Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Deutsche Politik in "Österreich

Ungarns suchen; und doch bilden diese selbst nach der offiziellen ungarischen
Statistik reichlich die Hälfte der Gesamtbevölkerung und geben von Jahr zu
Jahr kräftigere Lebenszeichen. Selbst die vor zwei Jahren entstandene, sich
kräftig entwickelnde deutsch-ungarische Volkspartei wird von derselben Wiener
Presse totgeschwiegen, die sonst jeden gegen ein deutsches Fenster in Böhmen
gerichteten Steinwurf zu registrieren pflegt. Und doch gehört es zu den
erfreulichsten Erscheinungen der jüngsten Zeit, das; schon der Aufruf zur Gründung
der deutsch-ungarischen Volkspartei von mehr als fünftausend selbständigen
Bürgern und Bauern unterzeichnet wurde, obgleich die Führer nur auf eine
Zahl von sechshundert gerechnet hatten. Vom Gipfel des Kahlcnberges kann
man deutsches Sprachgebiet in Ungarn sehen. Da soll es den Wienern gleich¬
gültig sein, wenn den Bewohnern dieses Gebietes magyarische Schicken auf¬
genötigt werden?!

Indes nach und nach lüftet sich doch der Schleier, der uns den Blick
nach Ungarn benahm. Björnson hat gegen die Niedermetzlung der Slowaken
protestiert, ein junger Schotte, der unter dem Pseudonym Scotos Viator schreibt,
hat Ungarn zum Gegenstande seines Studiums gemacht, und der Roman
"Götzcndämmerung" des trefflichen Schwaben Müller-Guttenbrunn hat eine
ganze Reihe von Auflagen erlebt. Wir wissen nnn, daß es eine kleine Clique
ist, die das unglückliche Ungarn beherrscht, eine Clique, die nicht zu mucksen
laute, als der eben verstorbene Honvedoberst Fabritzius das ungarische Parla¬
ment auseinanderjagte, und die sich vor nichts mehr fürchtet als vor der Ein¬
führung des allgemeinen Wahlrechts, die sie entgegen dem von ihr im so¬
genannten Pakte gegebenen Versprechen mit allen Mitteln hinauszuschieben
trachtet.

Nicht um die Bekämpfung des in seinen unteren Schichten so außer¬
ordentlich sympathischen ungarischen Volkes handelt es sich, sondern um die
Beseitigung eines Klassenregimcnts schlimmster Sorte und um die Anbahnung
einer Ordnung, in der die für ein friedliches Zusammenleben mit Österreich
und für einen Anschluß an Osterreich eintretenden Volksstämme Ungarns die
Möglichkeit einer ruhigen nationalen Entwicklung finden. Bei der Beseitigung
der heilte in Ungarn herrschenden Clique fallen die Gefahren hinweg, die den
Bestand der Armee und des einheitlichen Wirtschaftsgebietes bedrohen; wir
Deutsche erhalten zweieinhalb Millionen Menschen unserem Volkstum und ge¬
nießen den Vorteil, daß sich das Gebiet der deutschen Verkehrssprache und des
deutschen Kultureinflnsses nicht unbeträchtlich erweitert. Denn die kleineren
Volksstämme Ungarns werden sich in Zukunft im interlokalen Verkehr der
deutschen Sprache bedienen.

Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Umgestaltung der Verhältnisse in
Ungarn, daß die Bahn zur Lösung der südslawischen Frage frei wird. Diese
südslawische, oder richtiger gesagt serbokroatische Frage hat uns und damit
Europa im letzten Winter recht ernstlich beschäftigt, und eS besteht kein Zweifel,


Deutsche Politik in «Österreich

Ungarns suchen; und doch bilden diese selbst nach der offiziellen ungarischen
Statistik reichlich die Hälfte der Gesamtbevölkerung und geben von Jahr zu
Jahr kräftigere Lebenszeichen. Selbst die vor zwei Jahren entstandene, sich
kräftig entwickelnde deutsch-ungarische Volkspartei wird von derselben Wiener
Presse totgeschwiegen, die sonst jeden gegen ein deutsches Fenster in Böhmen
gerichteten Steinwurf zu registrieren pflegt. Und doch gehört es zu den
erfreulichsten Erscheinungen der jüngsten Zeit, das; schon der Aufruf zur Gründung
der deutsch-ungarischen Volkspartei von mehr als fünftausend selbständigen
Bürgern und Bauern unterzeichnet wurde, obgleich die Führer nur auf eine
Zahl von sechshundert gerechnet hatten. Vom Gipfel des Kahlcnberges kann
man deutsches Sprachgebiet in Ungarn sehen. Da soll es den Wienern gleich¬
gültig sein, wenn den Bewohnern dieses Gebietes magyarische Schicken auf¬
genötigt werden?!

Indes nach und nach lüftet sich doch der Schleier, der uns den Blick
nach Ungarn benahm. Björnson hat gegen die Niedermetzlung der Slowaken
protestiert, ein junger Schotte, der unter dem Pseudonym Scotos Viator schreibt,
hat Ungarn zum Gegenstande seines Studiums gemacht, und der Roman
„Götzcndämmerung" des trefflichen Schwaben Müller-Guttenbrunn hat eine
ganze Reihe von Auflagen erlebt. Wir wissen nnn, daß es eine kleine Clique
ist, die das unglückliche Ungarn beherrscht, eine Clique, die nicht zu mucksen
laute, als der eben verstorbene Honvedoberst Fabritzius das ungarische Parla¬
ment auseinanderjagte, und die sich vor nichts mehr fürchtet als vor der Ein¬
führung des allgemeinen Wahlrechts, die sie entgegen dem von ihr im so¬
genannten Pakte gegebenen Versprechen mit allen Mitteln hinauszuschieben
trachtet.

Nicht um die Bekämpfung des in seinen unteren Schichten so außer¬
ordentlich sympathischen ungarischen Volkes handelt es sich, sondern um die
Beseitigung eines Klassenregimcnts schlimmster Sorte und um die Anbahnung
einer Ordnung, in der die für ein friedliches Zusammenleben mit Österreich
und für einen Anschluß an Osterreich eintretenden Volksstämme Ungarns die
Möglichkeit einer ruhigen nationalen Entwicklung finden. Bei der Beseitigung
der heilte in Ungarn herrschenden Clique fallen die Gefahren hinweg, die den
Bestand der Armee und des einheitlichen Wirtschaftsgebietes bedrohen; wir
Deutsche erhalten zweieinhalb Millionen Menschen unserem Volkstum und ge¬
nießen den Vorteil, daß sich das Gebiet der deutschen Verkehrssprache und des
deutschen Kultureinflnsses nicht unbeträchtlich erweitert. Denn die kleineren
Volksstämme Ungarns werden sich in Zukunft im interlokalen Verkehr der
deutschen Sprache bedienen.

Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Umgestaltung der Verhältnisse in
Ungarn, daß die Bahn zur Lösung der südslawischen Frage frei wird. Diese
südslawische, oder richtiger gesagt serbokroatische Frage hat uns und damit
Europa im letzten Winter recht ernstlich beschäftigt, und eS besteht kein Zweifel,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0208" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315205"/>
            <fw type="header" place="top"> Deutsche Politik in «Österreich</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_793" prev="#ID_792"> Ungarns suchen; und doch bilden diese selbst nach der offiziellen ungarischen<lb/>
Statistik reichlich die Hälfte der Gesamtbevölkerung und geben von Jahr zu<lb/>
Jahr kräftigere Lebenszeichen. Selbst die vor zwei Jahren entstandene, sich<lb/>
kräftig entwickelnde deutsch-ungarische Volkspartei wird von derselben Wiener<lb/>
Presse totgeschwiegen, die sonst jeden gegen ein deutsches Fenster in Böhmen<lb/>
gerichteten Steinwurf zu registrieren pflegt. Und doch gehört es zu den<lb/>
erfreulichsten Erscheinungen der jüngsten Zeit, das; schon der Aufruf zur Gründung<lb/>
der deutsch-ungarischen Volkspartei von mehr als fünftausend selbständigen<lb/>
Bürgern und Bauern unterzeichnet wurde, obgleich die Führer nur auf eine<lb/>
Zahl von sechshundert gerechnet hatten. Vom Gipfel des Kahlcnberges kann<lb/>
man deutsches Sprachgebiet in Ungarn sehen. Da soll es den Wienern gleich¬<lb/>
gültig sein, wenn den Bewohnern dieses Gebietes magyarische Schicken auf¬<lb/>
genötigt werden?!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_794"> Indes nach und nach lüftet sich doch der Schleier, der uns den Blick<lb/>
nach Ungarn benahm. Björnson hat gegen die Niedermetzlung der Slowaken<lb/>
protestiert, ein junger Schotte, der unter dem Pseudonym Scotos Viator schreibt,<lb/>
hat Ungarn zum Gegenstande seines Studiums gemacht, und der Roman<lb/>
&#x201E;Götzcndämmerung" des trefflichen Schwaben Müller-Guttenbrunn hat eine<lb/>
ganze Reihe von Auflagen erlebt. Wir wissen nnn, daß es eine kleine Clique<lb/>
ist, die das unglückliche Ungarn beherrscht, eine Clique, die nicht zu mucksen<lb/>
laute, als der eben verstorbene Honvedoberst Fabritzius das ungarische Parla¬<lb/>
ment auseinanderjagte, und die sich vor nichts mehr fürchtet als vor der Ein¬<lb/>
führung des allgemeinen Wahlrechts, die sie entgegen dem von ihr im so¬<lb/>
genannten Pakte gegebenen Versprechen mit allen Mitteln hinauszuschieben<lb/>
trachtet.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_795"> Nicht um die Bekämpfung des in seinen unteren Schichten so außer¬<lb/>
ordentlich sympathischen ungarischen Volkes handelt es sich, sondern um die<lb/>
Beseitigung eines Klassenregimcnts schlimmster Sorte und um die Anbahnung<lb/>
einer Ordnung, in der die für ein friedliches Zusammenleben mit Österreich<lb/>
und für einen Anschluß an Osterreich eintretenden Volksstämme Ungarns die<lb/>
Möglichkeit einer ruhigen nationalen Entwicklung finden. Bei der Beseitigung<lb/>
der heilte in Ungarn herrschenden Clique fallen die Gefahren hinweg, die den<lb/>
Bestand der Armee und des einheitlichen Wirtschaftsgebietes bedrohen; wir<lb/>
Deutsche erhalten zweieinhalb Millionen Menschen unserem Volkstum und ge¬<lb/>
nießen den Vorteil, daß sich das Gebiet der deutschen Verkehrssprache und des<lb/>
deutschen Kultureinflnsses nicht unbeträchtlich erweitert. Denn die kleineren<lb/>
Volksstämme Ungarns werden sich in Zukunft im interlokalen Verkehr der<lb/>
deutschen Sprache bedienen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_796" next="#ID_797"> Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Umgestaltung der Verhältnisse in<lb/>
Ungarn, daß die Bahn zur Lösung der südslawischen Frage frei wird. Diese<lb/>
südslawische, oder richtiger gesagt serbokroatische Frage hat uns und damit<lb/>
Europa im letzten Winter recht ernstlich beschäftigt, und eS besteht kein Zweifel,</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0208] Deutsche Politik in «Österreich Ungarns suchen; und doch bilden diese selbst nach der offiziellen ungarischen Statistik reichlich die Hälfte der Gesamtbevölkerung und geben von Jahr zu Jahr kräftigere Lebenszeichen. Selbst die vor zwei Jahren entstandene, sich kräftig entwickelnde deutsch-ungarische Volkspartei wird von derselben Wiener Presse totgeschwiegen, die sonst jeden gegen ein deutsches Fenster in Böhmen gerichteten Steinwurf zu registrieren pflegt. Und doch gehört es zu den erfreulichsten Erscheinungen der jüngsten Zeit, das; schon der Aufruf zur Gründung der deutsch-ungarischen Volkspartei von mehr als fünftausend selbständigen Bürgern und Bauern unterzeichnet wurde, obgleich die Führer nur auf eine Zahl von sechshundert gerechnet hatten. Vom Gipfel des Kahlcnberges kann man deutsches Sprachgebiet in Ungarn sehen. Da soll es den Wienern gleich¬ gültig sein, wenn den Bewohnern dieses Gebietes magyarische Schicken auf¬ genötigt werden?! Indes nach und nach lüftet sich doch der Schleier, der uns den Blick nach Ungarn benahm. Björnson hat gegen die Niedermetzlung der Slowaken protestiert, ein junger Schotte, der unter dem Pseudonym Scotos Viator schreibt, hat Ungarn zum Gegenstande seines Studiums gemacht, und der Roman „Götzcndämmerung" des trefflichen Schwaben Müller-Guttenbrunn hat eine ganze Reihe von Auflagen erlebt. Wir wissen nnn, daß es eine kleine Clique ist, die das unglückliche Ungarn beherrscht, eine Clique, die nicht zu mucksen laute, als der eben verstorbene Honvedoberst Fabritzius das ungarische Parla¬ ment auseinanderjagte, und die sich vor nichts mehr fürchtet als vor der Ein¬ führung des allgemeinen Wahlrechts, die sie entgegen dem von ihr im so¬ genannten Pakte gegebenen Versprechen mit allen Mitteln hinauszuschieben trachtet. Nicht um die Bekämpfung des in seinen unteren Schichten so außer¬ ordentlich sympathischen ungarischen Volkes handelt es sich, sondern um die Beseitigung eines Klassenregimcnts schlimmster Sorte und um die Anbahnung einer Ordnung, in der die für ein friedliches Zusammenleben mit Österreich und für einen Anschluß an Osterreich eintretenden Volksstämme Ungarns die Möglichkeit einer ruhigen nationalen Entwicklung finden. Bei der Beseitigung der heilte in Ungarn herrschenden Clique fallen die Gefahren hinweg, die den Bestand der Armee und des einheitlichen Wirtschaftsgebietes bedrohen; wir Deutsche erhalten zweieinhalb Millionen Menschen unserem Volkstum und ge¬ nießen den Vorteil, daß sich das Gebiet der deutschen Verkehrssprache und des deutschen Kultureinflnsses nicht unbeträchtlich erweitert. Denn die kleineren Volksstämme Ungarns werden sich in Zukunft im interlokalen Verkehr der deutschen Sprache bedienen. Ein weiterer Vorteil ergibt sich aus der Umgestaltung der Verhältnisse in Ungarn, daß die Bahn zur Lösung der südslawischen Frage frei wird. Diese südslawische, oder richtiger gesagt serbokroatische Frage hat uns und damit Europa im letzten Winter recht ernstlich beschäftigt, und eS besteht kein Zweifel,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/208
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/208>, abgerufen am 24.07.2024.