände, die individualistischer zusammengesetzte Völker einer Neuerung bereiten.
Viel Wissen und Denken belastet die Durchschnitts-Engländer nicht. Haben sie
das Gefühl, daß mit ihren Interessen vereinbar ist, was ihre Führer wollen,
so folgen sie ihnen gern, ohne viel zu grübeln, und Probieren geht ihnen über
Studieren, wobei sie sich uicht abschrecken lassen, wenn nicht der Erfolg in vollen:
Glänze vor ihnen steht.

Bei dem Volke der Dichter und Denker möchte jeder selber ein Führer sein,
und mau glaubt seine Persönlichkeit am besten dadurch zu bewähren, daß man
zunächst alles ablehnt, was diese Persönlichkeit nicht gleich in jeder Hinsicht
erfaßt. Hier geht Studieren über Probieren, und die eigene Betrachtung der
Dinge, die persönliche Theorie verschließt sogar die Augen vor dem widersprechenden
Erfolge der Praxis.

Interessante Beispiele liefern für früher die Geschichte der Eisenbahn, für
jetzt die internationale Hilsssprache Esperanto.

Wo Wagen in schmalen Straßen immer in denselben Spuren zu fahren
hatten, da hat man seit altersher diese Spurwege zu befestigen gesucht. Besonders
gut erhaltene Steingleise kann man in Pompeji und Svrakus sehen. In England
fing man zuerst an (1650), die Holzbohlen, die man in die Spurwege legte,
mit Eisen zu benageln, und es dauerte über hundertfünfzig Jahre, ehe man etwa
zu unserer jetzigen Art der Eisenbahnschienen kam. Die erste bewegliche Dampf¬
maschine zum Fortschaffe" von Wagen auf Schienen ließ sich Watt 1784
patentieren, ohne das; sie irgendwo ausgeführt wurde; gerade die Schienen sollten
zum Hindernis für die Entwicklung der Dampfbahn werden. Die Techniker
glaubten, die Lokomotive würde mit glatten Rädern auf glatten Schienen einen
Zug nicht fortbewegen können. Trotzdem machten die Engländer Versuche auf
Versuche, bis Stepheuseu 1819 alle Vorurteile durch seiue praktischen Erfolge
widerlegte -- für England. Denn auf dem Festlande ließ man sich dadurch
nicht abhalten, die Unmöglichkeit der Eisenbahn theoretisch weiter zu beweisen.
Etwa zwanzig Jahre dauerte es in Deutschland noch bis zu dein Beginn der
praktischen Entwicklung.


Engländer und Esperanto

hat. Sie schützt mit der Pflege der Sitte die Schwachen, die in Gefahr kommen
könnten.

Genau so hält es der Engländer mit allem, was seiner Persönlichkeit die
Freiheit sichert, auf die er Wert legt. Mag er auch im besonderen Falle den
Zusammenhang nicht erkennen, und mögen es anscheinend unbedeutende Kleinig¬
keiten sein, — hat einmal die Gemeinschaft ein Interesse an der strengen Heilig-
haltung des Sonntags, so richtet sich der Einzelne danach, ohne zu überlegen,
ob es für ihn Sinn oder Zweck hat. Dieselbe Veranlagung kommt dein Fortschritt
zugute, sobald die Gemeinschaft für ihn reif ist. Was kluge Müuner — und
es gibt sehr kluge Engländer — als nützlich erkennen, das darf freilich nicht so
erscheinen, als brächte es auf einmal eine Umwandlung gewohnter und bewährter
Gemeinschaftsverhältnisse mit sich, im übrigen stößt es aber nicht auf die Wider¬
stände, die individualistischer zusammengesetzte Völker einer Neuerung bereiten.
Viel Wissen und Denken belastet die Durchschnitts-Engländer nicht. Haben sie
das Gefühl, daß mit ihren Interessen vereinbar ist, was ihre Führer wollen,
so folgen sie ihnen gern, ohne viel zu grübeln, und Probieren geht ihnen über
Studieren, wobei sie sich uicht abschrecken lassen, wenn nicht der Erfolg in vollen:
Glänze vor ihnen steht.

Bei dem Volke der Dichter und Denker möchte jeder selber ein Führer sein,
und mau glaubt seine Persönlichkeit am besten dadurch zu bewähren, daß man
zunächst alles ablehnt, was diese Persönlichkeit nicht gleich in jeder Hinsicht
erfaßt. Hier geht Studieren über Probieren, und die eigene Betrachtung der
Dinge, die persönliche Theorie verschließt sogar die Augen vor dem widersprechenden
Erfolge der Praxis.

Interessante Beispiele liefern für früher die Geschichte der Eisenbahn, für
jetzt die internationale Hilsssprache Esperanto.

Wo Wagen in schmalen Straßen immer in denselben Spuren zu fahren
hatten, da hat man seit altersher diese Spurwege zu befestigen gesucht. Besonders
gut erhaltene Steingleise kann man in Pompeji und Svrakus sehen. In England
fing man zuerst an (1650), die Holzbohlen, die man in die Spurwege legte,
mit Eisen zu benageln, und es dauerte über hundertfünfzig Jahre, ehe man etwa
zu unserer jetzigen Art der Eisenbahnschienen kam. Die erste bewegliche Dampf¬
maschine zum Fortschaffe» von Wagen auf Schienen ließ sich Watt 1784
patentieren, ohne das; sie irgendwo ausgeführt wurde; gerade die Schienen sollten
zum Hindernis für die Entwicklung der Dampfbahn werden. Die Techniker
glaubten, die Lokomotive würde mit glatten Rädern auf glatten Schienen einen
Zug nicht fortbewegen können. Trotzdem machten die Engländer Versuche auf
Versuche, bis Stepheuseu 1819 alle Vorurteile durch seiue praktischen Erfolge
widerlegte — für England. Denn auf dem Festlande ließ man sich dadurch
nicht abhalten, die Unmöglichkeit der Eisenbahn theoretisch weiter zu beweisen.
Etwa zwanzig Jahre dauerte es in Deutschland noch bis zu dein Beginn der
praktischen Entwicklung.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/260>, abgerufen am 21.12.2024.