Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Hilfe zur Euthanasie

Kopfe das bewußte Leben noch eine Zeit lang fortdaure. Das ist unmöglich,
weil die Trennung des Hauptes vom Rumpfe drei Veränderungen bewirkt,
von denen jede einzelne den augenblicklichen Tod zur Folge hat: das Gehirn
verliert den größten Teil seines Blutes, das in ihm zurückbleibende Blut wird
nicht mehr durch Herz- und Lungentätigkeit erneuert, und die Durchschneidung
des "Halsmarks" zieht, wie schon jede geringere Verletzung, den "Kollaps"
nach sich. Sollte an den schauerlichen Erzählungen etwas Wahres sein, so
würden automatische Reflexbewegungen zugrunde liegen.

Der zweite Band des Werkes enthält das Material, das Block) für seine
Darstellung verwandt hat: seine eignen und andrer Ärzte "Observationen"
und Berichte über tödlich verlaufne Erkrankungen und Unglücksfälle, die bio¬
graphischen Werken entnommen sind. Unter diesen findet sich allerlei Erbau¬
liches. Bloch hebt namentlich hervor, daß die Märtyrer für eine gute Sache
ganz anders sterben als Verbrecher. Bei diesen wechselt Angst mit Wut, und
nicht selten macht sich in widerlichen Posen Eitelkeit bemerkbar, jene sind guten
Mutes, ruhig und heiter. Auch daß Unfromme auf dem Sterbebette oft fromm
werden, wird nicht unerörtert gelassen; selbst Voltaire war für Bekehrungs¬
versuche nicht ganz unzugänglich. Gottesleugner ist ja der große Spötter
nicht gewesen, sondern Deist. Nur von zwei geschichtlichen Personen mag
über ihr Verhalten in den letzten Stunden etwas erwähnt werden. Karl der
Neunte von Frankreich wurde von heftigen Gewissensbissen gepeinigt wegen
seines großen Verbrechens: der Bartholomäusnacht. Er weinte und seufzte:
^.K, nourrios, aus as sang' se as msnrtrss! ^u, aus j'al su un ro.6vo.tut,
<Zon.8si1! 0 mon visu, paräonns Iss moi se ins tais inisöriooräe... .je sui8
xeräu, )s 1s 8fus disn! Die Amme tröstete ihn: "Das Blut der Ermordeten
komme über die bösen Berater!" Friedrich der Große sah gegen Mitternacht
einen seiner Hunde auf einem Stuhle sitzen und vor Kälte zittern und befahl,
ihn in eine Decke zu hüllen; "das war vielleicht seine letzte ganz bewußte
Äußerung. Nach einem Hustenanfall flüsterte er: I^s. inontg-Ans sse pg.öff's,
nous irons inisnx. Dann hielt ihn sein treuer Kammerhusar Strützki zwei
Stunden lang, das Atmen zu erleichtern, ein wenig aufgerichtet in seinen
Armen; zwanzig Minuten nach 2 Uhr hörte er zu atmen auf."

Den Schluß des Werkes macht die Beschreibung der Anzeichen des
nahenden Todes, der taoiss uivvoorativ". Den Gedankeninhalt der letzten
Augenblicke liefert die Berufstätigkeit besonders dann, wenn sie mit Leiden¬
schaft betrieben worden ist, und das ist namentlich bei großen Musikern der
Fall. Von den Sinneswerkzeugen stellt zuerst das Auge seinen Dienst ein.
Daher das bekannte Wort Goethes: "Macht doch den zweiten Fensterladen
auch auf, damit mehr Licht hereinkommt", das die Legende zu dem bedeutungs¬
vollen "mehr Licht!" verkürzt hat. Dagegen bleibt das Gehör bis zuletzt in
Tätigkeit. Es sei sehr wichtig, das zu wissen, bemerkt Block), damit sich die
Anwesenden vor unvorsichtigen Äußerungen hüten; es komme vor, daß der


Line Hilfe zur Euthanasie

Kopfe das bewußte Leben noch eine Zeit lang fortdaure. Das ist unmöglich,
weil die Trennung des Hauptes vom Rumpfe drei Veränderungen bewirkt,
von denen jede einzelne den augenblicklichen Tod zur Folge hat: das Gehirn
verliert den größten Teil seines Blutes, das in ihm zurückbleibende Blut wird
nicht mehr durch Herz- und Lungentätigkeit erneuert, und die Durchschneidung
des „Halsmarks" zieht, wie schon jede geringere Verletzung, den „Kollaps"
nach sich. Sollte an den schauerlichen Erzählungen etwas Wahres sein, so
würden automatische Reflexbewegungen zugrunde liegen.

Der zweite Band des Werkes enthält das Material, das Block) für seine
Darstellung verwandt hat: seine eignen und andrer Ärzte „Observationen"
und Berichte über tödlich verlaufne Erkrankungen und Unglücksfälle, die bio¬
graphischen Werken entnommen sind. Unter diesen findet sich allerlei Erbau¬
liches. Bloch hebt namentlich hervor, daß die Märtyrer für eine gute Sache
ganz anders sterben als Verbrecher. Bei diesen wechselt Angst mit Wut, und
nicht selten macht sich in widerlichen Posen Eitelkeit bemerkbar, jene sind guten
Mutes, ruhig und heiter. Auch daß Unfromme auf dem Sterbebette oft fromm
werden, wird nicht unerörtert gelassen; selbst Voltaire war für Bekehrungs¬
versuche nicht ganz unzugänglich. Gottesleugner ist ja der große Spötter
nicht gewesen, sondern Deist. Nur von zwei geschichtlichen Personen mag
über ihr Verhalten in den letzten Stunden etwas erwähnt werden. Karl der
Neunte von Frankreich wurde von heftigen Gewissensbissen gepeinigt wegen
seines großen Verbrechens: der Bartholomäusnacht. Er weinte und seufzte:
^.K, nourrios, aus as sang' se as msnrtrss! ^u, aus j'al su un ro.6vo.tut,
<Zon.8si1! 0 mon visu, paräonns Iss moi se ins tais inisöriooräe... .je sui8
xeräu, )s 1s 8fus disn! Die Amme tröstete ihn: „Das Blut der Ermordeten
komme über die bösen Berater!" Friedrich der Große sah gegen Mitternacht
einen seiner Hunde auf einem Stuhle sitzen und vor Kälte zittern und befahl,
ihn in eine Decke zu hüllen; „das war vielleicht seine letzte ganz bewußte
Äußerung. Nach einem Hustenanfall flüsterte er: I^s. inontg-Ans sse pg.öff's,
nous irons inisnx. Dann hielt ihn sein treuer Kammerhusar Strützki zwei
Stunden lang, das Atmen zu erleichtern, ein wenig aufgerichtet in seinen
Armen; zwanzig Minuten nach 2 Uhr hörte er zu atmen auf."

Den Schluß des Werkes macht die Beschreibung der Anzeichen des
nahenden Todes, der taoiss uivvoorativ». Den Gedankeninhalt der letzten
Augenblicke liefert die Berufstätigkeit besonders dann, wenn sie mit Leiden¬
schaft betrieben worden ist, und das ist namentlich bei großen Musikern der
Fall. Von den Sinneswerkzeugen stellt zuerst das Auge seinen Dienst ein.
Daher das bekannte Wort Goethes: „Macht doch den zweiten Fensterladen
auch auf, damit mehr Licht hereinkommt", das die Legende zu dem bedeutungs¬
vollen „mehr Licht!" verkürzt hat. Dagegen bleibt das Gehör bis zuletzt in
Tätigkeit. Es sei sehr wichtig, das zu wissen, bemerkt Block), damit sich die
Anwesenden vor unvorsichtigen Äußerungen hüten; es komme vor, daß der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0511" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314858"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Hilfe zur Euthanasie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2351" prev="#ID_2350"> Kopfe das bewußte Leben noch eine Zeit lang fortdaure. Das ist unmöglich,<lb/>
weil die Trennung des Hauptes vom Rumpfe drei Veränderungen bewirkt,<lb/>
von denen jede einzelne den augenblicklichen Tod zur Folge hat: das Gehirn<lb/>
verliert den größten Teil seines Blutes, das in ihm zurückbleibende Blut wird<lb/>
nicht mehr durch Herz- und Lungentätigkeit erneuert, und die Durchschneidung<lb/>
des &#x201E;Halsmarks" zieht, wie schon jede geringere Verletzung, den &#x201E;Kollaps"<lb/>
nach sich. Sollte an den schauerlichen Erzählungen etwas Wahres sein, so<lb/>
würden automatische Reflexbewegungen zugrunde liegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2352"> Der zweite Band des Werkes enthält das Material, das Block) für seine<lb/>
Darstellung verwandt hat: seine eignen und andrer Ärzte &#x201E;Observationen"<lb/>
und Berichte über tödlich verlaufne Erkrankungen und Unglücksfälle, die bio¬<lb/>
graphischen Werken entnommen sind. Unter diesen findet sich allerlei Erbau¬<lb/>
liches. Bloch hebt namentlich hervor, daß die Märtyrer für eine gute Sache<lb/>
ganz anders sterben als Verbrecher. Bei diesen wechselt Angst mit Wut, und<lb/>
nicht selten macht sich in widerlichen Posen Eitelkeit bemerkbar, jene sind guten<lb/>
Mutes, ruhig und heiter. Auch daß Unfromme auf dem Sterbebette oft fromm<lb/>
werden, wird nicht unerörtert gelassen; selbst Voltaire war für Bekehrungs¬<lb/>
versuche nicht ganz unzugänglich. Gottesleugner ist ja der große Spötter<lb/>
nicht gewesen, sondern Deist. Nur von zwei geschichtlichen Personen mag<lb/>
über ihr Verhalten in den letzten Stunden etwas erwähnt werden. Karl der<lb/>
Neunte von Frankreich wurde von heftigen Gewissensbissen gepeinigt wegen<lb/>
seines großen Verbrechens: der Bartholomäusnacht. Er weinte und seufzte:<lb/>
^.K, nourrios, aus as sang' se as msnrtrss! ^u, aus j'al su un ro.6vo.tut,<lb/>
&lt;Zon.8si1! 0 mon visu, paräonns Iss moi se ins tais inisöriooräe... .je sui8<lb/>
xeräu, )s 1s 8fus disn! Die Amme tröstete ihn: &#x201E;Das Blut der Ermordeten<lb/>
komme über die bösen Berater!" Friedrich der Große sah gegen Mitternacht<lb/>
einen seiner Hunde auf einem Stuhle sitzen und vor Kälte zittern und befahl,<lb/>
ihn in eine Decke zu hüllen; &#x201E;das war vielleicht seine letzte ganz bewußte<lb/>
Äußerung. Nach einem Hustenanfall flüsterte er: I^s. inontg-Ans sse pg.öff's,<lb/>
nous irons inisnx. Dann hielt ihn sein treuer Kammerhusar Strützki zwei<lb/>
Stunden lang, das Atmen zu erleichtern, ein wenig aufgerichtet in seinen<lb/>
Armen; zwanzig Minuten nach 2 Uhr hörte er zu atmen auf."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2353" next="#ID_2354"> Den Schluß des Werkes macht die Beschreibung der Anzeichen des<lb/>
nahenden Todes, der taoiss uivvoorativ». Den Gedankeninhalt der letzten<lb/>
Augenblicke liefert die Berufstätigkeit besonders dann, wenn sie mit Leiden¬<lb/>
schaft betrieben worden ist, und das ist namentlich bei großen Musikern der<lb/>
Fall. Von den Sinneswerkzeugen stellt zuerst das Auge seinen Dienst ein.<lb/>
Daher das bekannte Wort Goethes: &#x201E;Macht doch den zweiten Fensterladen<lb/>
auch auf, damit mehr Licht hereinkommt", das die Legende zu dem bedeutungs¬<lb/>
vollen &#x201E;mehr Licht!" verkürzt hat. Dagegen bleibt das Gehör bis zuletzt in<lb/>
Tätigkeit. Es sei sehr wichtig, das zu wissen, bemerkt Block), damit sich die<lb/>
Anwesenden vor unvorsichtigen Äußerungen hüten; es komme vor, daß der</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0511] Line Hilfe zur Euthanasie Kopfe das bewußte Leben noch eine Zeit lang fortdaure. Das ist unmöglich, weil die Trennung des Hauptes vom Rumpfe drei Veränderungen bewirkt, von denen jede einzelne den augenblicklichen Tod zur Folge hat: das Gehirn verliert den größten Teil seines Blutes, das in ihm zurückbleibende Blut wird nicht mehr durch Herz- und Lungentätigkeit erneuert, und die Durchschneidung des „Halsmarks" zieht, wie schon jede geringere Verletzung, den „Kollaps" nach sich. Sollte an den schauerlichen Erzählungen etwas Wahres sein, so würden automatische Reflexbewegungen zugrunde liegen. Der zweite Band des Werkes enthält das Material, das Block) für seine Darstellung verwandt hat: seine eignen und andrer Ärzte „Observationen" und Berichte über tödlich verlaufne Erkrankungen und Unglücksfälle, die bio¬ graphischen Werken entnommen sind. Unter diesen findet sich allerlei Erbau¬ liches. Bloch hebt namentlich hervor, daß die Märtyrer für eine gute Sache ganz anders sterben als Verbrecher. Bei diesen wechselt Angst mit Wut, und nicht selten macht sich in widerlichen Posen Eitelkeit bemerkbar, jene sind guten Mutes, ruhig und heiter. Auch daß Unfromme auf dem Sterbebette oft fromm werden, wird nicht unerörtert gelassen; selbst Voltaire war für Bekehrungs¬ versuche nicht ganz unzugänglich. Gottesleugner ist ja der große Spötter nicht gewesen, sondern Deist. Nur von zwei geschichtlichen Personen mag über ihr Verhalten in den letzten Stunden etwas erwähnt werden. Karl der Neunte von Frankreich wurde von heftigen Gewissensbissen gepeinigt wegen seines großen Verbrechens: der Bartholomäusnacht. Er weinte und seufzte: ^.K, nourrios, aus as sang' se as msnrtrss! ^u, aus j'al su un ro.6vo.tut, <Zon.8si1! 0 mon visu, paräonns Iss moi se ins tais inisöriooräe... .je sui8 xeräu, )s 1s 8fus disn! Die Amme tröstete ihn: „Das Blut der Ermordeten komme über die bösen Berater!" Friedrich der Große sah gegen Mitternacht einen seiner Hunde auf einem Stuhle sitzen und vor Kälte zittern und befahl, ihn in eine Decke zu hüllen; „das war vielleicht seine letzte ganz bewußte Äußerung. Nach einem Hustenanfall flüsterte er: I^s. inontg-Ans sse pg.öff's, nous irons inisnx. Dann hielt ihn sein treuer Kammerhusar Strützki zwei Stunden lang, das Atmen zu erleichtern, ein wenig aufgerichtet in seinen Armen; zwanzig Minuten nach 2 Uhr hörte er zu atmen auf." Den Schluß des Werkes macht die Beschreibung der Anzeichen des nahenden Todes, der taoiss uivvoorativ». Den Gedankeninhalt der letzten Augenblicke liefert die Berufstätigkeit besonders dann, wenn sie mit Leiden¬ schaft betrieben worden ist, und das ist namentlich bei großen Musikern der Fall. Von den Sinneswerkzeugen stellt zuerst das Auge seinen Dienst ein. Daher das bekannte Wort Goethes: „Macht doch den zweiten Fensterladen auch auf, damit mehr Licht hereinkommt", das die Legende zu dem bedeutungs¬ vollen „mehr Licht!" verkürzt hat. Dagegen bleibt das Gehör bis zuletzt in Tätigkeit. Es sei sehr wichtig, das zu wissen, bemerkt Block), damit sich die Anwesenden vor unvorsichtigen Äußerungen hüten; es komme vor, daß der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/511
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/511>, abgerufen am 24.07.2024.