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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Lrnst Moritz Arndt

seines Wesens. Die Sitten der Stadt, erzählt er, waren "sinnlich
auf Genuß und Lebenslust gestellt", und bei reifenden Jahren hatte er trotz
tüchtigen Arbeitens und eifriger Abhärtung unter allerlei natürlichen Anfechtungen
zu leiden. "Ich betete und rang, keusch und unschuldig zu bleiben." Schließlich
floh er geradezu aus der Stadt; er wollte bei irgendeinem Gutsbesitzer als
Rechnungsführer eintreten oder sonst einen Posten annehmen. Seine Eltern
bestimmten ihn dann aber heimzukommen, und nun bereitete er sich in ländlichem
Frieden für die Universität vor. Theologische und philosophische Studien in
Greifswald und Jena folgten, Fichtes Einfluß auf ihn dürfte ein besonders
starker gewesen sein. Dann saß er "wieder zwei behagliche Jahre" zu Haus,
unterrichtete die jüngsten Geschwister und studierte für sich. Es hätte sich uun
wohl dein Kandidaten der Theologie, der einige Male "mit Schall und Beifall"
predigte, eine gute Rügensche Pfarre geboten; aber der Gewissenhafte und
Bildungseifrige zweifelte an seiner Bestimmung zum Geistlichen, mochte sich auch
noch nicht fürs Leben binden und seine Vorbereitungen abschließen. Da ihn der
Vater unterstützte, da er zum andern ein recht bedürfnisloser Mensch war, so
konnte sich Arndt nun noch einige Wärter- und Reisejahre gönnen, die ihn
nicht weniger bildeten als seine eigentlichen Studien. Seine "Reisen durch einen
Teil Deutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs" in den Jahren 1798
und 1799 sind das literarische Ergebnis dieser Epoche. Arndt plaudert als
guter Beobachter über dies und das; er geht dein Politischen nicht aus dem
Weg, sucht es aber auch uicht; er fühlt sich als schwedischer Bürger und
Kosmopolit, er sieht in der großen französischen Bewegung das Gute und
Menschliche, bewundert den "großen Genius Bounpartes". Kurz, nichts in
diesem Werk weist eigentlich auf den künftigen Patrioten hin. Aber wer
der Entwicklung des Menschen Arndt bis hierher gefolgt ist, der muß Zu¬
trauen zu ihm gewonnen haben. Seltsam, wie immer Verdienst und Glück,
verketten sich hier Charakteranlage, Selbsterziehung und Gunst der äußeren
Umstünde. Kraftvoll erscheint der Knabe von Anfang an, und wie strebt er
dann nach Tüchtigkeit und Reinheit, und später nach Wissen und Erfahrung.
Aber wie ist es ihm auch gegeben, sich selber in voller Ruhe und Freiheit so¬
zusagen auszubauen. Dies jahrelange Stillsitzen und Fürsichstudieren, diese
fröhlichen, fruchtbringenden Wanderzeiten! Man halte dagegen den fest-
umschlosseneu und auf knappste Zeit bemessenen Studiengang eines modernen
Studenten ans nicht allzu begüterter Familie: so wird man das ganze Glück
der weitgedehnten Arndtschen Jugend recht einzuschätzen wissen.

Das Jahr 1800 bedeutet den Abschluß dieser glücklichsten Jugend. Arndt
wird Privatdozent der Geschichte an der schwedischen Universität Greifswald und
heiratet ein längst geliebtes Mädchen. Er glaubt sich für den Rest seines Lebens
im Hafen. In Wahrheit ist er nur eben bis zur Mündung des friedlichen
Stromes seiner Jugendjahre gelangt; die Meerfahrt des eigentlichen Lebens liegt
vor ihm. Im Sommer nach dieser Eheschließung stirbt Frau Charlotte Marie


Lrnst Moritz Arndt

seines Wesens. Die Sitten der Stadt, erzählt er, waren „sinnlich
auf Genuß und Lebenslust gestellt", und bei reifenden Jahren hatte er trotz
tüchtigen Arbeitens und eifriger Abhärtung unter allerlei natürlichen Anfechtungen
zu leiden. „Ich betete und rang, keusch und unschuldig zu bleiben." Schließlich
floh er geradezu aus der Stadt; er wollte bei irgendeinem Gutsbesitzer als
Rechnungsführer eintreten oder sonst einen Posten annehmen. Seine Eltern
bestimmten ihn dann aber heimzukommen, und nun bereitete er sich in ländlichem
Frieden für die Universität vor. Theologische und philosophische Studien in
Greifswald und Jena folgten, Fichtes Einfluß auf ihn dürfte ein besonders
starker gewesen sein. Dann saß er „wieder zwei behagliche Jahre" zu Haus,
unterrichtete die jüngsten Geschwister und studierte für sich. Es hätte sich uun
wohl dein Kandidaten der Theologie, der einige Male „mit Schall und Beifall"
predigte, eine gute Rügensche Pfarre geboten; aber der Gewissenhafte und
Bildungseifrige zweifelte an seiner Bestimmung zum Geistlichen, mochte sich auch
noch nicht fürs Leben binden und seine Vorbereitungen abschließen. Da ihn der
Vater unterstützte, da er zum andern ein recht bedürfnisloser Mensch war, so
konnte sich Arndt nun noch einige Wärter- und Reisejahre gönnen, die ihn
nicht weniger bildeten als seine eigentlichen Studien. Seine „Reisen durch einen
Teil Deutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs" in den Jahren 1798
und 1799 sind das literarische Ergebnis dieser Epoche. Arndt plaudert als
guter Beobachter über dies und das; er geht dein Politischen nicht aus dem
Weg, sucht es aber auch uicht; er fühlt sich als schwedischer Bürger und
Kosmopolit, er sieht in der großen französischen Bewegung das Gute und
Menschliche, bewundert den „großen Genius Bounpartes". Kurz, nichts in
diesem Werk weist eigentlich auf den künftigen Patrioten hin. Aber wer
der Entwicklung des Menschen Arndt bis hierher gefolgt ist, der muß Zu¬
trauen zu ihm gewonnen haben. Seltsam, wie immer Verdienst und Glück,
verketten sich hier Charakteranlage, Selbsterziehung und Gunst der äußeren
Umstünde. Kraftvoll erscheint der Knabe von Anfang an, und wie strebt er
dann nach Tüchtigkeit und Reinheit, und später nach Wissen und Erfahrung.
Aber wie ist es ihm auch gegeben, sich selber in voller Ruhe und Freiheit so¬
zusagen auszubauen. Dies jahrelange Stillsitzen und Fürsichstudieren, diese
fröhlichen, fruchtbringenden Wanderzeiten! Man halte dagegen den fest-
umschlosseneu und auf knappste Zeit bemessenen Studiengang eines modernen
Studenten ans nicht allzu begüterter Familie: so wird man das ganze Glück
der weitgedehnten Arndtschen Jugend recht einzuschätzen wissen.

Das Jahr 1800 bedeutet den Abschluß dieser glücklichsten Jugend. Arndt
wird Privatdozent der Geschichte an der schwedischen Universität Greifswald und
heiratet ein längst geliebtes Mädchen. Er glaubt sich für den Rest seines Lebens
im Hafen. In Wahrheit ist er nur eben bis zur Mündung des friedlichen
Stromes seiner Jugendjahre gelangt; die Meerfahrt des eigentlichen Lebens liegt
vor ihm. Im Sommer nach dieser Eheschließung stirbt Frau Charlotte Marie


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[0164] Lrnst Moritz Arndt seines Wesens. Die Sitten der Stadt, erzählt er, waren „sinnlich auf Genuß und Lebenslust gestellt", und bei reifenden Jahren hatte er trotz tüchtigen Arbeitens und eifriger Abhärtung unter allerlei natürlichen Anfechtungen zu leiden. „Ich betete und rang, keusch und unschuldig zu bleiben." Schließlich floh er geradezu aus der Stadt; er wollte bei irgendeinem Gutsbesitzer als Rechnungsführer eintreten oder sonst einen Posten annehmen. Seine Eltern bestimmten ihn dann aber heimzukommen, und nun bereitete er sich in ländlichem Frieden für die Universität vor. Theologische und philosophische Studien in Greifswald und Jena folgten, Fichtes Einfluß auf ihn dürfte ein besonders starker gewesen sein. Dann saß er „wieder zwei behagliche Jahre" zu Haus, unterrichtete die jüngsten Geschwister und studierte für sich. Es hätte sich uun wohl dein Kandidaten der Theologie, der einige Male „mit Schall und Beifall" predigte, eine gute Rügensche Pfarre geboten; aber der Gewissenhafte und Bildungseifrige zweifelte an seiner Bestimmung zum Geistlichen, mochte sich auch noch nicht fürs Leben binden und seine Vorbereitungen abschließen. Da ihn der Vater unterstützte, da er zum andern ein recht bedürfnisloser Mensch war, so konnte sich Arndt nun noch einige Wärter- und Reisejahre gönnen, die ihn nicht weniger bildeten als seine eigentlichen Studien. Seine „Reisen durch einen Teil Deutschlands, Ungarns, Italiens und Frankreichs" in den Jahren 1798 und 1799 sind das literarische Ergebnis dieser Epoche. Arndt plaudert als guter Beobachter über dies und das; er geht dein Politischen nicht aus dem Weg, sucht es aber auch uicht; er fühlt sich als schwedischer Bürger und Kosmopolit, er sieht in der großen französischen Bewegung das Gute und Menschliche, bewundert den „großen Genius Bounpartes". Kurz, nichts in diesem Werk weist eigentlich auf den künftigen Patrioten hin. Aber wer der Entwicklung des Menschen Arndt bis hierher gefolgt ist, der muß Zu¬ trauen zu ihm gewonnen haben. Seltsam, wie immer Verdienst und Glück, verketten sich hier Charakteranlage, Selbsterziehung und Gunst der äußeren Umstünde. Kraftvoll erscheint der Knabe von Anfang an, und wie strebt er dann nach Tüchtigkeit und Reinheit, und später nach Wissen und Erfahrung. Aber wie ist es ihm auch gegeben, sich selber in voller Ruhe und Freiheit so¬ zusagen auszubauen. Dies jahrelange Stillsitzen und Fürsichstudieren, diese fröhlichen, fruchtbringenden Wanderzeiten! Man halte dagegen den fest- umschlosseneu und auf knappste Zeit bemessenen Studiengang eines modernen Studenten ans nicht allzu begüterter Familie: so wird man das ganze Glück der weitgedehnten Arndtschen Jugend recht einzuschätzen wissen. Das Jahr 1800 bedeutet den Abschluß dieser glücklichsten Jugend. Arndt wird Privatdozent der Geschichte an der schwedischen Universität Greifswald und heiratet ein längst geliebtes Mädchen. Er glaubt sich für den Rest seines Lebens im Hafen. In Wahrheit ist er nur eben bis zur Mündung des friedlichen Stromes seiner Jugendjahre gelangt; die Meerfahrt des eigentlichen Lebens liegt vor ihm. Im Sommer nach dieser Eheschließung stirbt Frau Charlotte Marie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/164>, abgerufen am 04.07.2024.