Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

dem zweiten Teil des "Faust" siebenundsiebzig Jahre nach seiner
Veröffentlichung noch immer nichts weiß, die gewaltige Dichtung als
ungeschrieben betrachtet und zu ihrer Aufführung auch jetzt noch nicht die
geringsten Anstrengungen macht? In dieser langen Zeit, in der nicht nur
alle andern Hofbühnen den Versuch mit nachhaltigem Gelingen gemacht,
sondern auch die größeren Stadttheater mit ihren beschränkten Mitteln, und
in Berlin sogar mehrfach die Privatbühnen das Wagnis auf sich genommen
haben? Wo in aller Welt steckt der Grund für diese beispiellose Unter¬
lassungssünde und die Weigerung, sie sofort gut zu machen? Es handelt sich
ja um eine nationale Ehrenpflicht, deren Umgehung dem Generalintendanten
und seinem Dramaturgen die Ruhe des Schlafs rauben müßte I

Lindau sollte mit seiner Beweglichkeit, seiner großen Bühnenerfahrung
und seinen geglätteten Lebensformen, die so viele büreaukratische Starrheiten
mit Ol beträufeln, neben dieser Forderung noch manche andere geltend machen
und durchsetzen. Shakespeares "Antonius und Kleopatra" fiel im Mai 1871
mit Berndal und Frau Erhartt so glänzend durch, daß seitdem die leitenden
Stellen diese Tragödie, wie ein gebranntes Kind das Feuer scheuten. Frau
Duse gab daraus ein paar Szenen italienisch und Beerbohm-Tree das ganze
Stück englisch, zwar ungleichmäßig und überladen, aber in der Rauschszene
mit den Trtumvirn auf dem Schiff voll mächtigen Schwunges ins Phantastische.
Niemand dachte an dies unerschöpflich reiche Drama, auch als Matkowsky
und Rosa Poppe auf der Höhe ihres Könnens standen und einen großen
Erfolg so gut wie sicher versprachen. Dem Jbsenzyklus des Lessingtheaters,
der so viel Verdienstliches enthält, fehlen noch immer drei wichtige Glieder,
"Brand". "Peer Gynt" und "Kaiser und Galiläer". vielleicht die mächtigsten
Schöpfungen des großen Norwegers. Das Schauspielhaus hat auf keine dieser
Dichtungen die Probe bestanden, sondern sie dem Schillertheater, den Vorstadt¬
bühnen und Vereinsvorstellungen überlassen. Keine andere Nation verfügt
aus ihrer klassischen und nachklasfischen Literaturzeit über eine solche Fülle
von Dramen, die bei der größten Verschiedenheit ihres Inhalts mit dem
geläuterten modernen Gefühl innig verbunden sind, wie die deutsche. Überall
finden wir darunter von Shakespeare und Lessing bis auf Grillparzer und
Hebbel, Kleist und Ludwig Stücke, über deren hohen poetischen Wert zwar
niemand mehr zu streiten wagt, über die aber das letzte Wort auf der Bühne
noch lange nicht gesprochen ist. Sie verlangen immer wieder eine neue Seele
und eine frische Körperlichkeit, erscheinen aber im Licht einer geistesverwandten
Aufführung so überraschend jung und schön, als ob sie eben geboren waren^
Nur wenn der Rost der Gedankenlosigkeit und der platten Gewohnheit sich
ansetzt, droht die Gefahr, daß wir den Glauben an fie verlieren oder zu
falschen Vorstellungen über ihre Bühnenwirksamkeit gelangen, daß sie "Stücke
mit Säulen" werden, wie der Berliner sie früher ironisch und fröstelnd nannte.
Da tut dann ein Gewaltmensch wie Max Reinhardt Wunder, der immer


dem zweiten Teil des „Faust" siebenundsiebzig Jahre nach seiner
Veröffentlichung noch immer nichts weiß, die gewaltige Dichtung als
ungeschrieben betrachtet und zu ihrer Aufführung auch jetzt noch nicht die
geringsten Anstrengungen macht? In dieser langen Zeit, in der nicht nur
alle andern Hofbühnen den Versuch mit nachhaltigem Gelingen gemacht,
sondern auch die größeren Stadttheater mit ihren beschränkten Mitteln, und
in Berlin sogar mehrfach die Privatbühnen das Wagnis auf sich genommen
haben? Wo in aller Welt steckt der Grund für diese beispiellose Unter¬
lassungssünde und die Weigerung, sie sofort gut zu machen? Es handelt sich
ja um eine nationale Ehrenpflicht, deren Umgehung dem Generalintendanten
und seinem Dramaturgen die Ruhe des Schlafs rauben müßte I

Lindau sollte mit seiner Beweglichkeit, seiner großen Bühnenerfahrung
und seinen geglätteten Lebensformen, die so viele büreaukratische Starrheiten
mit Ol beträufeln, neben dieser Forderung noch manche andere geltend machen
und durchsetzen. Shakespeares „Antonius und Kleopatra" fiel im Mai 1871
mit Berndal und Frau Erhartt so glänzend durch, daß seitdem die leitenden
Stellen diese Tragödie, wie ein gebranntes Kind das Feuer scheuten. Frau
Duse gab daraus ein paar Szenen italienisch und Beerbohm-Tree das ganze
Stück englisch, zwar ungleichmäßig und überladen, aber in der Rauschszene
mit den Trtumvirn auf dem Schiff voll mächtigen Schwunges ins Phantastische.
Niemand dachte an dies unerschöpflich reiche Drama, auch als Matkowsky
und Rosa Poppe auf der Höhe ihres Könnens standen und einen großen
Erfolg so gut wie sicher versprachen. Dem Jbsenzyklus des Lessingtheaters,
der so viel Verdienstliches enthält, fehlen noch immer drei wichtige Glieder,
„Brand". „Peer Gynt" und „Kaiser und Galiläer". vielleicht die mächtigsten
Schöpfungen des großen Norwegers. Das Schauspielhaus hat auf keine dieser
Dichtungen die Probe bestanden, sondern sie dem Schillertheater, den Vorstadt¬
bühnen und Vereinsvorstellungen überlassen. Keine andere Nation verfügt
aus ihrer klassischen und nachklasfischen Literaturzeit über eine solche Fülle
von Dramen, die bei der größten Verschiedenheit ihres Inhalts mit dem
geläuterten modernen Gefühl innig verbunden sind, wie die deutsche. Überall
finden wir darunter von Shakespeare und Lessing bis auf Grillparzer und
Hebbel, Kleist und Ludwig Stücke, über deren hohen poetischen Wert zwar
niemand mehr zu streiten wagt, über die aber das letzte Wort auf der Bühne
noch lange nicht gesprochen ist. Sie verlangen immer wieder eine neue Seele
und eine frische Körperlichkeit, erscheinen aber im Licht einer geistesverwandten
Aufführung so überraschend jung und schön, als ob sie eben geboren waren^
Nur wenn der Rost der Gedankenlosigkeit und der platten Gewohnheit sich
ansetzt, droht die Gefahr, daß wir den Glauben an fie verlieren oder zu
falschen Vorstellungen über ihre Bühnenwirksamkeit gelangen, daß sie „Stücke
mit Säulen" werden, wie der Berliner sie früher ironisch und fröstelnd nannte.
Da tut dann ein Gewaltmensch wie Max Reinhardt Wunder, der immer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0119" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315116"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_351" prev="#ID_350"> dem zweiten Teil des &#x201E;Faust" siebenundsiebzig Jahre nach seiner<lb/>
Veröffentlichung noch immer nichts weiß, die gewaltige Dichtung als<lb/>
ungeschrieben betrachtet und zu ihrer Aufführung auch jetzt noch nicht die<lb/>
geringsten Anstrengungen macht? In dieser langen Zeit, in der nicht nur<lb/>
alle andern Hofbühnen den Versuch mit nachhaltigem Gelingen gemacht,<lb/>
sondern auch die größeren Stadttheater mit ihren beschränkten Mitteln, und<lb/>
in Berlin sogar mehrfach die Privatbühnen das Wagnis auf sich genommen<lb/>
haben? Wo in aller Welt steckt der Grund für diese beispiellose Unter¬<lb/>
lassungssünde und die Weigerung, sie sofort gut zu machen? Es handelt sich<lb/>
ja um eine nationale Ehrenpflicht, deren Umgehung dem Generalintendanten<lb/>
und seinem Dramaturgen die Ruhe des Schlafs rauben müßte I</p><lb/>
          <p xml:id="ID_352" next="#ID_353"> Lindau sollte mit seiner Beweglichkeit, seiner großen Bühnenerfahrung<lb/>
und seinen geglätteten Lebensformen, die so viele büreaukratische Starrheiten<lb/>
mit Ol beträufeln, neben dieser Forderung noch manche andere geltend machen<lb/>
und durchsetzen.  Shakespeares &#x201E;Antonius und Kleopatra" fiel im Mai 1871<lb/>
mit Berndal und Frau Erhartt so glänzend durch, daß seitdem die leitenden<lb/>
Stellen diese Tragödie, wie ein gebranntes Kind das Feuer scheuten. Frau<lb/>
Duse gab daraus ein paar Szenen italienisch und Beerbohm-Tree das ganze<lb/>
Stück englisch, zwar ungleichmäßig und überladen, aber in der Rauschszene<lb/>
mit den Trtumvirn auf dem Schiff voll mächtigen Schwunges ins Phantastische.<lb/>
Niemand dachte an dies unerschöpflich reiche Drama, auch als Matkowsky<lb/>
und Rosa Poppe auf der Höhe ihres Könnens standen und einen großen<lb/>
Erfolg so gut wie sicher versprachen.  Dem Jbsenzyklus des Lessingtheaters,<lb/>
der so viel Verdienstliches enthält, fehlen noch immer drei wichtige Glieder,<lb/>
&#x201E;Brand". &#x201E;Peer Gynt" und &#x201E;Kaiser und Galiläer". vielleicht die mächtigsten<lb/>
Schöpfungen des großen Norwegers. Das Schauspielhaus hat auf keine dieser<lb/>
Dichtungen die Probe bestanden, sondern sie dem Schillertheater, den Vorstadt¬<lb/>
bühnen und Vereinsvorstellungen überlassen.  Keine andere Nation verfügt<lb/>
aus ihrer klassischen und nachklasfischen Literaturzeit über eine solche Fülle<lb/>
von Dramen, die bei der größten Verschiedenheit ihres Inhalts mit dem<lb/>
geläuterten modernen Gefühl innig verbunden sind, wie die deutsche. Überall<lb/>
finden wir darunter von Shakespeare und Lessing bis auf Grillparzer und<lb/>
Hebbel, Kleist und Ludwig Stücke, über deren hohen poetischen Wert zwar<lb/>
niemand mehr zu streiten wagt, über die aber das letzte Wort auf der Bühne<lb/>
noch lange nicht gesprochen ist.  Sie verlangen immer wieder eine neue Seele<lb/>
und eine frische Körperlichkeit, erscheinen aber im Licht einer geistesverwandten<lb/>
Aufführung so überraschend jung und schön, als ob sie eben geboren waren^<lb/>
Nur wenn der Rost der Gedankenlosigkeit und der platten Gewohnheit sich<lb/>
ansetzt, droht die Gefahr, daß wir den Glauben an fie verlieren oder zu<lb/>
falschen Vorstellungen über ihre Bühnenwirksamkeit gelangen, daß sie &#x201E;Stücke<lb/>
mit Säulen" werden, wie der Berliner sie früher ironisch und fröstelnd nannte.<lb/>
Da tut dann ein Gewaltmensch wie Max Reinhardt Wunder, der immer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0119] dem zweiten Teil des „Faust" siebenundsiebzig Jahre nach seiner Veröffentlichung noch immer nichts weiß, die gewaltige Dichtung als ungeschrieben betrachtet und zu ihrer Aufführung auch jetzt noch nicht die geringsten Anstrengungen macht? In dieser langen Zeit, in der nicht nur alle andern Hofbühnen den Versuch mit nachhaltigem Gelingen gemacht, sondern auch die größeren Stadttheater mit ihren beschränkten Mitteln, und in Berlin sogar mehrfach die Privatbühnen das Wagnis auf sich genommen haben? Wo in aller Welt steckt der Grund für diese beispiellose Unter¬ lassungssünde und die Weigerung, sie sofort gut zu machen? Es handelt sich ja um eine nationale Ehrenpflicht, deren Umgehung dem Generalintendanten und seinem Dramaturgen die Ruhe des Schlafs rauben müßte I Lindau sollte mit seiner Beweglichkeit, seiner großen Bühnenerfahrung und seinen geglätteten Lebensformen, die so viele büreaukratische Starrheiten mit Ol beträufeln, neben dieser Forderung noch manche andere geltend machen und durchsetzen. Shakespeares „Antonius und Kleopatra" fiel im Mai 1871 mit Berndal und Frau Erhartt so glänzend durch, daß seitdem die leitenden Stellen diese Tragödie, wie ein gebranntes Kind das Feuer scheuten. Frau Duse gab daraus ein paar Szenen italienisch und Beerbohm-Tree das ganze Stück englisch, zwar ungleichmäßig und überladen, aber in der Rauschszene mit den Trtumvirn auf dem Schiff voll mächtigen Schwunges ins Phantastische. Niemand dachte an dies unerschöpflich reiche Drama, auch als Matkowsky und Rosa Poppe auf der Höhe ihres Könnens standen und einen großen Erfolg so gut wie sicher versprachen. Dem Jbsenzyklus des Lessingtheaters, der so viel Verdienstliches enthält, fehlen noch immer drei wichtige Glieder, „Brand". „Peer Gynt" und „Kaiser und Galiläer". vielleicht die mächtigsten Schöpfungen des großen Norwegers. Das Schauspielhaus hat auf keine dieser Dichtungen die Probe bestanden, sondern sie dem Schillertheater, den Vorstadt¬ bühnen und Vereinsvorstellungen überlassen. Keine andere Nation verfügt aus ihrer klassischen und nachklasfischen Literaturzeit über eine solche Fülle von Dramen, die bei der größten Verschiedenheit ihres Inhalts mit dem geläuterten modernen Gefühl innig verbunden sind, wie die deutsche. Überall finden wir darunter von Shakespeare und Lessing bis auf Grillparzer und Hebbel, Kleist und Ludwig Stücke, über deren hohen poetischen Wert zwar niemand mehr zu streiten wagt, über die aber das letzte Wort auf der Bühne noch lange nicht gesprochen ist. Sie verlangen immer wieder eine neue Seele und eine frische Körperlichkeit, erscheinen aber im Licht einer geistesverwandten Aufführung so überraschend jung und schön, als ob sie eben geboren waren^ Nur wenn der Rost der Gedankenlosigkeit und der platten Gewohnheit sich ansetzt, droht die Gefahr, daß wir den Glauben an fie verlieren oder zu falschen Vorstellungen über ihre Bühnenwirksamkeit gelangen, daß sie „Stücke mit Säulen" werden, wie der Berliner sie früher ironisch und fröstelnd nannte. Da tut dann ein Gewaltmensch wie Max Reinhardt Wunder, der immer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/119
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/119>, abgerufen am 24.07.2024.