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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Der Niedergang der politischen Parteien

Es bedarf kaum des Hinweises darauf, daß die hier geschilderte Strömung
keineswegs auf das deutsche Volk beschränkt ist. Auch in England, Frankreich,
den nordischen Staaten, Amerika usw., also sowohl in Monarchien wie in Re¬
publiken, finden wir Analogien und Vorbilder. Mit der Staatsform hängt sie
mithin nicht zusammen, und berührt sie zunächst auch nicht. Ihre Führer sind
in einer Reihe auswärtiger Staaten in die Ministerien eingetreten, ohne das;
die frühere Staatsform verändert wäre.

Diese tiefgreifende Bewegung im sozialen Leben des Volks ist den Zentral¬
behörden nicht entgangen. Dennoch hat die einschlägige Gesetzgebung der ver-
flossnen fünfundzwanzig Jahre, so wohlwollend man sie auch einschätzen mag,
weder beschränkend noch leitend auf sie gewirkt. Sie hat wesentlich nur die
Begehrlichkeit auch in den Schichten geweckt, die nicht mehr zu den Arbeitern
zählen. Mit einigen weitren Gesetzen, wie dein Vereinsgesetz, oder der
Witwen- und Waisenversorgung, für die das Geld fehlt, oder gar mit Dis-
zipliuarmaßregelu, ist nichts zu erreichen. Abwarten tut's auch uicht. Bisher
war meist nur von Zurückdämmen und Einschränken zu hören. Man scheint
auf ein Abflauen der Sache zu hoffen, wobei wohl vorzugsweise an die
Sozialdemokratie gedacht wird. Wie wir zeigte", ist eine solche Auffassung
grundfalsch. Die Bewegung geht weit tiefer. Sie müßte in geordnete Bahnen
gelenkt und zu nützlicher, nicht zerstörender Arbeit angeleitet werden. Wie
Bismarck die 1848 nutzlos verpuffte Bewegung zwanzig Jahre später in ein
geordnetes Bett leitete und sie in kurzem Siegeszuge ans Ziel führte, so müßte
heute ein moderner Staatsmann eingreifen.

Leider sind Staatsmänner dünn gesäet. Wird die deutsche, vor allem
die preußische Bureaukratie die Einsicht und Fähigkeit haben, die Führung der
allgemeinen Bewegung bei uns zu übernehmen, ähnlich wie sie seinerzeit den
Zollverein durchsetzte? Trotz der emsigen Bemühungen von einzelnen Stellen
ist zurzeit uoch alles verschleiert. Die Verbindung der preußischen Regierung
mit dem Bunde der Landwirte läßt nicht viel Gutes ahnen. Statt selbst zu
leiten, ließ sie sich die Richtung vorschreiben.

Die Wirkung dieser Verhältnisse auf die Verhandlungen des Reichstags
wird voraussichtlich wenig erfreulich sein. Ihr Tiefstand hat sicher zum Teil
seinen Grund in den: Eindringen der Interessenpolitik in die alten Parteien;
die -- theoretisch unabhängige -- Abstimmung der Volksboden ist durch die
mehr und mehr eindringende Richtung in einem solchen Grade vorausbestimmt, und
der Abgeordnete ist durch die Forderungen seiner Wähler so sehr gefesselt, daß
weder von einem freien Meinungsaustausch, uoch vou Abstimmung nach bester
Überzeugung die Rede sein kann. Die Abgeordneten finden eine gebundene
Marschroute vor und müssen ihre Stimme nach Instruktion abgeben. Von
dem Ideal, das man früher mit dem Wort Parlament verband, ist dieser Zu¬
stand himmelweit verschieden. Er entspricht den Zuständen auf deu alten
Reichstagen, deren Teilnehmer mit bestimmten Aufträgen entsandt waren, und


Der Niedergang der politischen Parteien

Es bedarf kaum des Hinweises darauf, daß die hier geschilderte Strömung
keineswegs auf das deutsche Volk beschränkt ist. Auch in England, Frankreich,
den nordischen Staaten, Amerika usw., also sowohl in Monarchien wie in Re¬
publiken, finden wir Analogien und Vorbilder. Mit der Staatsform hängt sie
mithin nicht zusammen, und berührt sie zunächst auch nicht. Ihre Führer sind
in einer Reihe auswärtiger Staaten in die Ministerien eingetreten, ohne das;
die frühere Staatsform verändert wäre.

Diese tiefgreifende Bewegung im sozialen Leben des Volks ist den Zentral¬
behörden nicht entgangen. Dennoch hat die einschlägige Gesetzgebung der ver-
flossnen fünfundzwanzig Jahre, so wohlwollend man sie auch einschätzen mag,
weder beschränkend noch leitend auf sie gewirkt. Sie hat wesentlich nur die
Begehrlichkeit auch in den Schichten geweckt, die nicht mehr zu den Arbeitern
zählen. Mit einigen weitren Gesetzen, wie dein Vereinsgesetz, oder der
Witwen- und Waisenversorgung, für die das Geld fehlt, oder gar mit Dis-
zipliuarmaßregelu, ist nichts zu erreichen. Abwarten tut's auch uicht. Bisher
war meist nur von Zurückdämmen und Einschränken zu hören. Man scheint
auf ein Abflauen der Sache zu hoffen, wobei wohl vorzugsweise an die
Sozialdemokratie gedacht wird. Wie wir zeigte», ist eine solche Auffassung
grundfalsch. Die Bewegung geht weit tiefer. Sie müßte in geordnete Bahnen
gelenkt und zu nützlicher, nicht zerstörender Arbeit angeleitet werden. Wie
Bismarck die 1848 nutzlos verpuffte Bewegung zwanzig Jahre später in ein
geordnetes Bett leitete und sie in kurzem Siegeszuge ans Ziel führte, so müßte
heute ein moderner Staatsmann eingreifen.

Leider sind Staatsmänner dünn gesäet. Wird die deutsche, vor allem
die preußische Bureaukratie die Einsicht und Fähigkeit haben, die Führung der
allgemeinen Bewegung bei uns zu übernehmen, ähnlich wie sie seinerzeit den
Zollverein durchsetzte? Trotz der emsigen Bemühungen von einzelnen Stellen
ist zurzeit uoch alles verschleiert. Die Verbindung der preußischen Regierung
mit dem Bunde der Landwirte läßt nicht viel Gutes ahnen. Statt selbst zu
leiten, ließ sie sich die Richtung vorschreiben.

Die Wirkung dieser Verhältnisse auf die Verhandlungen des Reichstags
wird voraussichtlich wenig erfreulich sein. Ihr Tiefstand hat sicher zum Teil
seinen Grund in den: Eindringen der Interessenpolitik in die alten Parteien;
die — theoretisch unabhängige — Abstimmung der Volksboden ist durch die
mehr und mehr eindringende Richtung in einem solchen Grade vorausbestimmt, und
der Abgeordnete ist durch die Forderungen seiner Wähler so sehr gefesselt, daß
weder von einem freien Meinungsaustausch, uoch vou Abstimmung nach bester
Überzeugung die Rede sein kann. Die Abgeordneten finden eine gebundene
Marschroute vor und müssen ihre Stimme nach Instruktion abgeben. Von
dem Ideal, das man früher mit dem Wort Parlament verband, ist dieser Zu¬
stand himmelweit verschieden. Er entspricht den Zuständen auf deu alten
Reichstagen, deren Teilnehmer mit bestimmten Aufträgen entsandt waren, und


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[0016] Der Niedergang der politischen Parteien Es bedarf kaum des Hinweises darauf, daß die hier geschilderte Strömung keineswegs auf das deutsche Volk beschränkt ist. Auch in England, Frankreich, den nordischen Staaten, Amerika usw., also sowohl in Monarchien wie in Re¬ publiken, finden wir Analogien und Vorbilder. Mit der Staatsform hängt sie mithin nicht zusammen, und berührt sie zunächst auch nicht. Ihre Führer sind in einer Reihe auswärtiger Staaten in die Ministerien eingetreten, ohne das; die frühere Staatsform verändert wäre. Diese tiefgreifende Bewegung im sozialen Leben des Volks ist den Zentral¬ behörden nicht entgangen. Dennoch hat die einschlägige Gesetzgebung der ver- flossnen fünfundzwanzig Jahre, so wohlwollend man sie auch einschätzen mag, weder beschränkend noch leitend auf sie gewirkt. Sie hat wesentlich nur die Begehrlichkeit auch in den Schichten geweckt, die nicht mehr zu den Arbeitern zählen. Mit einigen weitren Gesetzen, wie dein Vereinsgesetz, oder der Witwen- und Waisenversorgung, für die das Geld fehlt, oder gar mit Dis- zipliuarmaßregelu, ist nichts zu erreichen. Abwarten tut's auch uicht. Bisher war meist nur von Zurückdämmen und Einschränken zu hören. Man scheint auf ein Abflauen der Sache zu hoffen, wobei wohl vorzugsweise an die Sozialdemokratie gedacht wird. Wie wir zeigte», ist eine solche Auffassung grundfalsch. Die Bewegung geht weit tiefer. Sie müßte in geordnete Bahnen gelenkt und zu nützlicher, nicht zerstörender Arbeit angeleitet werden. Wie Bismarck die 1848 nutzlos verpuffte Bewegung zwanzig Jahre später in ein geordnetes Bett leitete und sie in kurzem Siegeszuge ans Ziel führte, so müßte heute ein moderner Staatsmann eingreifen. Leider sind Staatsmänner dünn gesäet. Wird die deutsche, vor allem die preußische Bureaukratie die Einsicht und Fähigkeit haben, die Führung der allgemeinen Bewegung bei uns zu übernehmen, ähnlich wie sie seinerzeit den Zollverein durchsetzte? Trotz der emsigen Bemühungen von einzelnen Stellen ist zurzeit uoch alles verschleiert. Die Verbindung der preußischen Regierung mit dem Bunde der Landwirte läßt nicht viel Gutes ahnen. Statt selbst zu leiten, ließ sie sich die Richtung vorschreiben. Die Wirkung dieser Verhältnisse auf die Verhandlungen des Reichstags wird voraussichtlich wenig erfreulich sein. Ihr Tiefstand hat sicher zum Teil seinen Grund in den: Eindringen der Interessenpolitik in die alten Parteien; die — theoretisch unabhängige — Abstimmung der Volksboden ist durch die mehr und mehr eindringende Richtung in einem solchen Grade vorausbestimmt, und der Abgeordnete ist durch die Forderungen seiner Wähler so sehr gefesselt, daß weder von einem freien Meinungsaustausch, uoch vou Abstimmung nach bester Überzeugung die Rede sein kann. Die Abgeordneten finden eine gebundene Marschroute vor und müssen ihre Stimme nach Instruktion abgeben. Von dem Ideal, das man früher mit dem Wort Parlament verband, ist dieser Zu¬ stand himmelweit verschieden. Er entspricht den Zuständen auf deu alten Reichstagen, deren Teilnehmer mit bestimmten Aufträgen entsandt waren, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/16>, abgerufen am 24.07.2024.