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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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von Sudermann, Hauptmann und Shakespeare

und seinem Blute nach mindestens halbdeutsche Ibsen besaß diesen weiten
Horizont, der bei allen praktischen Fähigkeiten das gesamte Leben, die
verschiedensten geistigen Strömungen kritisch-verständnisvoll überblickte. Er wäre
immer noch ein ungemeiner Kritiker und Essayist gewesen, stände er nicht
zufällig als einer der größten dramatischen Beweger und Anreger der Jahr¬
hunderte da.

Wer wollte wagen, gleiches von Hauptmann, geschweige denn von Suder¬
mann zu sagen? Selbst wenn sie wollten, so könnten sie keine guten Literarhistoriker,
Feuilletonisten oder Leitartikler sein -- Schrifstellerarten, auf die sie wahrscheinlich
in Größe herabsehen. Sudermann hat es durch seine rein journalistisch unendlich
schwerfälligen und danebenhauenden Verrohungsartikel bewiesen; Hauptmann --
man lächelt, liest man Hauptmannsche Prosa. Man lächelt, begegnet man einer
tiefsinnigen Banalität, wie der Widmung zum "Hannele" oder den wirren, ge¬
dunsenen Eingangsworten zur Gesamtausgabe der Werke oder den gelegentlichen,
allerdings sparsamen Artikeln in Blättern.

Der Eindruck ist heute nicht mehr wegzuleugnen: Bei all dein ungeheuren
Können, das gestalterisch in so vielen Werken der jungrealistischen Gruppe von
ehemals und vor allem in der ersten Hälfte von Hauptmanns Schaffen steckt --
die große Weite, die noch das Lebenswerk eines Grillparzer und Hebbel umgibt,
scheint ein für allemal versagt bleiben zu sollen. Jedenfalls hat man weithin
die Hoffnung aufgegeben. . . Darum liegt in dein Abfallen der letzten "Werke"
der Körner von einstmals etwas so Katzenjämmerliches ... Es liegt auch etwas
Parvenuhaftes darin. Alle die Bedeutsamen unsrer Literatur schufen in dem in
Betracht kommenden Alter, in den vierziger und fünfziger Jahren ihres Lebens,
immer reifere, immer höhere Werke . . . Auch die oder der Körner unserer Tage
haben starke Leistungen hinter sich. Aber weil das, was sie konnten, sie plötzlich
nicht mehr erhaben genug dünkte, wandten sie sich Gebieten zu, die ihnen ein
für allemal verschlossen zu sein scheinen. Statt auf dem Boden zu bleiben, der
sie werden ließ, und von ihm aus höher zu greifen, verließen sie in einem dauernden
Mangel an Selbstkritik, der auch nur aus einer gewissen geistigen Enge zu
erklären ist, den gediegenen Reichtum, der schon ihrer war, und blähten sich
in der Armut erborgten Flitters.

Die betrübte Gegenwart flüchtet zum "lustigen alten England". Unter allen
theatralischen Ereignissen der letzten Monde zu Berlin und vielleicht in Deutsch¬
land ist keines größer als die Wiedererweckung von Shakespeares Wider¬
spenstiger im Deutschen Theater. Wer hat dieses Stück gesehen und sich nicht
ganze Stunden hindurch bodenlos gelangweilt? Vor allem: Wer hat es gesehen,
ohne sich nicht häufig abgestoßen zu fühlen von der tierbändigerhaften Roheit, mit
der die Bekehrung des wilden Liebchens meistens in Szene gesetzt wurde? Denn
wäg man auch gemildert haben, im ganzen blieb immer der ernsthafte Untersinn
bestehen, daß es sich hier tatsächlich um eine Bändigung handelte, daß ein Mann
versuchte, durch wahre Pferdekuren eine Frau nach seinem Willen zu "erziehen".
Darin lag das Abstoßende der meisten Aufführungen: Man sah nur die wider¬
wärtigen Zwangsmaßregeln gegen ein Weib, man sah nur billige Gewalt, um


von Sudermann, Hauptmann und Shakespeare

und seinem Blute nach mindestens halbdeutsche Ibsen besaß diesen weiten
Horizont, der bei allen praktischen Fähigkeiten das gesamte Leben, die
verschiedensten geistigen Strömungen kritisch-verständnisvoll überblickte. Er wäre
immer noch ein ungemeiner Kritiker und Essayist gewesen, stände er nicht
zufällig als einer der größten dramatischen Beweger und Anreger der Jahr¬
hunderte da.

Wer wollte wagen, gleiches von Hauptmann, geschweige denn von Suder¬
mann zu sagen? Selbst wenn sie wollten, so könnten sie keine guten Literarhistoriker,
Feuilletonisten oder Leitartikler sein — Schrifstellerarten, auf die sie wahrscheinlich
in Größe herabsehen. Sudermann hat es durch seine rein journalistisch unendlich
schwerfälligen und danebenhauenden Verrohungsartikel bewiesen; Hauptmann —
man lächelt, liest man Hauptmannsche Prosa. Man lächelt, begegnet man einer
tiefsinnigen Banalität, wie der Widmung zum „Hannele" oder den wirren, ge¬
dunsenen Eingangsworten zur Gesamtausgabe der Werke oder den gelegentlichen,
allerdings sparsamen Artikeln in Blättern.

Der Eindruck ist heute nicht mehr wegzuleugnen: Bei all dein ungeheuren
Können, das gestalterisch in so vielen Werken der jungrealistischen Gruppe von
ehemals und vor allem in der ersten Hälfte von Hauptmanns Schaffen steckt —
die große Weite, die noch das Lebenswerk eines Grillparzer und Hebbel umgibt,
scheint ein für allemal versagt bleiben zu sollen. Jedenfalls hat man weithin
die Hoffnung aufgegeben. . . Darum liegt in dein Abfallen der letzten „Werke"
der Körner von einstmals etwas so Katzenjämmerliches ... Es liegt auch etwas
Parvenuhaftes darin. Alle die Bedeutsamen unsrer Literatur schufen in dem in
Betracht kommenden Alter, in den vierziger und fünfziger Jahren ihres Lebens,
immer reifere, immer höhere Werke . . . Auch die oder der Körner unserer Tage
haben starke Leistungen hinter sich. Aber weil das, was sie konnten, sie plötzlich
nicht mehr erhaben genug dünkte, wandten sie sich Gebieten zu, die ihnen ein
für allemal verschlossen zu sein scheinen. Statt auf dem Boden zu bleiben, der
sie werden ließ, und von ihm aus höher zu greifen, verließen sie in einem dauernden
Mangel an Selbstkritik, der auch nur aus einer gewissen geistigen Enge zu
erklären ist, den gediegenen Reichtum, der schon ihrer war, und blähten sich
in der Armut erborgten Flitters.

Die betrübte Gegenwart flüchtet zum „lustigen alten England". Unter allen
theatralischen Ereignissen der letzten Monde zu Berlin und vielleicht in Deutsch¬
land ist keines größer als die Wiedererweckung von Shakespeares Wider¬
spenstiger im Deutschen Theater. Wer hat dieses Stück gesehen und sich nicht
ganze Stunden hindurch bodenlos gelangweilt? Vor allem: Wer hat es gesehen,
ohne sich nicht häufig abgestoßen zu fühlen von der tierbändigerhaften Roheit, mit
der die Bekehrung des wilden Liebchens meistens in Szene gesetzt wurde? Denn
wäg man auch gemildert haben, im ganzen blieb immer der ernsthafte Untersinn
bestehen, daß es sich hier tatsächlich um eine Bändigung handelte, daß ein Mann
versuchte, durch wahre Pferdekuren eine Frau nach seinem Willen zu „erziehen".
Darin lag das Abstoßende der meisten Aufführungen: Man sah nur die wider¬
wärtigen Zwangsmaßregeln gegen ein Weib, man sah nur billige Gewalt, um


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/105>, abgerufen am 22.12.2024.