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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ernst Moritz Arndt

"ach der Geburt eines Sohnes, und der wieder vereinsamte Manu wird von
den mächtigen Zeitereignissen ergriffen.




In der modernen Literatur viel mehr noch als im modernen Leben wird
die große Überzahl der Menschen von solchen gebildet, die. aller Hingabe ein
ein Allgemeines unfähig, sich eng in die Grenzen ihrer privaten Existenz ein¬
schließen. Der Beruf, der sie ins Allgemeine hinausführt, ist ihnen nur Mittel
zum Zweck, ihr eigentliches Glück finden sie einzig in den Beziehungen zu ihren
Allernächsten, zu Verwandten, Freunden, Geliebten. Werden sie hier unglücklich,
so ist ihre Lebenskraft ein für allemal gebrochen; auch wenn sie nicht sogleich
den Tod finden, leben sie doch nicht mehr wie ganze Menschen, sondern höchstens
pflauzenähnlich weiter. Das Allgemeine kann sie ihrer Erstarrung nicht entreiße".
Ich glaube, hier hat >die Lehre vom Individualismus, die so oft vertiefend
wirkte, eine Verengung geschaffen. Sie hat zwischen den: viclzerfaserten und
vielverhätschelten Ich und dem Allgemeinen eine Schranke aufgerichtet. In seiner
Abtrennung kann das Ich trefflich beobachtet und gepflegt werden, kann es aber
auch gelegentlich jammervoll verhungern.

Zu diesen modernen Charakteren bildet Ernst Moritz Arndt einen wahrhaft
erquicklichen Gegensatz. Auch er glaubt natürlich am Sarge seiner jungen Frau.
nun habe er alles Lebensglück verloren, auch er ergeht sich in bittersten Klagen.
Freilich nicht in seinen Erinnerungen; dort konnte der alte Mann, auf den noch
so vieles nach jenen: Unglück eingestürmt war, Glück wie Unglück in gleicher
Fülle -- dort konnte er diesen erste" Schlag in einer stoischen Zeile abtun.
Aber Arndt hat sein Leben von früh auf mit Versen begleitet, die nicht immer
sonderlich formvollendet oder gedankentief sind, doch immer ganz offenbar aus
dem Herzen kommen. In den Gedichten ist sein Gram laut geworden, ein
Gram, der an Verzweiflung grenzte. Aber das gleiche Stück, das sei" bitterstes
Leiden ausdrückt, bringt nun auch den Aufschwung, zeigt das neue Ziel, dei"
sich der Einsame hingeben wird. Noch im Todesjahr seiner Gattin dichtet er
die "Klage um Liebe und Freiheit". Da klagt er leidenschaftlich über seine
Verlassenheit, hört es aber in aller Not "mächtig oft wie Geisterstimme", daß
eine Aufraffung, ein neues Schaffen not tue, und sieht sein Ziel deutlich gewiesen:

"Germania, mein Vaterland." Dem Mann der schwedischen Nationalität
wird es allmählich klar, daß er deutschen Blutes ist; er sieht Deutschland vom
Westen her immer größere Gefahr kommen und so steigt sein Zugehörigkeitsgefühl,
seine Vaterlandsliebe höher und höher. Es handelt sich da um eine deutlich
erkennbare, schrittweise Entwicklung. Im "Versuch einer Geschichte der Leib¬
eigenschaft in Pommern und Rügen", einer Schrift, die nicht ohne praktische"


Grenzboten I t910 20
Ernst Moritz Arndt

»ach der Geburt eines Sohnes, und der wieder vereinsamte Manu wird von
den mächtigen Zeitereignissen ergriffen.




In der modernen Literatur viel mehr noch als im modernen Leben wird
die große Überzahl der Menschen von solchen gebildet, die. aller Hingabe ein
ein Allgemeines unfähig, sich eng in die Grenzen ihrer privaten Existenz ein¬
schließen. Der Beruf, der sie ins Allgemeine hinausführt, ist ihnen nur Mittel
zum Zweck, ihr eigentliches Glück finden sie einzig in den Beziehungen zu ihren
Allernächsten, zu Verwandten, Freunden, Geliebten. Werden sie hier unglücklich,
so ist ihre Lebenskraft ein für allemal gebrochen; auch wenn sie nicht sogleich
den Tod finden, leben sie doch nicht mehr wie ganze Menschen, sondern höchstens
pflauzenähnlich weiter. Das Allgemeine kann sie ihrer Erstarrung nicht entreiße».
Ich glaube, hier hat >die Lehre vom Individualismus, die so oft vertiefend
wirkte, eine Verengung geschaffen. Sie hat zwischen den: viclzerfaserten und
vielverhätschelten Ich und dem Allgemeinen eine Schranke aufgerichtet. In seiner
Abtrennung kann das Ich trefflich beobachtet und gepflegt werden, kann es aber
auch gelegentlich jammervoll verhungern.

Zu diesen modernen Charakteren bildet Ernst Moritz Arndt einen wahrhaft
erquicklichen Gegensatz. Auch er glaubt natürlich am Sarge seiner jungen Frau.
nun habe er alles Lebensglück verloren, auch er ergeht sich in bittersten Klagen.
Freilich nicht in seinen Erinnerungen; dort konnte der alte Mann, auf den noch
so vieles nach jenen: Unglück eingestürmt war, Glück wie Unglück in gleicher
Fülle — dort konnte er diesen erste» Schlag in einer stoischen Zeile abtun.
Aber Arndt hat sein Leben von früh auf mit Versen begleitet, die nicht immer
sonderlich formvollendet oder gedankentief sind, doch immer ganz offenbar aus
dem Herzen kommen. In den Gedichten ist sein Gram laut geworden, ein
Gram, der an Verzweiflung grenzte. Aber das gleiche Stück, das sei» bitterstes
Leiden ausdrückt, bringt nun auch den Aufschwung, zeigt das neue Ziel, dei»
sich der Einsame hingeben wird. Noch im Todesjahr seiner Gattin dichtet er
die „Klage um Liebe und Freiheit". Da klagt er leidenschaftlich über seine
Verlassenheit, hört es aber in aller Not „mächtig oft wie Geisterstimme", daß
eine Aufraffung, ein neues Schaffen not tue, und sieht sein Ziel deutlich gewiesen:

„Germania, mein Vaterland." Dem Mann der schwedischen Nationalität
wird es allmählich klar, daß er deutschen Blutes ist; er sieht Deutschland vom
Westen her immer größere Gefahr kommen und so steigt sein Zugehörigkeitsgefühl,
seine Vaterlandsliebe höher und höher. Es handelt sich da um eine deutlich
erkennbare, schrittweise Entwicklung. Im „Versuch einer Geschichte der Leib¬
eigenschaft in Pommern und Rügen", einer Schrift, die nicht ohne praktische»


Grenzboten I t910 20
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[0165] Ernst Moritz Arndt »ach der Geburt eines Sohnes, und der wieder vereinsamte Manu wird von den mächtigen Zeitereignissen ergriffen. In der modernen Literatur viel mehr noch als im modernen Leben wird die große Überzahl der Menschen von solchen gebildet, die. aller Hingabe ein ein Allgemeines unfähig, sich eng in die Grenzen ihrer privaten Existenz ein¬ schließen. Der Beruf, der sie ins Allgemeine hinausführt, ist ihnen nur Mittel zum Zweck, ihr eigentliches Glück finden sie einzig in den Beziehungen zu ihren Allernächsten, zu Verwandten, Freunden, Geliebten. Werden sie hier unglücklich, so ist ihre Lebenskraft ein für allemal gebrochen; auch wenn sie nicht sogleich den Tod finden, leben sie doch nicht mehr wie ganze Menschen, sondern höchstens pflauzenähnlich weiter. Das Allgemeine kann sie ihrer Erstarrung nicht entreiße». Ich glaube, hier hat >die Lehre vom Individualismus, die so oft vertiefend wirkte, eine Verengung geschaffen. Sie hat zwischen den: viclzerfaserten und vielverhätschelten Ich und dem Allgemeinen eine Schranke aufgerichtet. In seiner Abtrennung kann das Ich trefflich beobachtet und gepflegt werden, kann es aber auch gelegentlich jammervoll verhungern. Zu diesen modernen Charakteren bildet Ernst Moritz Arndt einen wahrhaft erquicklichen Gegensatz. Auch er glaubt natürlich am Sarge seiner jungen Frau. nun habe er alles Lebensglück verloren, auch er ergeht sich in bittersten Klagen. Freilich nicht in seinen Erinnerungen; dort konnte der alte Mann, auf den noch so vieles nach jenen: Unglück eingestürmt war, Glück wie Unglück in gleicher Fülle — dort konnte er diesen erste» Schlag in einer stoischen Zeile abtun. Aber Arndt hat sein Leben von früh auf mit Versen begleitet, die nicht immer sonderlich formvollendet oder gedankentief sind, doch immer ganz offenbar aus dem Herzen kommen. In den Gedichten ist sein Gram laut geworden, ein Gram, der an Verzweiflung grenzte. Aber das gleiche Stück, das sei» bitterstes Leiden ausdrückt, bringt nun auch den Aufschwung, zeigt das neue Ziel, dei» sich der Einsame hingeben wird. Noch im Todesjahr seiner Gattin dichtet er die „Klage um Liebe und Freiheit". Da klagt er leidenschaftlich über seine Verlassenheit, hört es aber in aller Not „mächtig oft wie Geisterstimme", daß eine Aufraffung, ein neues Schaffen not tue, und sieht sein Ziel deutlich gewiesen: „Germania, mein Vaterland." Dem Mann der schwedischen Nationalität wird es allmählich klar, daß er deutschen Blutes ist; er sieht Deutschland vom Westen her immer größere Gefahr kommen und so steigt sein Zugehörigkeitsgefühl, seine Vaterlandsliebe höher und höher. Es handelt sich da um eine deutlich erkennbare, schrittweise Entwicklung. Im „Versuch einer Geschichte der Leib¬ eigenschaft in Pommern und Rügen", einer Schrift, die nicht ohne praktische» Grenzboten I t910 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/165>, abgerufen am 04.07.2024.