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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Bibel in neuer Gestalt

ein besonnenes, wohl begründetes Urteil. Daß man über einzelnes andrer
Meinung sein kann, ist natürlich. So scheint mir, um eines zu erwähnen, doch
mit zu großer Zuversicht die Meinung ausgesprochen zu sein, daß wir in
2. Mos. 34, 14 ff. die ursprünglichen zehn Gebote vor uns haben; das kann
keineswegs als gesichertes Ergebnis der neueren Forschung bezeichnet werden
(vgl. den Artikel Dekalog in Haucks Nealenzyklopädie). Daß das Gesetz ursprünglich
fast rein rituell gewesen sei, und die großen sittlichen Gebote erst von den Pro¬
pheten herstammen, ist doch Konstruktion; denn die Propheten selbst berufen
sich mit allem Nachdruck darauf, daß das Volk den heiligen Gotteswillen, den
sie ihm wieder einzuprägen haben, von Mose her genau kenne (Jer. 7, 21 ff.,
Mich. 6, 6 ff.). Doch dies nebenbei.

Für die Ausschmückung des Werkes ist in Lilien ein Künstler gewonnen
worden, den feines Stilgefühl, hohe zeichnerische Begabung und besondre Ver¬
tiefung in die Welt des Orients, die er aus eigner Anschauung kennt, zur
Lösung einer solchen Aufgabe besonders berufen erscheinen lassen. Freilich muß
man seine Zeichnungen ganz im Zusammenhange mit dem der Ausgabe zugrunde
liegenden Plane zu würdigen suchen. Sie wollen auch durchaus nicht zu einem
in der Bibel Erbauung suchenden Leser reden, sondern sind ganz im Sinne
modernen Buchschmucks hauptsächlich dekorativ gemeint und versuchen daneben
große Gestalten und Symbole des Alten Testaments in treuem orientalischem
Gewände vor uns zu stellen. Ganz selten legt Lilien einen erzählenden Zug
in seine Bilder, obwohl er gerade auf einem Blatte wie "Abraham und Jsaak"
besonders gelungnes bietet. Recht nichtssagend wollen uns manche der großen
Einzelgestalten erscheinen, wie Jakob und Rahel, der junge Mose (der eher einem
modernen Reformjuden als dem großen Volksführer der alten Zeit zu gleichen
scheint) und andre. Da wirkt eben zu sehr die dekorative Absicht. Als das
Beste von Lillers Arbeit erscheinen uns eigentlich die kraftvollen Initialen und
Vignetten und der künstlerische Gesamteindruck des Werkes, der ihm wohl vor
allem zu verdanken ist. Alles, was wir zum Lobe des Ganzen zu sagen hatten,
gilt natürlich auch dem Verlage selbst; er hat mit dieser auch in Druck und
Papier prächtigen Ausgabe jedenfalls ein Meisterwerk neuerer deutscher Buch¬
kunst geschaffen. Möchte recht vielen die kostbare Schale nicht zur Verhüllung
des kostbarern Inhalts werden, sondern sich etwas von dem Wunsche des Ver¬
lags erfüllen, daß durch diese Klassikerausgabe "die Bibel mit ihren reichen
Schützen für Gemüt und Geist in jedem gebildeten Hause wieder heimisch ge¬
macht werde".

Ein nicht neues, vielmehr allgemein bekanntes und in seinem Werte an¬
erkanntes, nun aber in ganz neuer Gestalt herausgegebnes Werk ist die Über¬
setzung des Alten Testaments von Kautzsch. (Die Heilige Schrift des
Alten Testaments in Verbindung mit andern herausgegeben und übersetzt
von E. Kautzsch. 'Tübingen, Mohr, 1908. Etwa zwanzig Lieferungen zu je
achtzig Pfennig.) Wie sehr unterscheidet sich diese neue Ausgabe des wert-


Die Bibel in neuer Gestalt

ein besonnenes, wohl begründetes Urteil. Daß man über einzelnes andrer
Meinung sein kann, ist natürlich. So scheint mir, um eines zu erwähnen, doch
mit zu großer Zuversicht die Meinung ausgesprochen zu sein, daß wir in
2. Mos. 34, 14 ff. die ursprünglichen zehn Gebote vor uns haben; das kann
keineswegs als gesichertes Ergebnis der neueren Forschung bezeichnet werden
(vgl. den Artikel Dekalog in Haucks Nealenzyklopädie). Daß das Gesetz ursprünglich
fast rein rituell gewesen sei, und die großen sittlichen Gebote erst von den Pro¬
pheten herstammen, ist doch Konstruktion; denn die Propheten selbst berufen
sich mit allem Nachdruck darauf, daß das Volk den heiligen Gotteswillen, den
sie ihm wieder einzuprägen haben, von Mose her genau kenne (Jer. 7, 21 ff.,
Mich. 6, 6 ff.). Doch dies nebenbei.

Für die Ausschmückung des Werkes ist in Lilien ein Künstler gewonnen
worden, den feines Stilgefühl, hohe zeichnerische Begabung und besondre Ver¬
tiefung in die Welt des Orients, die er aus eigner Anschauung kennt, zur
Lösung einer solchen Aufgabe besonders berufen erscheinen lassen. Freilich muß
man seine Zeichnungen ganz im Zusammenhange mit dem der Ausgabe zugrunde
liegenden Plane zu würdigen suchen. Sie wollen auch durchaus nicht zu einem
in der Bibel Erbauung suchenden Leser reden, sondern sind ganz im Sinne
modernen Buchschmucks hauptsächlich dekorativ gemeint und versuchen daneben
große Gestalten und Symbole des Alten Testaments in treuem orientalischem
Gewände vor uns zu stellen. Ganz selten legt Lilien einen erzählenden Zug
in seine Bilder, obwohl er gerade auf einem Blatte wie „Abraham und Jsaak"
besonders gelungnes bietet. Recht nichtssagend wollen uns manche der großen
Einzelgestalten erscheinen, wie Jakob und Rahel, der junge Mose (der eher einem
modernen Reformjuden als dem großen Volksführer der alten Zeit zu gleichen
scheint) und andre. Da wirkt eben zu sehr die dekorative Absicht. Als das
Beste von Lillers Arbeit erscheinen uns eigentlich die kraftvollen Initialen und
Vignetten und der künstlerische Gesamteindruck des Werkes, der ihm wohl vor
allem zu verdanken ist. Alles, was wir zum Lobe des Ganzen zu sagen hatten,
gilt natürlich auch dem Verlage selbst; er hat mit dieser auch in Druck und
Papier prächtigen Ausgabe jedenfalls ein Meisterwerk neuerer deutscher Buch¬
kunst geschaffen. Möchte recht vielen die kostbare Schale nicht zur Verhüllung
des kostbarern Inhalts werden, sondern sich etwas von dem Wunsche des Ver¬
lags erfüllen, daß durch diese Klassikerausgabe „die Bibel mit ihren reichen
Schützen für Gemüt und Geist in jedem gebildeten Hause wieder heimisch ge¬
macht werde".

Ein nicht neues, vielmehr allgemein bekanntes und in seinem Werte an¬
erkanntes, nun aber in ganz neuer Gestalt herausgegebnes Werk ist die Über¬
setzung des Alten Testaments von Kautzsch. (Die Heilige Schrift des
Alten Testaments in Verbindung mit andern herausgegeben und übersetzt
von E. Kautzsch. 'Tübingen, Mohr, 1908. Etwa zwanzig Lieferungen zu je
achtzig Pfennig.) Wie sehr unterscheidet sich diese neue Ausgabe des wert-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/460>, abgerufen am 24.07.2024.