Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lehrcrtragödion

duch, das auf seinem Schreibtisch herumlag. Auch hat er mir schon selbst
Andeutungen gemacht. Bedenken Sie, es ist mein einziger Sohn! Denken
Sie an den Jammer, der auf mein graues Haupt herabsänke und an die
Blutschuld, die Ihre blonden Haare rot färbte! Ich verlöre gewiß mein
Mandat als Stadtverordneter und Sie Ihre Stellung. Wie kann solch ein
Rabenvater Stadtvater bleiben und ein solcher Lehrer fortfahren, seine
Zöglinge in den Tod zu treiben! Unser beider Ruf, unser tägliches Brot steht
auf dem Spiele. Erbarmen Sie sich, geben Sie ihn: gute Zensuren, es ist zu
Ihrem eignen Heile!' Und da sank der schwerbekümmerte Mann mir schluchzend
zu Füßen und umschlang meine Knie, wie Priamos, da er von dem grausamen
Achilleus die Leiche seines Lieblings Hektor herausfordert.

"Ich fiel, wie Sie sich denken können, aus den Wolken. Und im nächsten
Moment stürzte ich ins Direktorzimmer. Doch ich hatte noch nicht die Tür
zugemacht, als sie mir aus der Hand gerissen wurde und ein Jüngling mit
wallendem Haar, flatternder Krawatte und kurzen Hosen hinterdrein kam und
mich einfach umrempelte. Es war der hoffnungsvolle Sproß des Stadtverord¬
neten Müller, der mich um Brot und Ehre bringen wollte, aber gottlob noch
an: Leben war. Ehe ich den Mund auftat, kam er nur zuvor.

,Sie Mörder meiner Jugend!' herrschte er mich an. .Sie Vernichter
meiner Individualität, Sie Nagel zu meinem Sarge, Sie Kugel zu meinem
Revolver, Sie Topf voll Rattengift! Ich höre, Sie haben mich für geistig minder¬
wertig erklärt! Wenn Sie aber nur halb soviel Grips besäßen, als Sie mir ab¬
sprechen, so müßten Sie sich über die Tragweite Ihrer Worte klar werden.
Mensch -- ich rede menschlich zu Ihnen -- Sie rennen ja sehenden Auges in
Ihr Verderben! Nehmen Sie diese Kränkung nicht coram publico zurück, so
ist meine Klasse bei der unter uus herrschenden Interessen-Solidität (er meinte
natürlich Solidarität) zum Generalstreik genötigt. Sie halten das vielleicht
für eine haltlose Drohung und bilden sich ein, unsre Eltern und Bedrücker oder
gar die Büttel der Staatstyraunei würden uns zu unsrer sogenannten Pflicht
zurückführen. Aber da sind Sie sehr auf dem Holzwege: wir haben uns Geld
gespart -- mit schweren Opfern, haben mit Zigaretten, Schokolade und Bier
geknausert, um dafür nach Amerika durchzubrennen; außerdem besitzen die meisten
ein Sparkassenbuch von den Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken unsrer filzigen
Väter -- eine ihrer Abschlagszahlungen, um ihr Gewissen zu salvieren. O wir
wissen Bescheid, wir kennen die Welt und fallen auf nichts mehr herein. Und
darum' -- hier nahm seine Stimme den Dounerton an, der bis jetzt das Re¬
quisit der Lehrer in verzweifelten Fällen war -- ,und darum werden wir unser
Geld abheben und auswandern irgendwohin, wo der Wind der Freiheit weht,
statt der müssiger Schulzimmerluft. Dann können Sie sich mit Ihren Kollegen
und Ihrem Direktor selbst auf die leeren Schulbänke setzen oder die Bude zu¬
machen; und Ihre Fabrik für Muster ohne Wert mag pleite gehen, wie sie's
verdient. Am eignen Leibe sollen Sie es büßen, daß Sie die Jugend geknechtet,


Lehrcrtragödion

duch, das auf seinem Schreibtisch herumlag. Auch hat er mir schon selbst
Andeutungen gemacht. Bedenken Sie, es ist mein einziger Sohn! Denken
Sie an den Jammer, der auf mein graues Haupt herabsänke und an die
Blutschuld, die Ihre blonden Haare rot färbte! Ich verlöre gewiß mein
Mandat als Stadtverordneter und Sie Ihre Stellung. Wie kann solch ein
Rabenvater Stadtvater bleiben und ein solcher Lehrer fortfahren, seine
Zöglinge in den Tod zu treiben! Unser beider Ruf, unser tägliches Brot steht
auf dem Spiele. Erbarmen Sie sich, geben Sie ihn: gute Zensuren, es ist zu
Ihrem eignen Heile!' Und da sank der schwerbekümmerte Mann mir schluchzend
zu Füßen und umschlang meine Knie, wie Priamos, da er von dem grausamen
Achilleus die Leiche seines Lieblings Hektor herausfordert.

„Ich fiel, wie Sie sich denken können, aus den Wolken. Und im nächsten
Moment stürzte ich ins Direktorzimmer. Doch ich hatte noch nicht die Tür
zugemacht, als sie mir aus der Hand gerissen wurde und ein Jüngling mit
wallendem Haar, flatternder Krawatte und kurzen Hosen hinterdrein kam und
mich einfach umrempelte. Es war der hoffnungsvolle Sproß des Stadtverord¬
neten Müller, der mich um Brot und Ehre bringen wollte, aber gottlob noch
an: Leben war. Ehe ich den Mund auftat, kam er nur zuvor.

,Sie Mörder meiner Jugend!' herrschte er mich an. .Sie Vernichter
meiner Individualität, Sie Nagel zu meinem Sarge, Sie Kugel zu meinem
Revolver, Sie Topf voll Rattengift! Ich höre, Sie haben mich für geistig minder¬
wertig erklärt! Wenn Sie aber nur halb soviel Grips besäßen, als Sie mir ab¬
sprechen, so müßten Sie sich über die Tragweite Ihrer Worte klar werden.
Mensch — ich rede menschlich zu Ihnen — Sie rennen ja sehenden Auges in
Ihr Verderben! Nehmen Sie diese Kränkung nicht coram publico zurück, so
ist meine Klasse bei der unter uus herrschenden Interessen-Solidität (er meinte
natürlich Solidarität) zum Generalstreik genötigt. Sie halten das vielleicht
für eine haltlose Drohung und bilden sich ein, unsre Eltern und Bedrücker oder
gar die Büttel der Staatstyraunei würden uns zu unsrer sogenannten Pflicht
zurückführen. Aber da sind Sie sehr auf dem Holzwege: wir haben uns Geld
gespart — mit schweren Opfern, haben mit Zigaretten, Schokolade und Bier
geknausert, um dafür nach Amerika durchzubrennen; außerdem besitzen die meisten
ein Sparkassenbuch von den Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken unsrer filzigen
Väter — eine ihrer Abschlagszahlungen, um ihr Gewissen zu salvieren. O wir
wissen Bescheid, wir kennen die Welt und fallen auf nichts mehr herein. Und
darum' — hier nahm seine Stimme den Dounerton an, der bis jetzt das Re¬
quisit der Lehrer in verzweifelten Fällen war — ,und darum werden wir unser
Geld abheben und auswandern irgendwohin, wo der Wind der Freiheit weht,
statt der müssiger Schulzimmerluft. Dann können Sie sich mit Ihren Kollegen
und Ihrem Direktor selbst auf die leeren Schulbänke setzen oder die Bude zu¬
machen; und Ihre Fabrik für Muster ohne Wert mag pleite gehen, wie sie's
verdient. Am eignen Leibe sollen Sie es büßen, daß Sie die Jugend geknechtet,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0124" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315121"/>
          <fw type="header" place="top"> Lehrcrtragödion</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_372" prev="#ID_371"> duch, das auf seinem Schreibtisch herumlag. Auch hat er mir schon selbst<lb/>
Andeutungen gemacht. Bedenken Sie, es ist mein einziger Sohn! Denken<lb/>
Sie an den Jammer, der auf mein graues Haupt herabsänke und an die<lb/>
Blutschuld, die Ihre blonden Haare rot färbte! Ich verlöre gewiß mein<lb/>
Mandat als Stadtverordneter und Sie Ihre Stellung. Wie kann solch ein<lb/>
Rabenvater Stadtvater bleiben und ein solcher Lehrer fortfahren, seine<lb/>
Zöglinge in den Tod zu treiben! Unser beider Ruf, unser tägliches Brot steht<lb/>
auf dem Spiele. Erbarmen Sie sich, geben Sie ihn: gute Zensuren, es ist zu<lb/>
Ihrem eignen Heile!' Und da sank der schwerbekümmerte Mann mir schluchzend<lb/>
zu Füßen und umschlang meine Knie, wie Priamos, da er von dem grausamen<lb/>
Achilleus die Leiche seines Lieblings Hektor herausfordert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_373"> &#x201E;Ich fiel, wie Sie sich denken können, aus den Wolken. Und im nächsten<lb/>
Moment stürzte ich ins Direktorzimmer. Doch ich hatte noch nicht die Tür<lb/>
zugemacht, als sie mir aus der Hand gerissen wurde und ein Jüngling mit<lb/>
wallendem Haar, flatternder Krawatte und kurzen Hosen hinterdrein kam und<lb/>
mich einfach umrempelte. Es war der hoffnungsvolle Sproß des Stadtverord¬<lb/>
neten Müller, der mich um Brot und Ehre bringen wollte, aber gottlob noch<lb/>
an: Leben war.  Ehe ich den Mund auftat, kam er nur zuvor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_374" next="#ID_375"> ,Sie Mörder meiner Jugend!' herrschte er mich an. .Sie Vernichter<lb/>
meiner Individualität, Sie Nagel zu meinem Sarge, Sie Kugel zu meinem<lb/>
Revolver, Sie Topf voll Rattengift! Ich höre, Sie haben mich für geistig minder¬<lb/>
wertig erklärt! Wenn Sie aber nur halb soviel Grips besäßen, als Sie mir ab¬<lb/>
sprechen, so müßten Sie sich über die Tragweite Ihrer Worte klar werden.<lb/>
Mensch &#x2014; ich rede menschlich zu Ihnen &#x2014; Sie rennen ja sehenden Auges in<lb/>
Ihr Verderben! Nehmen Sie diese Kränkung nicht coram publico zurück, so<lb/>
ist meine Klasse bei der unter uus herrschenden Interessen-Solidität (er meinte<lb/>
natürlich Solidarität) zum Generalstreik genötigt. Sie halten das vielleicht<lb/>
für eine haltlose Drohung und bilden sich ein, unsre Eltern und Bedrücker oder<lb/>
gar die Büttel der Staatstyraunei würden uns zu unsrer sogenannten Pflicht<lb/>
zurückführen. Aber da sind Sie sehr auf dem Holzwege: wir haben uns Geld<lb/>
gespart &#x2014; mit schweren Opfern, haben mit Zigaretten, Schokolade und Bier<lb/>
geknausert, um dafür nach Amerika durchzubrennen; außerdem besitzen die meisten<lb/>
ein Sparkassenbuch von den Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken unsrer filzigen<lb/>
Väter &#x2014; eine ihrer Abschlagszahlungen, um ihr Gewissen zu salvieren. O wir<lb/>
wissen Bescheid, wir kennen die Welt und fallen auf nichts mehr herein. Und<lb/>
darum' &#x2014; hier nahm seine Stimme den Dounerton an, der bis jetzt das Re¬<lb/>
quisit der Lehrer in verzweifelten Fällen war &#x2014; ,und darum werden wir unser<lb/>
Geld abheben und auswandern irgendwohin, wo der Wind der Freiheit weht,<lb/>
statt der müssiger Schulzimmerluft. Dann können Sie sich mit Ihren Kollegen<lb/>
und Ihrem Direktor selbst auf die leeren Schulbänke setzen oder die Bude zu¬<lb/>
machen; und Ihre Fabrik für Muster ohne Wert mag pleite gehen, wie sie's<lb/>
verdient. Am eignen Leibe sollen Sie es büßen, daß Sie die Jugend geknechtet,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0124] Lehrcrtragödion duch, das auf seinem Schreibtisch herumlag. Auch hat er mir schon selbst Andeutungen gemacht. Bedenken Sie, es ist mein einziger Sohn! Denken Sie an den Jammer, der auf mein graues Haupt herabsänke und an die Blutschuld, die Ihre blonden Haare rot färbte! Ich verlöre gewiß mein Mandat als Stadtverordneter und Sie Ihre Stellung. Wie kann solch ein Rabenvater Stadtvater bleiben und ein solcher Lehrer fortfahren, seine Zöglinge in den Tod zu treiben! Unser beider Ruf, unser tägliches Brot steht auf dem Spiele. Erbarmen Sie sich, geben Sie ihn: gute Zensuren, es ist zu Ihrem eignen Heile!' Und da sank der schwerbekümmerte Mann mir schluchzend zu Füßen und umschlang meine Knie, wie Priamos, da er von dem grausamen Achilleus die Leiche seines Lieblings Hektor herausfordert. „Ich fiel, wie Sie sich denken können, aus den Wolken. Und im nächsten Moment stürzte ich ins Direktorzimmer. Doch ich hatte noch nicht die Tür zugemacht, als sie mir aus der Hand gerissen wurde und ein Jüngling mit wallendem Haar, flatternder Krawatte und kurzen Hosen hinterdrein kam und mich einfach umrempelte. Es war der hoffnungsvolle Sproß des Stadtverord¬ neten Müller, der mich um Brot und Ehre bringen wollte, aber gottlob noch an: Leben war. Ehe ich den Mund auftat, kam er nur zuvor. ,Sie Mörder meiner Jugend!' herrschte er mich an. .Sie Vernichter meiner Individualität, Sie Nagel zu meinem Sarge, Sie Kugel zu meinem Revolver, Sie Topf voll Rattengift! Ich höre, Sie haben mich für geistig minder¬ wertig erklärt! Wenn Sie aber nur halb soviel Grips besäßen, als Sie mir ab¬ sprechen, so müßten Sie sich über die Tragweite Ihrer Worte klar werden. Mensch — ich rede menschlich zu Ihnen — Sie rennen ja sehenden Auges in Ihr Verderben! Nehmen Sie diese Kränkung nicht coram publico zurück, so ist meine Klasse bei der unter uus herrschenden Interessen-Solidität (er meinte natürlich Solidarität) zum Generalstreik genötigt. Sie halten das vielleicht für eine haltlose Drohung und bilden sich ein, unsre Eltern und Bedrücker oder gar die Büttel der Staatstyraunei würden uns zu unsrer sogenannten Pflicht zurückführen. Aber da sind Sie sehr auf dem Holzwege: wir haben uns Geld gespart — mit schweren Opfern, haben mit Zigaretten, Schokolade und Bier geknausert, um dafür nach Amerika durchzubrennen; außerdem besitzen die meisten ein Sparkassenbuch von den Weihnachts- und Geburtstagsgeschenken unsrer filzigen Väter — eine ihrer Abschlagszahlungen, um ihr Gewissen zu salvieren. O wir wissen Bescheid, wir kennen die Welt und fallen auf nichts mehr herein. Und darum' — hier nahm seine Stimme den Dounerton an, der bis jetzt das Re¬ quisit der Lehrer in verzweifelten Fällen war — ,und darum werden wir unser Geld abheben und auswandern irgendwohin, wo der Wind der Freiheit weht, statt der müssiger Schulzimmerluft. Dann können Sie sich mit Ihren Kollegen und Ihrem Direktor selbst auf die leeren Schulbänke setzen oder die Bude zu¬ machen; und Ihre Fabrik für Muster ohne Wert mag pleite gehen, wie sie's verdient. Am eignen Leibe sollen Sie es büßen, daß Sie die Jugend geknechtet,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/124
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/124>, abgerufen am 24.07.2024.