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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Nie Philosophie des Pragmatismus

Erkenntnistheorie gut gestützt. Die moderne Erkenntnistheorie hat uns gelehrt,
daß all die Vorstellungen, die wir uns von den Kräften und Gesetzmäßig¬
keiten der Natur machen, und alle die Begriffe, die wir diesen zugrunde
legen, gar nicht absolute Wahrheiten und Wesenheiten sind, sondern Hilfs¬
vorstellungen, sozusagen praktische Arbeitswerkzeuge, mit deren Hilfe wir die
Zusammenhänge der Natur ordnen und meistern, und deren "Richtigkeit" und
"Wahrheit" eben daran gemessen wird, ob und wieweit sie uns diesen prak¬
tischen Dienst der Ordnung und Beherrschung der Naturvorgänge leisten. Ob
dieser Begriff der "Wahrheit" der ursprüngliche und eigentliche oder ein über¬
tragner und abgeleiteter ist, soll hier nicht weiter untersucht werden; genug,
daß er vorhanden ist und jedenfalls in weiten Bereichen des menschlichen
Denkens und Forschens, die ihrer Natur nach der Anwendbarkeit eines engern
Wahrheitsbegriffes entzogen sind, die vortrefflichsten Dienste leistet. Schon
Goethe, dessen Bedeutung als "Philosoph" im engern Sinne des Wortes erst
jetzt allmählich richtig gewürdigt wird, hat diesen Wahrheitsbegriff gekannt
und die klassische Formel für ihn geprägt: "Was fruchtbar ist, allein ist
wahr"; und daß sie diesen Gedanken konsequent in die Philosophie einführt,
ihre Begriffe und Lehrsätze in der angedeuteten Weise aus der Praxis ableitet
und deren Wert an ihrer praktischen Leistung mißt, ist der eigentümliche und
unterscheidende Zug der Philosophie des "Pragmatismus".

Wenn hier gesagt wird, daß der Pragmatismus diesen Gedanken in die
Philosophie eingeführt hat, so muß gleich eine Bemerkung hinzugefügt werde".
Der Pragmatismus ist, wie schon gesagt, eine Frucht der modernen Erkenntnis¬
theorie; er kann kaum selbst mit diesem Namen bezeichnet werden, hat sich
aber selbstverständlich alle Ergebnisse der modernen Erkenntnistheorie zu eigen
gemacht. Damit ist von vornherein gesagt, daß der Pragmatismus unter den
Philosophischen Denkweisen, die heute noch sich die Herrschaft über die feinern
und gröbern Geister streitig machen, jener Gattung zugehört, die man zur
besonders scharfen Hervorhebung des Gegensatzes, in dem sie zu einer andern,
leider noch sehr viel verbreiteten philosophischen Denkweise steht, als die
"idealistische" Richtung in der Philosophie bezeichnen kann. Er muß der
idealistischen Philosophie zugehören aus dem einfachen Grunde, weil deren
Gegensatz, die "materialistische" Weltbetrachtung, von der modernen Er¬
kenntnistheorie vollständig und in allen Punkten geschlagen worden ist. Das
ist leider durchaus nicht allen Leuten bekannt, und es sind eine Menge von
weitverbreiteten und in der Öffentlichkeit viel erörterten philosophischen Auf¬
fassungen nur dadurch verständlich, daß ihre Anhänger diese Ergebnisse der
modernen Erkenntnistheorie entweder nicht kennen, oder daß ihr Erkenntnis¬
vermögen nicht fein genug organisiert ist, dieselben in ihrer Bedeutung zu
erfassen. Die alte materialistische Auffassung, die den Menschen nur als
Objekt der körperlichen Natur und Spielball ihrer Gesetze gelten lassen will,
die alle Äußerungen, Tätigkeiten und Besitztümer des menschlichen Geistes


Nie Philosophie des Pragmatismus

Erkenntnistheorie gut gestützt. Die moderne Erkenntnistheorie hat uns gelehrt,
daß all die Vorstellungen, die wir uns von den Kräften und Gesetzmäßig¬
keiten der Natur machen, und alle die Begriffe, die wir diesen zugrunde
legen, gar nicht absolute Wahrheiten und Wesenheiten sind, sondern Hilfs¬
vorstellungen, sozusagen praktische Arbeitswerkzeuge, mit deren Hilfe wir die
Zusammenhänge der Natur ordnen und meistern, und deren „Richtigkeit" und
„Wahrheit" eben daran gemessen wird, ob und wieweit sie uns diesen prak¬
tischen Dienst der Ordnung und Beherrschung der Naturvorgänge leisten. Ob
dieser Begriff der „Wahrheit" der ursprüngliche und eigentliche oder ein über¬
tragner und abgeleiteter ist, soll hier nicht weiter untersucht werden; genug,
daß er vorhanden ist und jedenfalls in weiten Bereichen des menschlichen
Denkens und Forschens, die ihrer Natur nach der Anwendbarkeit eines engern
Wahrheitsbegriffes entzogen sind, die vortrefflichsten Dienste leistet. Schon
Goethe, dessen Bedeutung als „Philosoph" im engern Sinne des Wortes erst
jetzt allmählich richtig gewürdigt wird, hat diesen Wahrheitsbegriff gekannt
und die klassische Formel für ihn geprägt: „Was fruchtbar ist, allein ist
wahr"; und daß sie diesen Gedanken konsequent in die Philosophie einführt,
ihre Begriffe und Lehrsätze in der angedeuteten Weise aus der Praxis ableitet
und deren Wert an ihrer praktischen Leistung mißt, ist der eigentümliche und
unterscheidende Zug der Philosophie des „Pragmatismus".

Wenn hier gesagt wird, daß der Pragmatismus diesen Gedanken in die
Philosophie eingeführt hat, so muß gleich eine Bemerkung hinzugefügt werde».
Der Pragmatismus ist, wie schon gesagt, eine Frucht der modernen Erkenntnis¬
theorie; er kann kaum selbst mit diesem Namen bezeichnet werden, hat sich
aber selbstverständlich alle Ergebnisse der modernen Erkenntnistheorie zu eigen
gemacht. Damit ist von vornherein gesagt, daß der Pragmatismus unter den
Philosophischen Denkweisen, die heute noch sich die Herrschaft über die feinern
und gröbern Geister streitig machen, jener Gattung zugehört, die man zur
besonders scharfen Hervorhebung des Gegensatzes, in dem sie zu einer andern,
leider noch sehr viel verbreiteten philosophischen Denkweise steht, als die
»idealistische" Richtung in der Philosophie bezeichnen kann. Er muß der
idealistischen Philosophie zugehören aus dem einfachen Grunde, weil deren
Gegensatz, die „materialistische" Weltbetrachtung, von der modernen Er¬
kenntnistheorie vollständig und in allen Punkten geschlagen worden ist. Das
ist leider durchaus nicht allen Leuten bekannt, und es sind eine Menge von
weitverbreiteten und in der Öffentlichkeit viel erörterten philosophischen Auf¬
fassungen nur dadurch verständlich, daß ihre Anhänger diese Ergebnisse der
modernen Erkenntnistheorie entweder nicht kennen, oder daß ihr Erkenntnis¬
vermögen nicht fein genug organisiert ist, dieselben in ihrer Bedeutung zu
erfassen. Die alte materialistische Auffassung, die den Menschen nur als
Objekt der körperlichen Natur und Spielball ihrer Gesetze gelten lassen will,
die alle Äußerungen, Tätigkeiten und Besitztümer des menschlichen Geistes


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[0595] Nie Philosophie des Pragmatismus Erkenntnistheorie gut gestützt. Die moderne Erkenntnistheorie hat uns gelehrt, daß all die Vorstellungen, die wir uns von den Kräften und Gesetzmäßig¬ keiten der Natur machen, und alle die Begriffe, die wir diesen zugrunde legen, gar nicht absolute Wahrheiten und Wesenheiten sind, sondern Hilfs¬ vorstellungen, sozusagen praktische Arbeitswerkzeuge, mit deren Hilfe wir die Zusammenhänge der Natur ordnen und meistern, und deren „Richtigkeit" und „Wahrheit" eben daran gemessen wird, ob und wieweit sie uns diesen prak¬ tischen Dienst der Ordnung und Beherrschung der Naturvorgänge leisten. Ob dieser Begriff der „Wahrheit" der ursprüngliche und eigentliche oder ein über¬ tragner und abgeleiteter ist, soll hier nicht weiter untersucht werden; genug, daß er vorhanden ist und jedenfalls in weiten Bereichen des menschlichen Denkens und Forschens, die ihrer Natur nach der Anwendbarkeit eines engern Wahrheitsbegriffes entzogen sind, die vortrefflichsten Dienste leistet. Schon Goethe, dessen Bedeutung als „Philosoph" im engern Sinne des Wortes erst jetzt allmählich richtig gewürdigt wird, hat diesen Wahrheitsbegriff gekannt und die klassische Formel für ihn geprägt: „Was fruchtbar ist, allein ist wahr"; und daß sie diesen Gedanken konsequent in die Philosophie einführt, ihre Begriffe und Lehrsätze in der angedeuteten Weise aus der Praxis ableitet und deren Wert an ihrer praktischen Leistung mißt, ist der eigentümliche und unterscheidende Zug der Philosophie des „Pragmatismus". Wenn hier gesagt wird, daß der Pragmatismus diesen Gedanken in die Philosophie eingeführt hat, so muß gleich eine Bemerkung hinzugefügt werde». Der Pragmatismus ist, wie schon gesagt, eine Frucht der modernen Erkenntnis¬ theorie; er kann kaum selbst mit diesem Namen bezeichnet werden, hat sich aber selbstverständlich alle Ergebnisse der modernen Erkenntnistheorie zu eigen gemacht. Damit ist von vornherein gesagt, daß der Pragmatismus unter den Philosophischen Denkweisen, die heute noch sich die Herrschaft über die feinern und gröbern Geister streitig machen, jener Gattung zugehört, die man zur besonders scharfen Hervorhebung des Gegensatzes, in dem sie zu einer andern, leider noch sehr viel verbreiteten philosophischen Denkweise steht, als die »idealistische" Richtung in der Philosophie bezeichnen kann. Er muß der idealistischen Philosophie zugehören aus dem einfachen Grunde, weil deren Gegensatz, die „materialistische" Weltbetrachtung, von der modernen Er¬ kenntnistheorie vollständig und in allen Punkten geschlagen worden ist. Das ist leider durchaus nicht allen Leuten bekannt, und es sind eine Menge von weitverbreiteten und in der Öffentlichkeit viel erörterten philosophischen Auf¬ fassungen nur dadurch verständlich, daß ihre Anhänger diese Ergebnisse der modernen Erkenntnistheorie entweder nicht kennen, oder daß ihr Erkenntnis¬ vermögen nicht fein genug organisiert ist, dieselben in ihrer Bedeutung zu erfassen. Die alte materialistische Auffassung, die den Menschen nur als Objekt der körperlichen Natur und Spielball ihrer Gesetze gelten lassen will, die alle Äußerungen, Tätigkeiten und Besitztümer des menschlichen Geistes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/595>, abgerufen am 24.07.2024.