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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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von der Vstmarkenfahrt süddeutscher Parlamentarier und Journalisten

der Legende des heiligen Adalbert, ein Werk des zwölften Jahrhunderts, ferner
ein kostbares Evangeliarium, ebenfalls aus dem zwölften Jahrhundert (das als
voäex MAsnteus oder auch als Meßbuch des heiligen Adalbert bezeichnet wird),
und endlich den uralten, ganz schlichten steinernen Taufstein, der vor der Barock¬
pracht des Innern in die Vorhalle geflüchtet ist, um wenigstens noch als Weih¬
wasserbecken weiter zu dienen. Die güldnen und silbernen Gefäße haben die
schwedischen Kriegsknechte an sich genommen.

Unter dem Dutzend Ansiedlungsdörfer, die wir am vierten Reisetage zu
sehen bekamen, waren solche von allen Altersklassen. Nach dem noch im ersten
Reiz der Jugend strahlenden Schönherrnhausen war es besonders lehrreich, in
Libau und Bismarcksfelde zwei der ältesten Siedlungen kennen zu lernen.
Libau, 8 Kilometer von Gnesen entfernt, ist schon recht mit seinem Grund und
Boden zusammengewachsen; hohe Bäume, die Firste weit überragend, zeigen,
was in dreiundzwanzig Jahren wachsen kann, während die erste Generation
der Ansiedler die Höhe des Lebens bereits sichtlich überschritten hat. Neben
Gestalten, die schon etwas vornüberhängen, traf ich eine noch recht rüstige
Großmutter, die schon drei im Lande geborne Töchter an Ansiedler verheiratet
hat und von Zeit zu Zeit in wichtigen Angelegenheiten auf vier bis sechs
Wochen ihren eignen Hof im Stich lassen muß. In Libau besuchte ich wieder
zwei Württemberger. Der eine von ihnen, der mit 2400 Mark vom Fuße des
Lichtenstein eingewandert ist, hat jetzt 36 preußische Morgen (-^ 9 Hektar),
7 Kühe und Jungvieh, 2 Pferde und ein ganz hübsches Haus nebst Stall und
Scheune? der andre, der 8000 Mark beibringen konnte, verfügt jetzt über
127 Morgen (-- 32 Hektar). Als wir ganz unerwartet etwa fünfzehn Mann
hoch dem ersten in die Wohnstube einfielen, brachten wir seine Frau in schreck¬
liche Verlegenheit, weil ihre Gardinen eben in der Wäsche waren; die gute
Frau entschuldigte sich ob dieses Verbrechens bei jedem einzelnen, genau wie
sie es in der alten Heimat gemacht hätte, während der Mann plötzlich verschwand,
um alsbald aus seinem Keller wieder aufzutauchen, in der einen Hand einen
Krug "Most" (Apfelwein), in der andern einen Krug "Träubleswein" (Johannis-
beerwein), die er der wildfremden Gesellschaft aufwartete. Um das schwäbische
Idyll vollständig zu machen, begrüßte die Hausfrau den Präsidenten der An-
siedlungskommission, den sie nicht erkannte, zutraulich-freundlich mit den
Worten: "Sie kenne ich, Sie müssen schon einmal dagewesen sein", während
ich alsbald feststellte, daß unser liebenswürdiger Wirt ein richtiger Vetter eines
Stammtischgenossen von mir war.




von der Vstmarkenfahrt süddeutscher Parlamentarier und Journalisten

der Legende des heiligen Adalbert, ein Werk des zwölften Jahrhunderts, ferner
ein kostbares Evangeliarium, ebenfalls aus dem zwölften Jahrhundert (das als
voäex MAsnteus oder auch als Meßbuch des heiligen Adalbert bezeichnet wird),
und endlich den uralten, ganz schlichten steinernen Taufstein, der vor der Barock¬
pracht des Innern in die Vorhalle geflüchtet ist, um wenigstens noch als Weih¬
wasserbecken weiter zu dienen. Die güldnen und silbernen Gefäße haben die
schwedischen Kriegsknechte an sich genommen.

Unter dem Dutzend Ansiedlungsdörfer, die wir am vierten Reisetage zu
sehen bekamen, waren solche von allen Altersklassen. Nach dem noch im ersten
Reiz der Jugend strahlenden Schönherrnhausen war es besonders lehrreich, in
Libau und Bismarcksfelde zwei der ältesten Siedlungen kennen zu lernen.
Libau, 8 Kilometer von Gnesen entfernt, ist schon recht mit seinem Grund und
Boden zusammengewachsen; hohe Bäume, die Firste weit überragend, zeigen,
was in dreiundzwanzig Jahren wachsen kann, während die erste Generation
der Ansiedler die Höhe des Lebens bereits sichtlich überschritten hat. Neben
Gestalten, die schon etwas vornüberhängen, traf ich eine noch recht rüstige
Großmutter, die schon drei im Lande geborne Töchter an Ansiedler verheiratet
hat und von Zeit zu Zeit in wichtigen Angelegenheiten auf vier bis sechs
Wochen ihren eignen Hof im Stich lassen muß. In Libau besuchte ich wieder
zwei Württemberger. Der eine von ihnen, der mit 2400 Mark vom Fuße des
Lichtenstein eingewandert ist, hat jetzt 36 preußische Morgen (-^ 9 Hektar),
7 Kühe und Jungvieh, 2 Pferde und ein ganz hübsches Haus nebst Stall und
Scheune? der andre, der 8000 Mark beibringen konnte, verfügt jetzt über
127 Morgen (— 32 Hektar). Als wir ganz unerwartet etwa fünfzehn Mann
hoch dem ersten in die Wohnstube einfielen, brachten wir seine Frau in schreck¬
liche Verlegenheit, weil ihre Gardinen eben in der Wäsche waren; die gute
Frau entschuldigte sich ob dieses Verbrechens bei jedem einzelnen, genau wie
sie es in der alten Heimat gemacht hätte, während der Mann plötzlich verschwand,
um alsbald aus seinem Keller wieder aufzutauchen, in der einen Hand einen
Krug „Most" (Apfelwein), in der andern einen Krug „Träubleswein" (Johannis-
beerwein), die er der wildfremden Gesellschaft aufwartete. Um das schwäbische
Idyll vollständig zu machen, begrüßte die Hausfrau den Präsidenten der An-
siedlungskommission, den sie nicht erkannte, zutraulich-freundlich mit den
Worten: „Sie kenne ich, Sie müssen schon einmal dagewesen sein", während
ich alsbald feststellte, daß unser liebenswürdiger Wirt ein richtiger Vetter eines
Stammtischgenossen von mir war.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/78>, abgerufen am 24.07.2024.