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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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In Molmerschwende und Schielo

nacht", in seinen Briefen an Charlotte von Stein und in den Walpurgisnachtszenen
des "Faust" die wahre Natur des Harzes ausschließt, dank seinem ruhigen, reinen,
ernsten, liebevollen Blicke in das Herz der Dinge.

Solcherlei Gedanken hing ich nach in jener Ruhestunde an den Trümmern
der Lauenburg. Und wieder senkte sich der Blick auf die Landkarte, die fernern
Wege meiner Wanderung zu erkunden. Da gewahrte ich nahe dem östlichen Rande
des Papiers einen kleinen rötlich-schwarzen Fleck, genau auf der Stelle, wo das
Örtchen Molmerschwende eingezeichnet ist; ich blickte näher hin und erkannte, daß
es eine ooooinslla ssxtsinxuuotÄtÄ war, ein Marienkäferchen, für das man im
Braunschweigischen die allerliebste Bezeichnung hat: "dem Herrgott sein Lütjes".
Jetzt regte es seine sechs Beinchen und marschierte munter, immer hübsch auf der
eingezeichneten Landstraße nach Westen, von Molmerschwende nach dem Dorfe
Schielo, allwo es abermals Halt machte und sitzen blieb. El der Tausend! sagte
ich zu mir, gerade Molmerschwende ist ja auch mein nächstes Reiseziel, und dann
weiter über Schielo, Neudorf und die Josephshöhe nach Stolberg! Du liebes
Tierchen sollst mir ein gutes Vorzeichen sein, und fürwahr, neugierig bin ich, was
ich wohl in der Heimat Bürgers Merkwürdiges erleben soll. Behutsam strich ich
mit dem Finger das Käferlein von dem Papier herunter, faltete die Karte zusammen
und machte mich auf den Weg zum Selletal.

In der überaus lieblich und friedevoll gelegnen Selkemühle -- sie war dazumal
leider überfüllt von Sommerfrischlern, die an einem schreckhaften Singparoxysmus
litten -- hatte ich mit mäßigem Genuß und für teures Geld die Nacht verbracht,
auf einem Kanapee ruhend, gegen das Leberecht Hühnchens Berg-und-Talsofa ein
schwellender Diwan gewesen sein muß. Obendrein hatte sich besagtes Kanapee als
eine sehr belebte Gegend erwiesen. Aber wie schnell schwindet die Erinnerung an
solche iQisssvsnäs dem rüstigen Wandrer, wenn er, dem Orte des Unheils den Rücken
kehrend, hinauszieht in die Pracht eines taufrischen Sommermorgens! Geschieht
dir schon recht, dachte ich im stillen, warum kehrst du ein in einer Mühle, die
nicht bloß "Selkemühle" heißt, sondern auch den ominösen Namen "Leimufermühle"
trägt. Und überdies: wie mancher Brave in der Welt mag diese Nacht noch ganz
anders zugebracht haben. Frohgemut schritt ich fürbaß und besuchte zunächst die
alte schöne Burg Falkenstein, auf der vor siebenhundert Jahren der ehrenfeste Ritter
Eile von Nepgom den "Sachsenspiegel" schrieb, das älteste deutsche Rechtsbuch in
niedersächsischer Mundart. Dann wandte ich mich südwärts und gelangte über das
Dorf Pansfelde, den Schauplatz von Bürgers Ballade "Des Pfarrers Tochter von
Tanbenhain", nach dem Geburtsort des Dichters. Das Dörfchen Molmerschwende
(die Form Molmerswende ist, obgleich amtlich eingeführt, unrichtig) liegt auf einer
waldlosen Hochfläche zwischen Getreidefeldern und Kartoffeläckern; es macht, zumal
auf den, der kurz vorher die hohe Anmut des Selketales genossen hat, einen recht
prosaischen, musenverlassenen Eindruck. Wie es aber geschehen mag, daß uus am
trübseligster Regentage der beste Gedanke kommt, so begegnet uns auch wohl einmal
am langweiligsten Ort unvermutet das kurzweiligste interessanteste Abenteuer.

Bürgers Lieder und Balladen hatten mich zwar durch ihren empfindlichen
Mangel an Geschmack und durch ihre gewollten Derbheiten von jeher heftig ab¬
gestoßen? ebenso stark aber war ihre Anziehungskraft, der hinreißende Zauber ihrer
Natürlichkeit, die urwüchsige Wucht und Redegewalt. So hatte vor ihm noch keiner
im Liede unsre Muttersprache gemeistert. Und also war es für mich bei einem ersten
Besuche des Harzes eine Selbstverständlichkeit, im Vorübergehn auch den Horst zu
begrüßen, aus dem dieser Adler aufgestiegen ("Adler" war der Spitzname Bürgers
unter seinen Freunden wegen der scharfen Blicke, die er um sich zu werfen pflegte).

Neben der ärmlichen Dorfkirche steht das Pfarrhaus -- das ist das bescheidne,
dürftige Nest, worin der Adler das Licht der Sonne erblickt und seine Kindheit


In Molmerschwende und Schielo

nacht", in seinen Briefen an Charlotte von Stein und in den Walpurgisnachtszenen
des „Faust" die wahre Natur des Harzes ausschließt, dank seinem ruhigen, reinen,
ernsten, liebevollen Blicke in das Herz der Dinge.

Solcherlei Gedanken hing ich nach in jener Ruhestunde an den Trümmern
der Lauenburg. Und wieder senkte sich der Blick auf die Landkarte, die fernern
Wege meiner Wanderung zu erkunden. Da gewahrte ich nahe dem östlichen Rande
des Papiers einen kleinen rötlich-schwarzen Fleck, genau auf der Stelle, wo das
Örtchen Molmerschwende eingezeichnet ist; ich blickte näher hin und erkannte, daß
es eine ooooinslla ssxtsinxuuotÄtÄ war, ein Marienkäferchen, für das man im
Braunschweigischen die allerliebste Bezeichnung hat: „dem Herrgott sein Lütjes".
Jetzt regte es seine sechs Beinchen und marschierte munter, immer hübsch auf der
eingezeichneten Landstraße nach Westen, von Molmerschwende nach dem Dorfe
Schielo, allwo es abermals Halt machte und sitzen blieb. El der Tausend! sagte
ich zu mir, gerade Molmerschwende ist ja auch mein nächstes Reiseziel, und dann
weiter über Schielo, Neudorf und die Josephshöhe nach Stolberg! Du liebes
Tierchen sollst mir ein gutes Vorzeichen sein, und fürwahr, neugierig bin ich, was
ich wohl in der Heimat Bürgers Merkwürdiges erleben soll. Behutsam strich ich
mit dem Finger das Käferlein von dem Papier herunter, faltete die Karte zusammen
und machte mich auf den Weg zum Selletal.

In der überaus lieblich und friedevoll gelegnen Selkemühle — sie war dazumal
leider überfüllt von Sommerfrischlern, die an einem schreckhaften Singparoxysmus
litten — hatte ich mit mäßigem Genuß und für teures Geld die Nacht verbracht,
auf einem Kanapee ruhend, gegen das Leberecht Hühnchens Berg-und-Talsofa ein
schwellender Diwan gewesen sein muß. Obendrein hatte sich besagtes Kanapee als
eine sehr belebte Gegend erwiesen. Aber wie schnell schwindet die Erinnerung an
solche iQisssvsnäs dem rüstigen Wandrer, wenn er, dem Orte des Unheils den Rücken
kehrend, hinauszieht in die Pracht eines taufrischen Sommermorgens! Geschieht
dir schon recht, dachte ich im stillen, warum kehrst du ein in einer Mühle, die
nicht bloß „Selkemühle" heißt, sondern auch den ominösen Namen „Leimufermühle"
trägt. Und überdies: wie mancher Brave in der Welt mag diese Nacht noch ganz
anders zugebracht haben. Frohgemut schritt ich fürbaß und besuchte zunächst die
alte schöne Burg Falkenstein, auf der vor siebenhundert Jahren der ehrenfeste Ritter
Eile von Nepgom den „Sachsenspiegel" schrieb, das älteste deutsche Rechtsbuch in
niedersächsischer Mundart. Dann wandte ich mich südwärts und gelangte über das
Dorf Pansfelde, den Schauplatz von Bürgers Ballade „Des Pfarrers Tochter von
Tanbenhain", nach dem Geburtsort des Dichters. Das Dörfchen Molmerschwende
(die Form Molmerswende ist, obgleich amtlich eingeführt, unrichtig) liegt auf einer
waldlosen Hochfläche zwischen Getreidefeldern und Kartoffeläckern; es macht, zumal
auf den, der kurz vorher die hohe Anmut des Selketales genossen hat, einen recht
prosaischen, musenverlassenen Eindruck. Wie es aber geschehen mag, daß uus am
trübseligster Regentage der beste Gedanke kommt, so begegnet uns auch wohl einmal
am langweiligsten Ort unvermutet das kurzweiligste interessanteste Abenteuer.

Bürgers Lieder und Balladen hatten mich zwar durch ihren empfindlichen
Mangel an Geschmack und durch ihre gewollten Derbheiten von jeher heftig ab¬
gestoßen? ebenso stark aber war ihre Anziehungskraft, der hinreißende Zauber ihrer
Natürlichkeit, die urwüchsige Wucht und Redegewalt. So hatte vor ihm noch keiner
im Liede unsre Muttersprache gemeistert. Und also war es für mich bei einem ersten
Besuche des Harzes eine Selbstverständlichkeit, im Vorübergehn auch den Horst zu
begrüßen, aus dem dieser Adler aufgestiegen („Adler" war der Spitzname Bürgers
unter seinen Freunden wegen der scharfen Blicke, die er um sich zu werfen pflegte).

Neben der ärmlichen Dorfkirche steht das Pfarrhaus — das ist das bescheidne,
dürftige Nest, worin der Adler das Licht der Sonne erblickt und seine Kindheit


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[0579] In Molmerschwende und Schielo nacht", in seinen Briefen an Charlotte von Stein und in den Walpurgisnachtszenen des „Faust" die wahre Natur des Harzes ausschließt, dank seinem ruhigen, reinen, ernsten, liebevollen Blicke in das Herz der Dinge. Solcherlei Gedanken hing ich nach in jener Ruhestunde an den Trümmern der Lauenburg. Und wieder senkte sich der Blick auf die Landkarte, die fernern Wege meiner Wanderung zu erkunden. Da gewahrte ich nahe dem östlichen Rande des Papiers einen kleinen rötlich-schwarzen Fleck, genau auf der Stelle, wo das Örtchen Molmerschwende eingezeichnet ist; ich blickte näher hin und erkannte, daß es eine ooooinslla ssxtsinxuuotÄtÄ war, ein Marienkäferchen, für das man im Braunschweigischen die allerliebste Bezeichnung hat: „dem Herrgott sein Lütjes". Jetzt regte es seine sechs Beinchen und marschierte munter, immer hübsch auf der eingezeichneten Landstraße nach Westen, von Molmerschwende nach dem Dorfe Schielo, allwo es abermals Halt machte und sitzen blieb. El der Tausend! sagte ich zu mir, gerade Molmerschwende ist ja auch mein nächstes Reiseziel, und dann weiter über Schielo, Neudorf und die Josephshöhe nach Stolberg! Du liebes Tierchen sollst mir ein gutes Vorzeichen sein, und fürwahr, neugierig bin ich, was ich wohl in der Heimat Bürgers Merkwürdiges erleben soll. Behutsam strich ich mit dem Finger das Käferlein von dem Papier herunter, faltete die Karte zusammen und machte mich auf den Weg zum Selletal. In der überaus lieblich und friedevoll gelegnen Selkemühle — sie war dazumal leider überfüllt von Sommerfrischlern, die an einem schreckhaften Singparoxysmus litten — hatte ich mit mäßigem Genuß und für teures Geld die Nacht verbracht, auf einem Kanapee ruhend, gegen das Leberecht Hühnchens Berg-und-Talsofa ein schwellender Diwan gewesen sein muß. Obendrein hatte sich besagtes Kanapee als eine sehr belebte Gegend erwiesen. Aber wie schnell schwindet die Erinnerung an solche iQisssvsnäs dem rüstigen Wandrer, wenn er, dem Orte des Unheils den Rücken kehrend, hinauszieht in die Pracht eines taufrischen Sommermorgens! Geschieht dir schon recht, dachte ich im stillen, warum kehrst du ein in einer Mühle, die nicht bloß „Selkemühle" heißt, sondern auch den ominösen Namen „Leimufermühle" trägt. Und überdies: wie mancher Brave in der Welt mag diese Nacht noch ganz anders zugebracht haben. Frohgemut schritt ich fürbaß und besuchte zunächst die alte schöne Burg Falkenstein, auf der vor siebenhundert Jahren der ehrenfeste Ritter Eile von Nepgom den „Sachsenspiegel" schrieb, das älteste deutsche Rechtsbuch in niedersächsischer Mundart. Dann wandte ich mich südwärts und gelangte über das Dorf Pansfelde, den Schauplatz von Bürgers Ballade „Des Pfarrers Tochter von Tanbenhain", nach dem Geburtsort des Dichters. Das Dörfchen Molmerschwende (die Form Molmerswende ist, obgleich amtlich eingeführt, unrichtig) liegt auf einer waldlosen Hochfläche zwischen Getreidefeldern und Kartoffeläckern; es macht, zumal auf den, der kurz vorher die hohe Anmut des Selketales genossen hat, einen recht prosaischen, musenverlassenen Eindruck. Wie es aber geschehen mag, daß uus am trübseligster Regentage der beste Gedanke kommt, so begegnet uns auch wohl einmal am langweiligsten Ort unvermutet das kurzweiligste interessanteste Abenteuer. Bürgers Lieder und Balladen hatten mich zwar durch ihren empfindlichen Mangel an Geschmack und durch ihre gewollten Derbheiten von jeher heftig ab¬ gestoßen? ebenso stark aber war ihre Anziehungskraft, der hinreißende Zauber ihrer Natürlichkeit, die urwüchsige Wucht und Redegewalt. So hatte vor ihm noch keiner im Liede unsre Muttersprache gemeistert. Und also war es für mich bei einem ersten Besuche des Harzes eine Selbstverständlichkeit, im Vorübergehn auch den Horst zu begrüßen, aus dem dieser Adler aufgestiegen („Adler" war der Spitzname Bürgers unter seinen Freunden wegen der scharfen Blicke, die er um sich zu werfen pflegte). Neben der ärmlichen Dorfkirche steht das Pfarrhaus — das ist das bescheidne, dürftige Nest, worin der Adler das Licht der Sonne erblickt und seine Kindheit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/579>, abgerufen am 20.06.2024.