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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Politik in Österreich
Die Verhältnisse in Ungarn

erheischen eine Neuregelung von Grund
aus. In den mehr als vierzig Jahren, die seit der dualistischen Gestaltung der
Monarchie verflossen sind, hat es die herrschende Klasse Ungarns trefflich ver¬
standen, sich den Löwenanteil des Einflusses zu sichern, die Kosten des Gro߬
staates aber zum größten Teile der westlichen Reichshälfte aufzubürden. Gleich¬
zeitig hat sie niemals ihr Ziel, die Loslösung Ungarns von Osterreich und die
Errichtung eines selbständigen Staates, aus den Augen verloren. Seit einigen
Jahren steuert sie nun ganz offen auf dieses Ziel los, verlangt ungestüm
ungarische Kommandosprache und damit Zweiteilung der Armee, Errichtung
eines selbständigen Zollgebietes nach dein Jahre 1917 und Gründung einer
selbständigen Notenbank. Die Einsichtigeren unter den ungarischen Politikern
geben zwar gerne zu, daß weder ein selbständiges Zollgebiet noch eine eigene
Notenbank wirtschaftlich geboten erscheint. Wenn auch sie für diese Forderungen
eintreten, so geschieht es, weil sie den jetzigen Zeitpunkt als einen für ihre
politischen Pläne günstigen betrachten. Sie rechnen mit dein Nuhebedürfnisse
und der Friedfertigkeit des alten, von schweren Schicksalsschlügen gebeugten
Kaisers und hoffen, ihm eine Konzession nach der anderen abtrotzen zu können.
Die Taktik der ungarischen Separatisten ist dabei stets die alte. Insbesondere
suchen sie jede Spannung, die zwischen der Monarchie und irgendwelchem Nachbar
eintritt, für ihre Zwecke auszunutzen. Waren es im siebzehnten Jahrhundert
die Türken, im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die Preußen, auf
deren Unterstützung der unzufriedene ungarische Adel rechnete, so suchet! seine
Nachkommen Anlehnung bei Italien, ja sogar bei Serbien. Und in der Tat
haben sie dank dieser Taktik recht ansehnliche Erfolge zu erringen gewußt.

Zu Hilfe kam den ungarischen Machthabern bis in die jüngste Zeit der
Umstand, daß sie nicht bloß das zivilisierte Europa im allgemeinen, sondern
sogar das benachbarte Osterreich über die sozialen und staatlichen Zustüude
Ungarns und damit über ihre Machtstellung vollkommen im unklaren zu lassen
gewußt haben. Was man immer über die Ungarn beherrschende Clique denken
möge, eines muß man ihr zugeben, die Mache versteht sie vorzüglich. Es gibt
keinen internationalen Kongreß, aus den: nicht irgendein Schönredner aus Ungarn
erschiene, um dem gutgläubigen Publikum Sand in die Augen zu streuen. Auch
sparen die ungarischen Politiker nicht, wenn es gilt die öffentliche Meinung des
Auslandes durch offiziöse Journalisten zu beeinflussen. Am meisten kommt ihnen
aber zustatten, daß die große, einflußreiche liberale Wiener Presse ganz in ihrem
Sinne wirkt. Fannlienbeziehungen der Journalisten und geschäftliche Rücksichten
verursachen diesen beklagenswerten Zustand, vor allen: die Besorgnis unter den
vielen Juden Ungarns, die zwar zu den Stützen der herrschenden Partei gehören,
aber doch gerne deutsche Zeitungen lesen. Abonnenten zu verliere". Infolge¬
dessen werden wir in Wien über die wichtigsten Vorgänge in Ungarn entweder
gar nicht oder einseitig unterrichtet. So wird man in den großen Wiener
Zeitungen vergebens Nachrichten über die Bewegung uuter deu Nationalitäten


Deutsche Politik in Österreich
Die Verhältnisse in Ungarn

erheischen eine Neuregelung von Grund
aus. In den mehr als vierzig Jahren, die seit der dualistischen Gestaltung der
Monarchie verflossen sind, hat es die herrschende Klasse Ungarns trefflich ver¬
standen, sich den Löwenanteil des Einflusses zu sichern, die Kosten des Gro߬
staates aber zum größten Teile der westlichen Reichshälfte aufzubürden. Gleich¬
zeitig hat sie niemals ihr Ziel, die Loslösung Ungarns von Osterreich und die
Errichtung eines selbständigen Staates, aus den Augen verloren. Seit einigen
Jahren steuert sie nun ganz offen auf dieses Ziel los, verlangt ungestüm
ungarische Kommandosprache und damit Zweiteilung der Armee, Errichtung
eines selbständigen Zollgebietes nach dein Jahre 1917 und Gründung einer
selbständigen Notenbank. Die Einsichtigeren unter den ungarischen Politikern
geben zwar gerne zu, daß weder ein selbständiges Zollgebiet noch eine eigene
Notenbank wirtschaftlich geboten erscheint. Wenn auch sie für diese Forderungen
eintreten, so geschieht es, weil sie den jetzigen Zeitpunkt als einen für ihre
politischen Pläne günstigen betrachten. Sie rechnen mit dein Nuhebedürfnisse
und der Friedfertigkeit des alten, von schweren Schicksalsschlügen gebeugten
Kaisers und hoffen, ihm eine Konzession nach der anderen abtrotzen zu können.
Die Taktik der ungarischen Separatisten ist dabei stets die alte. Insbesondere
suchen sie jede Spannung, die zwischen der Monarchie und irgendwelchem Nachbar
eintritt, für ihre Zwecke auszunutzen. Waren es im siebzehnten Jahrhundert
die Türken, im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die Preußen, auf
deren Unterstützung der unzufriedene ungarische Adel rechnete, so suchet! seine
Nachkommen Anlehnung bei Italien, ja sogar bei Serbien. Und in der Tat
haben sie dank dieser Taktik recht ansehnliche Erfolge zu erringen gewußt.

Zu Hilfe kam den ungarischen Machthabern bis in die jüngste Zeit der
Umstand, daß sie nicht bloß das zivilisierte Europa im allgemeinen, sondern
sogar das benachbarte Osterreich über die sozialen und staatlichen Zustüude
Ungarns und damit über ihre Machtstellung vollkommen im unklaren zu lassen
gewußt haben. Was man immer über die Ungarn beherrschende Clique denken
möge, eines muß man ihr zugeben, die Mache versteht sie vorzüglich. Es gibt
keinen internationalen Kongreß, aus den: nicht irgendein Schönredner aus Ungarn
erschiene, um dem gutgläubigen Publikum Sand in die Augen zu streuen. Auch
sparen die ungarischen Politiker nicht, wenn es gilt die öffentliche Meinung des
Auslandes durch offiziöse Journalisten zu beeinflussen. Am meisten kommt ihnen
aber zustatten, daß die große, einflußreiche liberale Wiener Presse ganz in ihrem
Sinne wirkt. Fannlienbeziehungen der Journalisten und geschäftliche Rücksichten
verursachen diesen beklagenswerten Zustand, vor allen: die Besorgnis unter den
vielen Juden Ungarns, die zwar zu den Stützen der herrschenden Partei gehören,
aber doch gerne deutsche Zeitungen lesen. Abonnenten zu verliere». Infolge¬
dessen werden wir in Wien über die wichtigsten Vorgänge in Ungarn entweder
gar nicht oder einseitig unterrichtet. So wird man in den großen Wiener
Zeitungen vergebens Nachrichten über die Bewegung uuter deu Nationalitäten


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[0207] Deutsche Politik in Österreich Die Verhältnisse in Ungarn erheischen eine Neuregelung von Grund aus. In den mehr als vierzig Jahren, die seit der dualistischen Gestaltung der Monarchie verflossen sind, hat es die herrschende Klasse Ungarns trefflich ver¬ standen, sich den Löwenanteil des Einflusses zu sichern, die Kosten des Gro߬ staates aber zum größten Teile der westlichen Reichshälfte aufzubürden. Gleich¬ zeitig hat sie niemals ihr Ziel, die Loslösung Ungarns von Osterreich und die Errichtung eines selbständigen Staates, aus den Augen verloren. Seit einigen Jahren steuert sie nun ganz offen auf dieses Ziel los, verlangt ungestüm ungarische Kommandosprache und damit Zweiteilung der Armee, Errichtung eines selbständigen Zollgebietes nach dein Jahre 1917 und Gründung einer selbständigen Notenbank. Die Einsichtigeren unter den ungarischen Politikern geben zwar gerne zu, daß weder ein selbständiges Zollgebiet noch eine eigene Notenbank wirtschaftlich geboten erscheint. Wenn auch sie für diese Forderungen eintreten, so geschieht es, weil sie den jetzigen Zeitpunkt als einen für ihre politischen Pläne günstigen betrachten. Sie rechnen mit dein Nuhebedürfnisse und der Friedfertigkeit des alten, von schweren Schicksalsschlügen gebeugten Kaisers und hoffen, ihm eine Konzession nach der anderen abtrotzen zu können. Die Taktik der ungarischen Separatisten ist dabei stets die alte. Insbesondere suchen sie jede Spannung, die zwischen der Monarchie und irgendwelchem Nachbar eintritt, für ihre Zwecke auszunutzen. Waren es im siebzehnten Jahrhundert die Türken, im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die Preußen, auf deren Unterstützung der unzufriedene ungarische Adel rechnete, so suchet! seine Nachkommen Anlehnung bei Italien, ja sogar bei Serbien. Und in der Tat haben sie dank dieser Taktik recht ansehnliche Erfolge zu erringen gewußt. Zu Hilfe kam den ungarischen Machthabern bis in die jüngste Zeit der Umstand, daß sie nicht bloß das zivilisierte Europa im allgemeinen, sondern sogar das benachbarte Osterreich über die sozialen und staatlichen Zustüude Ungarns und damit über ihre Machtstellung vollkommen im unklaren zu lassen gewußt haben. Was man immer über die Ungarn beherrschende Clique denken möge, eines muß man ihr zugeben, die Mache versteht sie vorzüglich. Es gibt keinen internationalen Kongreß, aus den: nicht irgendein Schönredner aus Ungarn erschiene, um dem gutgläubigen Publikum Sand in die Augen zu streuen. Auch sparen die ungarischen Politiker nicht, wenn es gilt die öffentliche Meinung des Auslandes durch offiziöse Journalisten zu beeinflussen. Am meisten kommt ihnen aber zustatten, daß die große, einflußreiche liberale Wiener Presse ganz in ihrem Sinne wirkt. Fannlienbeziehungen der Journalisten und geschäftliche Rücksichten verursachen diesen beklagenswerten Zustand, vor allen: die Besorgnis unter den vielen Juden Ungarns, die zwar zu den Stützen der herrschenden Partei gehören, aber doch gerne deutsche Zeitungen lesen. Abonnenten zu verliere». Infolge¬ dessen werden wir in Wien über die wichtigsten Vorgänge in Ungarn entweder gar nicht oder einseitig unterrichtet. So wird man in den großen Wiener Zeitungen vergebens Nachrichten über die Bewegung uuter deu Nationalitäten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/207>, abgerufen am 21.12.2024.