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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Aufgaben der Volksvertreter

weiten bürgerlichen Kreisen bedeutend radikaler geworden ist, als wie sie vordem
war. Das beweisen nicht nur alle Wahlen, die seit der Reichsfinanz¬
reform stattgefunden haben, das beweist auch die Stimmung, der man in allen
Kreisen der bürgerlichen Klassen begegnet. 1907 hatte man das Bürgertum
aufgerufen zum Kampfe gegen einen deutlich bezeichneten Feind. Das Bürgertum
war dem Schlachtruf gefolgt und hatte die Schlacht gewinnen helfen. Es war
stolz auf den Sieg! Und nun sieht es sich um die Früchte des Sieges ge¬
bracht. Die Liberalen sind niedergeritten, in der konservativen Partei haben
die agrarischen städtefeindlichen Elemente die Führung übernommen, das Zentrum
droht in die alte Machtstellung zurückzukehren, und -- die Regierung, an deren
Parolen sich das deutsche Bürgertum gewöhnt hatte, stellte sich auf den Stand¬
punkt des schweigenden Beobachters. Dazu kommt die Beklemmung aller
patriotisch Gesinnten, Großgrundbesitzer und Zentrumskapläne könnten wieder
einseitig auf die Ansiedlungspolitik wirken. Und nun denke man sich in die
Seele des einfachen Mannes hinein, der, ohne sich sonderlich um Politik zu
kümmern, seine Zeitung liest und auf der Bierbank mehr oder weniger schöne
Reden über Ausland und Inland, Politik und Wirtschaft u. tgi. mehr hält.
Man hat ihn mit flammenden Worten aufgerufen, diesmal sollte er mittun,
ein neues Zeitalter moderner Politik werde anbrechen, wenn er nur nicht
versage; auf fünf Jahre solle er diese Politik begründen helfen. Er erwacht
aus seinem politischen Halbschlafe, und -- nach wenig länger als zwei
Jahren ist alles, wie es war, nur daß das deutsche Volk eine
halbe Milliarde neuer Steuern jährlich mehr aufbringen soll als
früher. Daß er sich da getäuscht fühlt, wer will es ihm eigentlich ver¬
denken? Wer temperamentvoll ist, geht hin und macht seinem Grimme durch
Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels Luft; der weniger Tempera¬
mentvolle bleibt zu Hause und wählt überhaupt nicht mehr mit. Hier
hat die Tätigkeit der nationalen, also auch der Nationalliberalen Volksver¬
treter anzusetzen.

Denn das Bemerkenswerte bei der gekennzeichneten Stimmung ist, daß
sie sich nicht nur gegen die Konservativen, sondern auch gegen die Reichs¬
regierung richtet, und daß sie nicht den Liberalen, sondern vorwiegend den
Sozialdemokraten zugute kommt. Es erklärt sich dies nicht ausreichend durch
die Mißstimmung über die neuen Steuern und dadurch, daß auch die Liberalen,
solange der Block dauerte, bereit waren, 400 Millionen indirekte Steuern zu
bewilligen. Man muß vielmehr zur Erklärung auch darauf hinweisen, daß
die Haltung der Regierung, nachdem sie die Reichsfinanzreform aus der Hand
der Konservativen entgegengenommen hat, bei den Wählermassen den Anschein
erweckt hat, als solle fortab nur konservativ regiert werden. Die radikale
Presse hat natürlich dies -- wir glauben unbegründete -- Mißtrauen nach Kräften
ausgenutzt. Immerhin rächt es sich, daß es die Regierung nicht gewagt hat, den
Reichstag im Frühjahr aufzulösen. Nun wird auch den Liberalen das


Aufgaben der Volksvertreter

weiten bürgerlichen Kreisen bedeutend radikaler geworden ist, als wie sie vordem
war. Das beweisen nicht nur alle Wahlen, die seit der Reichsfinanz¬
reform stattgefunden haben, das beweist auch die Stimmung, der man in allen
Kreisen der bürgerlichen Klassen begegnet. 1907 hatte man das Bürgertum
aufgerufen zum Kampfe gegen einen deutlich bezeichneten Feind. Das Bürgertum
war dem Schlachtruf gefolgt und hatte die Schlacht gewinnen helfen. Es war
stolz auf den Sieg! Und nun sieht es sich um die Früchte des Sieges ge¬
bracht. Die Liberalen sind niedergeritten, in der konservativen Partei haben
die agrarischen städtefeindlichen Elemente die Führung übernommen, das Zentrum
droht in die alte Machtstellung zurückzukehren, und — die Regierung, an deren
Parolen sich das deutsche Bürgertum gewöhnt hatte, stellte sich auf den Stand¬
punkt des schweigenden Beobachters. Dazu kommt die Beklemmung aller
patriotisch Gesinnten, Großgrundbesitzer und Zentrumskapläne könnten wieder
einseitig auf die Ansiedlungspolitik wirken. Und nun denke man sich in die
Seele des einfachen Mannes hinein, der, ohne sich sonderlich um Politik zu
kümmern, seine Zeitung liest und auf der Bierbank mehr oder weniger schöne
Reden über Ausland und Inland, Politik und Wirtschaft u. tgi. mehr hält.
Man hat ihn mit flammenden Worten aufgerufen, diesmal sollte er mittun,
ein neues Zeitalter moderner Politik werde anbrechen, wenn er nur nicht
versage; auf fünf Jahre solle er diese Politik begründen helfen. Er erwacht
aus seinem politischen Halbschlafe, und — nach wenig länger als zwei
Jahren ist alles, wie es war, nur daß das deutsche Volk eine
halbe Milliarde neuer Steuern jährlich mehr aufbringen soll als
früher. Daß er sich da getäuscht fühlt, wer will es ihm eigentlich ver¬
denken? Wer temperamentvoll ist, geht hin und macht seinem Grimme durch
Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels Luft; der weniger Tempera¬
mentvolle bleibt zu Hause und wählt überhaupt nicht mehr mit. Hier
hat die Tätigkeit der nationalen, also auch der Nationalliberalen Volksver¬
treter anzusetzen.

Denn das Bemerkenswerte bei der gekennzeichneten Stimmung ist, daß
sie sich nicht nur gegen die Konservativen, sondern auch gegen die Reichs¬
regierung richtet, und daß sie nicht den Liberalen, sondern vorwiegend den
Sozialdemokraten zugute kommt. Es erklärt sich dies nicht ausreichend durch
die Mißstimmung über die neuen Steuern und dadurch, daß auch die Liberalen,
solange der Block dauerte, bereit waren, 400 Millionen indirekte Steuern zu
bewilligen. Man muß vielmehr zur Erklärung auch darauf hinweisen, daß
die Haltung der Regierung, nachdem sie die Reichsfinanzreform aus der Hand
der Konservativen entgegengenommen hat, bei den Wählermassen den Anschein
erweckt hat, als solle fortab nur konservativ regiert werden. Die radikale
Presse hat natürlich dies — wir glauben unbegründete — Mißtrauen nach Kräften
ausgenutzt. Immerhin rächt es sich, daß es die Regierung nicht gewagt hat, den
Reichstag im Frühjahr aufzulösen. Nun wird auch den Liberalen das


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[0448] Aufgaben der Volksvertreter weiten bürgerlichen Kreisen bedeutend radikaler geworden ist, als wie sie vordem war. Das beweisen nicht nur alle Wahlen, die seit der Reichsfinanz¬ reform stattgefunden haben, das beweist auch die Stimmung, der man in allen Kreisen der bürgerlichen Klassen begegnet. 1907 hatte man das Bürgertum aufgerufen zum Kampfe gegen einen deutlich bezeichneten Feind. Das Bürgertum war dem Schlachtruf gefolgt und hatte die Schlacht gewinnen helfen. Es war stolz auf den Sieg! Und nun sieht es sich um die Früchte des Sieges ge¬ bracht. Die Liberalen sind niedergeritten, in der konservativen Partei haben die agrarischen städtefeindlichen Elemente die Führung übernommen, das Zentrum droht in die alte Machtstellung zurückzukehren, und — die Regierung, an deren Parolen sich das deutsche Bürgertum gewöhnt hatte, stellte sich auf den Stand¬ punkt des schweigenden Beobachters. Dazu kommt die Beklemmung aller patriotisch Gesinnten, Großgrundbesitzer und Zentrumskapläne könnten wieder einseitig auf die Ansiedlungspolitik wirken. Und nun denke man sich in die Seele des einfachen Mannes hinein, der, ohne sich sonderlich um Politik zu kümmern, seine Zeitung liest und auf der Bierbank mehr oder weniger schöne Reden über Ausland und Inland, Politik und Wirtschaft u. tgi. mehr hält. Man hat ihn mit flammenden Worten aufgerufen, diesmal sollte er mittun, ein neues Zeitalter moderner Politik werde anbrechen, wenn er nur nicht versage; auf fünf Jahre solle er diese Politik begründen helfen. Er erwacht aus seinem politischen Halbschlafe, und — nach wenig länger als zwei Jahren ist alles, wie es war, nur daß das deutsche Volk eine halbe Milliarde neuer Steuern jährlich mehr aufbringen soll als früher. Daß er sich da getäuscht fühlt, wer will es ihm eigentlich ver¬ denken? Wer temperamentvoll ist, geht hin und macht seinem Grimme durch Abgabe eines sozialdemokratischen Stimmzettels Luft; der weniger Tempera¬ mentvolle bleibt zu Hause und wählt überhaupt nicht mehr mit. Hier hat die Tätigkeit der nationalen, also auch der Nationalliberalen Volksver¬ treter anzusetzen. Denn das Bemerkenswerte bei der gekennzeichneten Stimmung ist, daß sie sich nicht nur gegen die Konservativen, sondern auch gegen die Reichs¬ regierung richtet, und daß sie nicht den Liberalen, sondern vorwiegend den Sozialdemokraten zugute kommt. Es erklärt sich dies nicht ausreichend durch die Mißstimmung über die neuen Steuern und dadurch, daß auch die Liberalen, solange der Block dauerte, bereit waren, 400 Millionen indirekte Steuern zu bewilligen. Man muß vielmehr zur Erklärung auch darauf hinweisen, daß die Haltung der Regierung, nachdem sie die Reichsfinanzreform aus der Hand der Konservativen entgegengenommen hat, bei den Wählermassen den Anschein erweckt hat, als solle fortab nur konservativ regiert werden. Die radikale Presse hat natürlich dies — wir glauben unbegründete — Mißtrauen nach Kräften ausgenutzt. Immerhin rächt es sich, daß es die Regierung nicht gewagt hat, den Reichstag im Frühjahr aufzulösen. Nun wird auch den Liberalen das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/448>, abgerufen am 24.07.2024.